Kitabı oku: «Armas vom See»

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Armas vom See

Einsamkeit - Zweisamkeit - Liebeszeit

Georg von Rotthausen

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Inhaltsverzeichnis:

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Inhaltsverzeichnis

24. Juli 2016

25. Juli 2016

Armas vom See

Einsamkeit - Zweisamkeit - Liebeszeit

“Wer das Gegenteil von Gerüchten, die über Ereignisse oder Personen in Umlauf sind, annimmt, trifft oft den wahren Sachverhalt.” Jean de la Bruyère

“Man kann Dummheit sorgfältig durch Erziehung zu Vorurteilen herbeiführen.” Alexander Mitscherlich

Es war der 24. Juli, ein wunderschöner Sommertag des Jahres 2016. Ein Sonntag.

Christian von Achternberg saß in seinem sonnenlichtdurchfluteten Arbeitszimmer an dem uralten Schreibtisch seines Großvaters − und dachte nach.

Die Tastatur seines Arbeitscomputers und dessen moderner Flachbildschirm wollten nicht so recht zu dem schönen alten Möbel passen, aber der Schriftsteller wollte es so. Fast siebzig Jahre hatte sein Großvater an diesem Schreibtisch mit der dazu passenden Wanduhr gesessen, einige wenige Jahre wohl auch sein Vater, zu dem der Kontakt abgebrochen war, ehe er ihn, zwanzig Jahre nach dem Tod des alten Herrn und ein Jahr nach dem Tod seines Vaters endlich aus dem Nachlaß bekommen hatte. Ohne es so geplant zu haben, setzte er sich genau am Jahrestag des Hinscheidens seines Großvaters an den Tisch, um ihn in Besitz zu nehmen, und als es ihm bewußt wurde, überlief ihn eine gewaltige Gänsehaut.

Nun aber saß er da, nach gutem Nachtschlaf bis in den frühen Vormittag hinein, seinem üblichen, knappen Frühstück, und es fiel ihm nichts ein. Da half auch sein geliebter Grüner Tee nichts. Er starrte den Bildschirm an, der starrte zurück, mit einer erschreckend leeren weißen Seite.

Achternberg entschloß sich, den Teetopf zu leeren, ohne gleich, wie üblich, einen dampfenden neuen hinzustellen. Er trank so gut wie keinen Alkohol, rauchte seit seinem 10. Lebensjahr nicht mehr, aber er war ein Kettenteetrinker geworden, nachdem er den einst so geliebten Kaffee wegen Magenbeschwerden Jahre zuvor aufgegeben hatte − aufgeben mußte. Er schloß die geöffneten Dateien, fuhr den PC herunter und ging in sein Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

Es war schon am Vormittag derart warm, daß er, wie in der Jahreszeit üblich, nackt am Schreibtisch gesessen hatte. Olaf Gulbransson lief in seinem Garten in Oberbayern zum Malen nackt herum, nur mit einer Latzschürze bekleidet, da durfte er es sich wohl leisten, auch zur Schonung seiner Kleidung, in seinem eigenen Haus so herumzulaufen, wie er auf die Welt gekommen war − nackt.

Achternberg war durch großes Glück nicht mit maulender weiblicher Gesellschaft belastet, aber leider auch nicht von Familie umgeben, denn er hatte, zu seinem großen Kummer, keine Kinder − noch nicht, wie er, trotz seines Alters, gern betonte. Das käme schon noch, so verrückt der Gedanke sei, vor allem in der ungebetenen Meinung Dritter. Würde man einmal aufhören, nicht mehr ganz normal zu sein, vielleicht gar ein wenig verrückt, dann wäre man tot, liefe man dreist unter den sogenannten Lebenden herum, war sein Credo − und Kinder in diese verrückte Welt zu setzen, das wäre ebenso verrückt, wie es ein banal normaler Vorgang sei, den das Leben auf Erden nun einmal seit Millionen von Jahren betreibe, ohne sich viel Gedanken um die Folgen zu machen. Aber könnte nicht mit jedem Kind wieder eine neue Chance aufwachsen, daß diese bescheuerte Welt ein klein wenig besser würde? Auch wenn hin und wieder ein nicht ganz dichter Politiker oder gar ein künftiger Mörder darunter wäre? Mit genetischen Ausreißern hat die Welt bisher leben müssen und sie wird es bis zum bitteren Ende nicht anders halten können. Das ist nun einmal so.

