Kitabı oku: «Windhauch und Wein», sayfa 2
Der Reiz des Krummen
Elisabeth ist erfahrene Ärztin in einem Klinikum, bei Patienten und Kollegen gleichermaßen geschätzt. Als Mitglied der Ethik-Kommission berät sie in komplizierten Fällen, was medizinisch angemessen und menschlich vertretbar ist. Elisabeth sieht nicht nur die Erkrankung, sondern den ganzen Menschen in seiner sozialen Wirklichkeit. In ihrer eng bemessenen Freizeit liest sie viel, um das Mysterium Mensch besser zu verstehen. Sie hält zahlreiche soziale Kontakte aufrecht und bleibt mit ihrer Kirchengemeinde in Verbindung, denn sie empfindet das Leben als Geschenk Gottes. Elisabeth ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und führt eine zufriedene bürgerliche Existenz. Auf einmal verliebt sie sich in den Medizinstudenten Robert. Eine amour fou!
Ihre moralischen Skrupel wühlen sie auf. Doch das Abenteuerliche an dieser geheimen Beziehung erfüllt Elisabeth mit Energie und Freude. Sie genießt Zärtlichkeit und Sexualität, wie sie sie nie zuvor in ihrer Ehe erlebt hat. Die unbeschreibliche Nähe zu ihrem Liebhaber taucht ihr ganzes Dasein in ein neues Licht.
Ich bemühte mich, mithilfe meines Verstandes die Dinge zu erforschen und zu erkunden. All mein Streben galt der Weisheit, denn mit ihrer Hilfe wollte ich ergründen, was in der Welt geschieht: Es ist eine mühsame Arbeit, und Gott hat sie den Menschen auferlegt, damit sie sich damit quälen. Ich habe die Menschen bei ihrem täglichen Tun beobachtet. Es ist alles sinnlos und gleicht dem Versuch, den Wind einzufangen. Was krumm ist, kann nicht gerade werden, und was nicht vorhanden ist, kann auch nicht gezählt werden. (Prediger 1,13–15)
Lange habe ich mit Elisabeth zusammengesessen und zugehört. Sie, die so viel mit Hilfe ihres Verstandes erforscht und erkundet hat, fühlt sich von etwas überwältigt, was fern ihrer Vorstellungskraft lag. Die Wucht der Emotionen scheint sie – die doch in so gewohnten und sicheren Bahnen zu laufen schien – aus der Spur zu werfen. Sie will verstehen, was da geschieht, in ihrer kleinen Welt, die auf einmal kopfsteht. Ihren Mann zu verlassen steht nicht zur Debatte, ebenso wenig alles aufzugeben, was sie sich aufgebaut hat. Nur wenige wissen von ihrer Situation.
Ihr auffallend jüngerer Geliebter drängt sie nicht zu einer Entscheidung. Robert ist in einem anderen Milieu zuhause als Elisabeth, bevorzugt andere Freizeitaktivitäten, betrinkt sich schon mal und hat einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus als sie. Er lebt ein anderes Leben. Er sieht gut aus und könnte viele Frauen seines Alters haben. Aber er liebt Elisabeth. Er zeigt sich ihr gegenüber schamlos, ohne Scham, in einer Vertrautheit, die Elisabeth fasziniert. Diese Leidenschaft.
Das alles zu begreifen gelingt beiden nicht, was für Robert kein Problem darstellt, wohl aber für Elisabeth. Die Situation quält sie. Die erfahrene Ärztin kennt sich selbst nicht wieder. Was sind das für romantische, animalische, egoistische Anwandlungen, die sich da ihrer bemächtigen? Muss sie sich schämen? Sündigt sie gegen Gott? Gegen ihren Mann, der nichts ahnt … oder doch? Die Lust zwischen beiden kühlte ziemlich ab in den letzten Jahren. Vielleicht schweigt er in stillem Einverständnis? – Diese Fragen nagen an ihr.
Was Elisabeth mir offenbart, beschließt sie mit dem Satz: „Es ist doch alles sinnlos, was da läuft!“
Ist Sinn hier die passende Kategorie? Ihr wird etwas gefehlt haben, was sie nun genießt. Allerdings hat dieser Genuss seinen Preis. Selbstverständlich ist ihr bewusst, diese Geschichte wird nicht ewig dauern. Doch jetzt prägt sie ihre Realität. Das Verhältnis mit Robert ist nichts für die Ewigkeit. Es ist vergänglich, doch jetzt schön. Und problematisch. Zumal für eine Frau, die ihr Leben – wie sie sagt – in Gottes Hand gelegt hat.
Kohelet kommentiert: Es bleibt krumm und kann nicht gerade werden. Doch Paul Claudel tröstete: „Gott schreibt auf krummen Linien gerade.“
Rom im November
Sie gleicht einer Verführerin, für die man alle heiligen Grundsätze aufzugeben bereit ist: Rom betört! Ich bin der Stadt hörig, folge mindestens einmal im Jahr ihrem Lockruf und frage mich dann jedes Mal, was ich in diesem lauten, teuren und schmutzigen Moloch suche. Immer mich selbst.
In jedem Monat war ich schon da, in glühender Hitze und im Schnee (dem Rom hilflos ausgeliefert scheint). Ohne Lieblichkeit zeigt sich Rom im November. Das Wetter trüb, zum Draußen-Sitzen zu kühl, auch das warme Licht fehlt, das die Ewige Stadt in ihren unvergleichlichen Glanz hüllt.
Rom im November – das könnte auch als poetische Umschreibung dienen für den Zustand jener Religion, die sich nach der Metropole benennt. Die römisch-katholische Kirche möchte den Eindruck erwecken, alles sei ganz wunderbar und laufe prima wie immer. Der Prunk lässt kaum vermuten, dass sich diese größte Glaubensgemeinschaft der Welt in einer schweren Krise befindet. In Deutschland ist das allerdings sehr offensichtlich.
Die Veränderungsprozesse innerhalb der katholischen Kirche betrachte ich aus einer heilsamen Distanz. Ich leide mit den katholischen Schwestern und Brüdern unter ausbleibenden Reformen. Das II. Vatikanische Konzil ließ von einer anderen Kirche träumen. Doch die Bewegung erlahmte wieder in den letzten Jahrzehnten. Unter Papst Franziskus hat zwar ein kirchlicher Klimawandel eingesetzt, man darf über vieles diskutieren. Nur, substantielle Fortschritte sind nicht wahrnehmbar. Eigentlich ist das nun wirklich nicht mein Thema. Allein, die fortschreitende Entfremdung meiner katholischen Familienangehörigen und Freunde von ihrer Institution bedrückt auch mich.
Sich als Nicht-Katholik klammheimlich an den Schwierigkeiten der römischen Variante zu ergötzen wäre dumm. Von einer starken und lebendigen katholischen Kirche profitieren auch Protestanten und Orthodoxe.
Ich versuchte auch zu verstehen, wo der Unterschied zwischen Weisheit und Dummheit liegt. Aber ich begriff: Auch diese Mühe ist so sinnlos wie der Versuch, den Wind einzufangen. Denn je größer die Weisheit ist, desto größer ist auch die Mutlosigkeit, und je größer die Erkenntnis wird, umso mehr steigert sich auch die Enttäuschung. (Prediger 1,17–18)
Elmar, ein katholischer Diakon, verheiratet und Vater zweier Kinder, gehört durch sein Amt zur kirchlichen Hierarchie. Er ist ein sympathischer Offizieller seiner Kirche: kommunikationsfreudig, intelligent, engagiert und von tiefer Frömmigkeit. Der Mann ist beliebt.