Aber er hatte zwei Patentöchter, die er sehr liebte. Und eine liebte er etwas mehr.

Achternberg entschloß sich, in leichte Leinensachen zu steigen, seine bequemen Sandalen anzuziehen, einen breitrandigen Strohhut gegen die Sonne aufzusetzen − und an seinem See auf Hecht zu gehen, ohne sich von schöner Weiblichkeit mit einem Kuß und zärtlichen „bis nachher, Lieberchen” verabschieden zu können. Das Haus war nun einmal das, was Alleinsein ausmacht − still. Die Königin seines Herzens war nicht da.

Eine knappe halbe Stunde später saß er auf seinem mit buntem Stoff bespannten Klappstuhl auf dem vielleicht fünf Meter langen Holzsteg neben dem kleinen Sandstrand, hatte seine Angel ausgeworfen und harrte der Dinge. Er hoffte zudem, daß ihm dabei der Anfang seines neuen Buches einfallen würde. Ruhiges Nachdenken soll dabei schon sehr behilflich gewesen sein.

Er wußte ungefähr, wo in dem glasklaren Wasser der Hecht stand, auf den er es schon lange abgesehen hatte, aber der schlaue Räuber hatte sich bislang nicht verleiten lassen, anzubeißen.

Es mochte eine Stunde vergangen sein, mit dem Sonnenstand würde die Einschätzung wohl hinkommen, denn er hatte, wie üblich, keine Uhr dabei, als sich rechts von ihm plötzlich etwas im Wasser bewegte. Es war nicht der Hecht, dafür war es zu groß − und fleischfarben.

Achternberg fixierte es, ungehalten über die Störung, könnte ihm doch dadurch der Hecht vergrämt werden, aber laut schimpfen konnte und wollte er nicht, dann wäre der schlanke Räuber ganz sicher für den Rest des Tages Geschichte.

Das, was da ankam, war groß und schlank und nackt, kam kurz vor dem Ministrand an die Oberfläche, holte tief Luft, stellte sich hin, strich sich die dunklen Haare zurück und ging an Land ohne zunächst von dem gestörten Angler Kenntnis zu nehmen.

Achternberg schätzte den ohne „weiße Hose” braungebrannten Teenager auf etwa 1,90 m, vielleicht 17, höchstens 18 Jahre alt. Er hatte eine altersgemäß schlanke, ja durchtrainiert wirkende Figur, und er vermittelte den Eindruck, als er sich umdrehte und auf dem Sand niederließ, sicher Objekt manch bewundernder Betrachtung von Bikinischönheiten oder gleichsam nackten Mädchen am Strand und Ziel neidischer Blicke von gleichaltrigen jungen Böcken zu sein.

Der Junge streckte sich aus, verschränkte die Arme unter seinem Kopf und schloß die Augen. Achternberg schenkte er keine Beachtung und der hatte keinen Anlaß, sich den Störbesuch weiter anzusehen, da er sich offenbar nur sonnen wollte und ruhig verhielt. So wandte er sich wieder dem Blick auf den See zu und versank in seinen Gedanken. Von dem Hecht war nichts zu sehen. Die Sonne brannte herunter und der See lag still.

„Hi! Darf ich mich zu Ihnen setzen?”

Achternberg schloß einen kurzen Moment genervt die Augen, ehe er seufzend antwortete.

„Bitte!”

Er drehte sich um. Vor ihm stand der nackte junge Bursche, der offenbar überhaupt nichts dabei fand, ohne eine Faser am Leib einen ihm wildfremden Mann anzusprechen. Er musterte ihn kurz, wie man eben jemanden mustert, den man nicht kennt und der sich obendrein völlig schamlos benahm. Oder sollte man sagen, ungezwungen, jugendlich frech? Achternberg wandte sich wieder dem See zu − und schmunzelte, ohne daß der Junge es sehen konnte.

„Das hätten wir uns in dem Alter mal trauen sollen! Leider haben wir uns nicht getraut.”

„Stört es Sie, daß ich nackt bin?”

„Nö.”

„Gut. Habe sowieso nichts dabei. Ich könnte mich höchstens mit etwas Scham bedecken, aber die habe ich dummerweise zu Hause liegenlassen.”