Dann passiert etwas, das einfach nicht vorgesehen ist. Elmar verliebt sich in eine andere Frau. Die Ehe wird geschieden, und da er mit seiner Freundin zusammenlebt, muss er sein Amt ruhen lassen. Die Ehe wird nach einigen Jahren annulliert. Heißt in der Lesart seiner Kirche: Diese Ehe hat nie bestanden. (Die Kinder behalten allerdings den Status „ehelich“.) Nun kann Elmar seine Freundin heiraten und seinen Dienst als Diakon wieder aufnehmen, die Kirche braucht Leute wie ihn. … Zu früh gefreut! Da seine erste Ehe nie bestand, ist er unverheiratet Diakon geworden. Wer verheiratet geweiht wird, darf verheiratet bleiben. Wer ledig Diakon wird, muss den Zölibat versprechen. Elmar hat sich also zu entscheiden: sein Diakonenamt wieder aufzunehmen oder die Ehe mit seiner neuen Liebe einzugehen.
Storys dieser Art erzähle ich ohne Schadenfreude, sondern mit großem Bedauern für Elmar und für seine Kirche. Die bringt sich aufgrund ihrer speziellen Rechtsauffassung um gute Leute, die sie den Gläubigen vorenthält. Wie Elmar berichten mir auch andere Amts- und Funktionsträger tief bedrückt vom Leiden an ihrer Institution. Ihre detaillierte Kenntnis der Realität steigert ihre Enttäuschung. Sie sehen Stagnation, ja Rückschritt. Sie nehmen eine Verweigerung der Wirklichkeit wahr, ein Versagen aufrichtiger Kommunikation. Es liegt dann (ausgerechnet) an mir, sie zu trösten und zu ermutigen durchzuhalten.
Der Katholizismus verdient eine differenzierte Betrachtung. Unter dem Begriff „Katholische Kirche“ wird ein buntes Sammelsurium an Kirchen und Gemeinschaften, Theologien und Liturgien, Kulturen und Philosophien zusammengefasst. Diese Buntheit hat etwas Faszinierendes. Damit dieses hochkomplexe Gebilde irgendwie zusammengehalten wird, drängt die Kirchenleitung auf die Einhaltung bestimmter Regeln, die dem Kirchenvolk oft genug abstrus vorkommen.
Mancher Katholik gibt sich deswegen der Novemberstimmung hin, sieht alles nur noch düster und nebelig. November kann melancholisch machen, sogar depressiv. Dass ab und zu die Sonne durchbricht, erreicht das Gemüt vieler Kirchenmitglieder nicht mehr.
Ich darf anders auf diese Kirche blicken, entspannter. Ich erwarte weniger und empfange daher mehr. So schätze ich mich glücklich, mit einem Priester befreundet zu sein, der in Rom als Professor der Theologie an der päpstlichen Universität wirkt. Als wir uns zuletzt an einem Samstag im November in einer Bar trafen, fragte er unvermittelt: „Magst du morgen bei mir predigen?“ Ich sagte zu. Am nächsten Tag stand ich in der Albe neben ihm, er stellte mich als seinen evangelischen Freund vor und übersetzte meine Predigt Satz für Satz.
Beim Friedensgruß beseelten mich die fast zärtlichen Berührungen der Menschen, die hier Gottesdienst feierten, inklusive einiger Ordensschwestern. Ihr Lächeln und ihre Worte ließen erkennen: Uns trennt nichts! Mit absoluter Selbstverständlichkeit empfing ich die Kommunion in den Gestalten von Brot und Wein. In Köln wäre das nicht möglich gewesen. Geschichten dieser Art könnte ich viele erzählen.
Die katholische Kirche verstehen wollen? „Auch diese Mühe ist so sinnlos wie der Versuch, den Wind einzufangen“, würde Kohelet entgegnen. Albert Einstein hat es handfest ausgedrückt: „Man muss die Welt nicht verstehen, man muss sich nur in ihr zurechtfinden.“ Sich im Katholizismus zurechtzufinden gleicht einer Herausforderung. Die Katholikinnen und Katholiken müssen sie mutig annehmen. Ich möchte sie dabei unterstützen.
Wir können doch voneinander lernen. Und gemeinsam den Frühling erwarten.