Der junge Bursche setzte sich hin und ließ seine langen Beine im Wasser baumeln, stützte sich nach hinten auf seinen Händen ab und hielt mit geschlossenen Augen sein Gesicht mit nach hinten gelegtem Kopf in die Sonne.

Achternberg schmunzelte vor sich hin. Der Junge hatte Wortwitz.

„Wo kommst Du her?” fragte er leise.

„Von drüben.”

Der Junge war nicht alt genug um mit „von drüben” die ehemalige DDR, also Mitteldeutschland, zu meinen.

„Vom anderen Ufer, von gegenüber?”

„Jou.”

„Haben Deine Eltern das alte Hansen-Anwesen gekauft?”

Der alte Resthof mit sehr großem Garten, altem Baumbestand und einem wunderschönen reetgedeckten Haus aus dem 18. Jahrhundert hatte eine ganze Weile zum Verkauf gestanden. Das Land drumherum, etwa zwanzig Hektar, war an die umliegenden Bauern verpachtet.

„Jou.”

„Und Du bist das ganze Stück auf einen Rutsch durchgeschwommen?”

„Jou. Unterwegs keine Insel entdeckt.”

Achternberg bemerkte, wie töricht er gefragt hatte, natürlich gab es „unterwegs” keine Möglichkeit, sich auszuruhen, außer man hängte sich außenbords eines Anglers, wenn gerade einmal einer draußen war.

„Du bist gut im Training, hm?”

„Jou, kann man sagen.”

„Ferien?”

„Jou. Sechs herrliche Wochen.”

Achternberg wandte sich zu ihm um, da er ein Plätschern gehört hatte.

„Macht es Dir ‘was aus, die Beine aus dem Wasser zu nehmen oder wenigstens nicht zu bewegen? Es möchte mir den Hecht vergrämen.”

„Nö.”

Der junge Bursche zog die Beine an, rutschte ein wenig nach hinten, legte sich auf den Rücken und verschränkte, wie zuvor auf dem Sand, die Arme unter seinem Kopf, wobei seine Bizeps deutlich hervortraten. Er schloß die Augen. Die starke Sonne schien ihm nichts auszumachen. Selbst seine Männlichkeit, seiner Körpergröße perfekt angepaßt, war schokoladenbraun, mit Ausnahme der rosigen, wohlgeformten, etwas überdimensionalen Spitze − natürlich.

Es war still am See. Es regte sich kein Luftzug. Achternberg wandte sich um. Der junge Bursche war noch da. Schweißperlen glänzten auf seiner makellosen Haut. Er schlief.

Achternberg registrierte, daß seine ungebetene Gesellschaft nicht nur einen wohlgestalteten Körper hatte, sondern auch ebenmäßige, fast schöne Gesichtszüge aufwies, mit leicht erhöhten Wangenknochen. Unwillkürlich dachte er, ob dazu wohl eine ebenso schöne ältere Schwester gehörte, nur um gleich darauf schmunzelnd über sich selbst den Kopf zu schütteln. Solch ein Altersunterschied bedeutete nur in phantasievollen Romanen kein Hindernis. Die Realität war leider zu spießig und mißgünstig. Obwohl, er kannte ein Mädchen, dem es sicher nicht gefiele, würde er plötzlich mit einer Neuen flirten. Mancher privater Ärger läßt sich ausnahmsweise einmal durch Nichtstun vermeiden − und Achternberg liebte nicht nur dieses Mädchen, er liebte auch die allgemeine Harmonie in seinem Leben. Disharmonie arbeitete er in seinen Geschichten ab.

Ihm fiel wieder ein, daß über den US-Musiker Billy Joel, der immerhin schon 65 war, sich im April 2015 die Nachricht verbreitet hatte, daß seine 32 Jahre jüngere Freundin Alexis Roderick, eine ehemalige Bankmitarbeiterin, ein Kind von ihm erwartete, den ersten gemeinsamen Nachwuchs. Allerdings hatte Joel 29 Jahre zuvor bereits erfolgreich eine Tochter in die Welt gesetzt, was Achternberg dank des unromantischen Verhaltens seiner großen Liebe in Dillsburg, Pennsylvania versagt geblieben war.

Ihm gefiel die schlagfertige, wortwitzige Antwort des Jungen hinsichtlich seiner unbekümmerten Nacktheit. Er verstand nur nicht, warum er sich nicht irgendwo am Strand unter Gleichaltrigen amüsierte, sondern hier bei ihm aufhielt, sonnte, schlief und bislang kaum etwas gesagt hatte. Wiederum, er war nicht lästig, warum sollte er ihn vertreiben. Ihn ärgerte nur, daß der Hecht einfach nicht anbeißen wollte.

Careen! Wie sie heute wohl aussah, kam Achternberg in den Sinn. Wahrscheinlich war sie noch schöner geworden, als sie es mit 24 Jahren war, als er sie ganz unvermittelt in Begleitung ihrer deutschen Großmutter Emma kennenlernte. Fünf Sekunden vorher gefragt, ob er an Liebe auf den ersten Blick glaube, hätte er jeden für verrückt erklärt, nicht ganz gescheit im Kopf − und dann läuteten Kölner Dom, Freiburger Münster, Münchner Frauenkirche, Berliner Dom, Stephansdom, Notre Dame de Paris, St. Paul’s Cathedral und Big Ben allesamt gleichzeitig! Er war wie angewurzelt stehengeblieben, hatte nicht fassen können, was er im gläsernen Autoschalter einer kleinen Bankfiliale in diesem Nest unweit Harrisburg erblickte: das schönste weibliche Wesen, das er je gesehen hatte! Ihr wunderschönes Lächeln, das er immer noch vor sich sah, als hätte es ihn gerade erst hypnotisiert. Aber es sollte nichts werden. Careen befand sich in einer sich auflösenden Verbindung, doch hatte sie den Ring noch nicht abgelegt. Sie war freundlich zu ihm, strahlte ihn an, doch ein Rendezvous lehnte sie ab. Achternberg war nur auf eine Woche bei ihren Großeltern zu Gast. Leopold, ihr Großvater, den er als Historiker aufgesucht hatte, war im Ersten Weltkrieg Kaiserlicher Leutnant zur See gewesen und hatte in der zweiten Weltkatastrophe, die die Sieger der ersten durch ihr törichtes und zutiefst demütigendes Friedensdiktat mit heraufbeschworen hatten, als Fregattenkapitän gekämpft. Zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens war er ein liebenswürdiger alter Herr, dessen Marinedolche nur noch als Dekoration an der Wand des großen Wohnzimmers in einem typisch amerikanischen Einfamilienholzhaus an der Hauptstraße von Dillsburg hingen, einer ebenso typischen amerikanischen Kleingemeinde im Osten der USA, die diesen unerwarteten Schatz eines weiblichen Wesens beherbergte. Er sollte Careen, die völlig akzentfrei hochdeutsch sprach, nur noch einmal wiedersehen und dann nie wieder. Aber genügte das nicht, einen Menschen über drei Jahrzehnte nicht zu vergessen? Einzige optische Erinnerung würde ein Photo bleiben, das er im Haus ihrer Großeltern abgehängt und in einem kleinen Geschäft kopiert hatte. Achternberg war ein armer Student, schaffte es nicht mehr, nochmals in die USA zu reisen, sein langes Werben verstand sie nicht. Ihre Großeltern waren auf Achternbergs Seite, ihr Vater verhielt sich freundlich neutral, ihre Mutter war gegen ihn − sie wollte, trotz Verwandtschaft in Deutschland, ihre ältere Tochter nicht mehrere tausend Kilometer von sich getrennt wissen. Ihr Vater schrieb ihm, sie könne nicht begreifen, daß ein Mann so begeistert von ihr sein könne. Acht Jahre später sollte sie einen optisch in keiner Weise zu ihr passenden, deutlich älteren Amerikaner ohne Liebe heiraten, aber er konnte ihre große Leidenschaft bedienen: er besaß eine Herde Pferde. Als Achternberg es von ihrer Großmutter erfuhr, war er über Monate wie von Sinnen gewesen, konnte es einfach nicht fassen, zumal sie kein Jahr nach ihrer Hochzeit ihr erstes Kind zur Welt bringen sollte. Ob es ein Mädchen oder ein Junge war, hat er nie erfahren.

Die alte Emma konnte ihn nicht trösten, als sie ihm schrieb: „Wer mir so die Liebe erklärt hätte, dem wäre ich bis in die Hölle gefolgt!”

Für Achternberg folgte die Hölle der Einsamkeit − für viele Jahre. Er kam nicht darüber hinweg.