Der mittlere Weg
Hennings Vater arbeitete als Professor in Bangkok, so lebte seine Familie ein paar Jahre lang in Thailand. Als er Jugendlicher war, kam sie zurück nach Deutschland. Henning wurde in meiner Bonner Kirchengemeinde konfirmiert und engagierte sich in der Gruppe für behinderte Menschen. Nach dem Studium zog es ihn zurück in den Fernen Osten. Er wandte sich der Lehre des Buddha zu, wurde Mönch und sogar Abt eines Klosters in der thailändischen Provinz Ubon, weitab von den Touristenmagneten.
Henning heißt als Mönch Kevali: „der das Absolute erreicht hat“. Das weist Kevali bescheiden von sich. Denn ein Mönch ist immer unterwegs. Zwar wächst die Erkenntnis, aber die Disziplin fordert ihn täglich.
Ein Buddhist folgt dem Weg des Buddha. „Buddha“ ist ein Ehrentitel und bedeutet etwa „der Erwachte“. Zuvor war sein Name Siddharta Gautama. Er lebte um 500 vor Christus in Indien als Prinz eines kleinen Königreiches. Was wir von ihm wissen, ist von Legenden überwuchert. Doch all die schönen Geschichten haben die Funktion, seine wundersame Lebenswende noch dramatischer erscheinen zu lassen.
Demnach standen Siddharta Gautama drei Paläste zur Verfügung, für den Sommer, für den Winter und für die Regenzeit dazwischen. Dort unterhielten ihn Tänzerinnen und Musiker. Er war verheiratet und Vater eines Sohnes. An Vergnügungen mangelte es ihm nicht. Doch er fand im Luxus keine Erfüllung. So machte er heimlich vier Ausfahrten mit der Kutsche. Am ersten Tag sah er einen Kranken und kam erschrocken heim: Krankheit würde auch ihm nicht erspart bleiben. Am zweiten Tag fiel ihm ein Alter auf; ihn würde das gleiche Schicksal treffen, alt zu werden. Bei der dritten Ausfahrt wurde er mit einem Toten konfrontiert, den man gerade zum Verbrennungsplatz brachte; das gleiche Ende erwartete ihn. Bei der vierten Ausfahrt entdeckte er einen Mönch. Dieser ließ sich von der belastenden Wirklichkeit nicht beeindrucken. So wollte er auch werden!
Siddharta Gautama verließ seine Familie und die Paläste, zog vom „Haus in die Hauslosigkeit“ und suchte die Wahrheit zu ergründen. Er fastete sich beinahe zu Tode, doch die Weisheit stellte sich nicht ein. Als er sein Vorhaben aufgeben wollte, setzte er sich enttäuscht unter einen Baum – und wurde „erleuchtet“: Was man unbedingt will, bekommt man nicht. Wer loslassen kann, erhält. Er „erwachte“. Das machte ihn zum Buddha. Er begründete den „mittleren Weg“, zwischen absoluter Entsagung und einem Leben ohne jegliche Einschränkung.
Ich sagte mir: „Dann schaffe ich mir ein angenehmes Leben und genieße das Gute.“ Doch ich erkannte, dass auch darin kein Sinn liegt. „Es ist unsinnig zu lachen“, sagte ich mir. „Was für einen Nutzen hat es, sich zu freuen?“ In meinem Herzen nahm ich mir vor, mich mit Wein zu berauschen, aber so, dass ich noch besonnen über die Weisheit nachdenken könnte. Ich wollte so leben wie die Dummen, um herauszufinden, welche Lebensart für die Menschen während ihrer Zeit hier auf der Erde am besten sei. Ich vollbrachte Großartiges: Ich baute mir Häuser und pflanzte Weinberge. Ich legte Gärten und Parks an und ließ alle Sorten Obstbäume setzen. Ich sammelte das Wasser in Teichen, um damit meine vielen Bäume zu bewässern. Ich kaufte Sklaven und Sklavinnen, und weitere Sklaven wurden in meinem Haus geboren. Ich besaß größere Schaf- und Viehherden als irgendjemand vor mir in Jerusalem. Ich häufte Gold und Silber in meiner Schatzkammer an, die Schätze vieler Könige und Provinzen. Ich holte Sänger und Sängerinnen an meinen Hof und nahm mir viele Frauen – das Höchste, was sich ein Mann nur wünschen kann! Auf diese Weise wurde ich berühmter und reicher als alle Könige, die vor mir in Jerusalem geherrscht hatten. Neben all dem besaß ich meine Weisheit. Wenn mir etwas ins Auge stach, was ich haben wollte, nahm ich es mir. Ich versagte mir keine einzige Freude. Und ich freute mich bei all den Mühen, die ich hatte – das war gleichsam ein Nebenlohn meiner Anstrengungen. Doch als ich alles prüfend betrachtete, was ich mir mit meinen Händen erworben hatte, und die Mühe dagegenhielt, die ich darauf verwendet hatte, merkte ich, dass alles sinnlos war. Es war so unnütz wie der Versuch, den Wind einzufangen. Es gibt keinen bleibenden Gewinn auf dieser Welt. (Prediger 2,1–11)
Kohelet wird wohl nie etwas von Buddha gehört haben, aber die Parallelen in der Erkenntnis der beiden sind offensichtlich. Doch ist die weise Einsicht kompatibel mit unserer Wirklichkeit? „Haste was, biste was“, warb früher eine Bank im Fernsehen, und die Girlgroup Tic Tac Toe sang folgerichtig: „Haste was, biste was! Haste nichts, biste nichts!“ Das scheint dem menschlichen Naturell zu entsprechen, sich über das Haben zu definieren. Haben oder Sein, formuliert Erich Fromm.
Bei einem Besuch in Kevalis Kloster durfte ich mich von der Ernsthaftigkeit des buddhistischen Weges überzeugen. Wie die Mönche stand ich morgens um drei Uhr auf, denn dann sind die Temperaturen noch erträglich. Um halb vier ist „chanting“; eine halbe Stunde lang rezitieren die Mönche heilige Verse, dann wird eine Stunde still meditiert. Um sechs Uhr beginnt der Almosengang durch die nahegelegenen Dörfer. Die Bewohner spenden täglich Lebensmittel: Reis, Obst, Süßigkeiten, Getränke und andere Sachen. Auch Geld, aber das darf ein Mönch nicht annehmen, das kann nur im Tempel in einen Opferstock gegeben werden. Um acht Uhr gibt es die einzige Mahlzeit am Tag. (Am Nachmittag wird Tee oder Saft gereicht.) Im Tagesverlauf folgen Belehrung, Arbeit, Ruhephasen und am Abend noch einmal Rezitation und Meditation.
Über allem liegen ein großer Frieden, heilige Ernsthaftigkeit und heitere Gelassenheit. Bei Ausflügen in weitere Klöster wurde mir die Ehre zuteil, andere Äbte kennenzulernen. Sie leben ein so anderes Leben als ich, und doch verstanden wir uns als Menschen wunderbar. Einmal erzählte ich einen alten Witz: Ein Busfahrer und ein Pfarrer kommen gleichzeitig an die Himmelspforte. Petrus winkt den Busfahrer rein, der Pfarrer muss warten und ist deshalb empört. Petrus erklärt: „Wenn du gepredigt hast, haben die Leute geschlafen. Aber wenn der Busfahrer gefahren ist, dann haben sie gebetet.“ Und die Mönche lachten! (Wie ich lernte, dürfen sie das in Thailand durchaus, nicht aber im benachbarten Burma, da gilt in aller Strenge Lachen als unpassend für einen Mönch.)
In den Gesprächen, die ich mit Kevali führen durfte, merkten wir immer wieder, dass die für uns so selbstverständlichen Begriffe unserer eigenen Religion der Übersetzung bedürfen. Es gibt zahlreiche Ähnlichkeiten und gravierende Unterschiede in den uns prägenden Glaubenssystemen. Am letzten Abend meines Besuchs war ich eingeladen, vor Mönchen und Laienanhängern über das Christentum zu sprechen. Ich erzählte die Lebensgeschichte Jesu.
Kevali, der Jünger Buddhas, und ich, der Jünger Jesu, schätzen uns, weil wir wissen, wie aufrichtig wir beide versuchen, unseren Weg zu gehen. Wir machen uns gegenseitig nichts vor und bekennen einander die Schwierigkeiten und Herausforderungen, auf der Spur zu bleiben.
Von wem stammt wohl dieser Spruch: „Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft. Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment“? Von Buddha, aber Kohelet hätte es genauso sagen können.
Wenn ich in Thailand einen Tempel betrat, warf ich mich wie alle anderen je drei Mal vor der Buddha-Statue nieder. Buddha ist kein Gott. Buddha war überzeugt: Götter können nicht helfen, ein jeder Mensch ist sterblich und zuvor ist sein Leben leidvoll. Die letztendliche Befreiung muss jeder allein vollbringen. Das sehe ich anders. Ich vertraue auf die Gnade. Aber ich bin sehr angetan von der edlen Weisheit des Erhabenen. Er sucht nicht das Glück, sondern den Frieden. Für mich ein Name Gottes.
Vom Segen des Vergessens
Das vorweg: Die handelnden Personen sind weder verrückt noch dumm. Aber der Konflikt war es …, mindestens überflüssig, vor allem vermeidbar. Die Sache selbst ist kaum der Rede wert, sorgte aber für bitteren Nachgeschmack. Und der kann lange anhalten.
Merle, eine Theologiestudentin, die sich auf das Pfarramt vorbereitet und in meiner Gemeinde einen Minijob innehat, ist an der Reihe mit dem „Gebet am Mittwoch“, einem kleinen Audio-Angebot auf der Homepage. Ich höre es mir vor dem Frühstück an und muss nach den ersten drei Worten auflachen: „Liebe Mutter Gottes!“, sagt Merle. Mir ist sofort klar, sie redet hier nicht Maria an (das Konzil von Ephesus im Jahre 431 verlieh ihr den Ehrentitel „Theotokos“ – „die Gottesgebärerin“). Für Merle ist Geschlechtergerechtigkeit selbstverständlich. Ich bin mir absolut sicher, sie spricht in Anlehnung an Gott Vater hier von Mutter Gott. Ein Grammatikfehler.
So beschloss ich herauszufinden, was die Weisheit von der Verrücktheit und der Dummheit unterscheidet. Denn was wird der Mensch tun, der nach dem König kommen wird? Natürlich das, was man schon immer gemacht hat. Ich stellte fest, dass Weisheit wertvoller ist als Dummheit, genauso wie Licht besser ist als Dunkelheit. Denn der Weise hat Augen im Kopf und kann sehen, der Dummkopf dagegen ist blind und tappt im Dunkeln umher. Gleichzeitig erkannte ich aber, dass Weise und Dummköpfe am Ende das gleiche Schicksal ereilt. Da dachte ich mir: „Wenn es mir genauso ergehen wird wie dem Dummkopf – was hatte es dann für einen Sinn, dass ich mich so um Weisheit bemüht habe?“ Und ich sagte mir: „Das ist doch auch unnütz!“ Man erinnert sich an den Weisen ebenso wenig wie an den Dummen: Später, in der Zukunft, wird sowieso alles vergessen sein. Der Weise muss genauso sterben wie der Dummkopf!(Prediger 2,12–16)
Nach dem Frühstück rufe ich Merle an. „Hast du ein inniges Verhältnis zur Gottesmutter?“, frage ich so beiläufig wie möglich, um mich zu vergewissern, ob ich wirklich richtigliege. Merle reagiert wie erwartet: „Hä?“ Dann kläre ich sie darüber auf, dass ihre Formulierung zu Missverständnissen führen könnte. Wir lachen beide.
Das vergeht uns, als sich ein Ehepaar aufgeregt beschwert – per E-Mail an die gesamte Gemeindeleitung; immerhin haben die Leute die Adressen von 14 Mitgliedern des Presbyteriums in den Computer eingegeben. Im Kern lautet der Vorwurf, da würde von Merle zur Marienanbetung aufgerufen! Im Übrigen hätte ich das als Pfarrer ja schon in der Predigt an Heiligabend vorbereitet. Meine Textgrundlage war das Magnifikat gewesen, der Lobgesang Mariens.
Was mit einer falschen Wortendung begonnen hatte, gewann eine absurde Dimension: Die Identität der evangelischen Gemeinde stand auf dem Spiel! Zu ihrem Selbstverständnis gehört offensichtlich, auf jeden Fall alles abzulehnen, was nur einen katholischen Hauch an sich haben könnte, wie das Thema Maria zum Beispiel. Martin Luther sah das entspannter.
Aus der Gemeinde forderte jemand, Merle dürfe, wenn ihr so etwas passiere, nicht Pfarrerin werden. Einer Ehrenamtlichen bereitete diese Bemerkung eine schlaflose Nacht.
Was mich so betrübt: Ich kenne das Ehepaar. Wir hatten ein nettes, offenes Verhältnis; warum haben sie mich nicht einfach angesprochen und gefragt: „Was war das denn da mit der Muttergottes?“ Warum diese Aufregung? Das kostete ein großes Stück unseres Vertrauens.
Eine (evangelische) Hörerin des „Gebetes am Mittwoch“ meinte, sie sei tatsächlich davon ausgegangen, Maria sei angesprochen worden, und das habe sie überhaupt nicht gestört. Sie würdigte den schönen und tiefen Inhalt von Merles Gebet. Ja, Merle wird eine fabelhafte Pfarrerin werden.
Diese Muttergottes-Episode steht symptomatisch für Auseinandersetzungen im Mikrokosmos Gemeinde. Hier ist jemand gekränkt, weil er sich nicht angemessen gegrüßt fühlt. Dort beschwert sich einer und möchte in der Predigt nicht geduzt werden (wenn ich zum Beispiel frage „Wisst ihr, was ich meine?“). Über die meisten Vorwürfe und Auseinandersetzungen kann man außerhalb des Gemeinde-Biotops nur den Kopf schütteln. Wir beschäftigen uns viel und gern und ausführlich mit uns selbst. Und wenn ich höre, was anderswo los ist, geht’s uns noch gut.
Dabei ist der Anspruch ein ganz anderer. Der abstrakte Begriff Kirche soll in der Gemeinde konkret werden: Wir, diese unvollkommenen und unterschiedlichen Menschen, sind die Gemeinschaft der Heiligen. Wir repräsentieren als Leib Christi das Reich Gottes. Wir sind kein Selbstzweck, sondern im Auftrag des Herrn unterwegs – befähigt, seine Botschaft in die Welt zu tragen. … Die Theologin Dorothee Sölle hat solche theologische Phrasendrescherei entlarvt und sagt: „Dass Gott uns alle und sogar jeden einzelnen liebt, ist eine allgemeine theologische Wahrheit, die ohne Übersetzung zur allgemeinen Lüge wird. Die Übersetzung dieses Satzes ist die weltverändernde Praxis.“ An der Umsetzung scheitern wir immer wieder gnadenlos.
Unser gegenseitiges Beurteilen und Verurteilen hat mit dem Evangelium nicht mehr viel zu tun. Wir benehmen uns verrückt und dumm, weil es uns an Weisheit mangelt, würde Kohelet diagnostizieren. Das macht alles unnütz. Und am Ende muss der Weise genauso sterben wie der Dummkopf. Stimmt. Aber in der Zeit davor liegt es in unserer Hand, das Leben etwas erträglicher zu gestalten. Gottes Liebe im Alltag zu praktizieren verändert die Welt. Wir verlieren nicht nur Kirchenmitglieder, weil die Menschen aufhören, an Gott zu glauben, sondern auch, weil es bei uns oft genug so wenig wohlwollend zugeht.
„Später, in der Zukunft, wird sowieso alles vergessen sein.“ Welch ein Segen! Dank sei Mutter Gott!