In diesem Jahr würde Careen 56 Jahre alt. Vielleicht war sie geschieden vielleicht Witwe − er wußte es nicht. Ihr Erstgeborenes würde 23 Jahre jung sein. Achternberg wußte nicht, warum, aber er hoffte auf ein Mädchen, das die unglaubliche Schönheit der Mutter geerbt haben könnte. Und hinter ihm lag ein schöner Junge, der sein Sohn sein könnte, so schön, als hätte er ihn mit Careen gezeugt. Aber er hatte mit Careen keine Kinder, würde nie welche mit ihr haben − das war der große Kummer seines Lebens. Und in stillen, sentimentalen Stunden trauerte er seinen Kindern nach, die er nicht in seinen Armen halten durfte − ach wäret ihr doch geboren!

Er drehte sich in der Hüfte um, hielt die Angel ruhig, und ließ seinen Blick über den ruhig atmenden Körper dieses schönen jungen Menschen gleiten, der ihm völlig unbekannt und plötzlich doch irgendwie vertraut war, obwohl er nicht einmal seinen Namen kannte.

Seltsam. Der Junge suchte seine Nähe, stellte sich aber nicht vor. Suchte er seine Nähe? Vielleicht akzeptierte er einfach nur, daß er an dem ruhigen, einsam gewähnten Platz einen männlichen Menschen angetroffen hatte, der vom Alter her leicht sein Vater sein könnte.

Er hatte die frische, leichte Art eines fortgeschrittenen Teenagers an den Tag gelegt, der fröhlich lächelnd überspielte, daß er, ohne zu fragen, an einem Privatgrundstück an Land gegangen war, dazu ohne ein Stück Stoff am Leib. Irgendwo mußte eines der Schilder im Uferbereich stecken, das deutlich auswies Privatgrundstück. Betreten verboten. Achternberg hatte vergessen, wo. Der Junge war tauchend näher gekommen, konnte es also leicht übersehen haben. Achternberg war nicht in der Stimmung zu schimpfen, das verursachte ohnehin nur unnötig Falten, und der Junge machte nicht den Eindruck eines aufdringlich-neugierigen Fans − auf dem nassen Weg seiner „Anreise” konnte er schlecht ein zu signierendes Exemplar von Achternbergs Büchern mitbringen − oder eines Touristen, der mal nur neugierig sehen wollte, wie denn solch ein bekannter Tintenkleckser lebte. So wie auf Rothensande früher ständig wildfremde Leute in die Privaträume des Gutsherrn vordrangen, um mal zu schauen, wo die berühmten drei „Immenhof“-Filme der fünfziger Jahre gedreht worden waren.

Er war zudem der neue Nachbarssohn „von drüben”. So könnte es passieren, daß er im Sommer häufiger käme, vielleicht sogar täglich. Er könnte sich nicht täglich von neuem aufregen, zumal es ein Kompliment wäre, wenn der Junge zurückkehrte. Für ihn als Mensch, daß er nicht vergraulend wirkte, und für sein Stück Land am See, weil es, einladend, wie es nun einmal war, dem jugendlichen Besucher gefiel. Wer fühlte sich nicht geschmeichelt, wenn sein Zuhause von Dritten als schön empfunden würde!

Und Achternberg fühlte sich durch eigene Gedanken geschmeichelt, er hätte mit einer schönen Frau solch einen schönen Menschen in diese schöne Welt gesetzt haben können, die sich immer wieder so grausam gebärdete, weil boshafte Menschen sie nicht zu schätzen wissen und keine Ruhe geben können. Aber das Schlechte in dieser Welt, der einzigen, die die Menschen nun einmal haben, läßt sich nur durch das Gute und Schöne bekämpfen − und letztlich besiegen. Das sei ein tröstlicher Gedanke, fand er. Warum hätte er diesem friedlichen Teenager eine Szene machen sollen − warum?

Während er all das dachte, seinen Besuch betrachtete und sich gerade wieder der ruhigen Beobachtung seiner Angel widmen wollte, begann der junge Bursche, sich zu regen, ohne seine Augen zu öffnen. Er massierte mit seiner Rechten seine Brust, spielte mit seinen Brustwarzen, gähnte, als wolle er die Welt verschlingen, streckte sich, blinzelte gegen die Sonne an und stützte sich auf seine Ellbogen.

„Hab’ ich geschlafen?” fragte er leise.

„Glaub’ schon”, murmelte Achternberg, der sich kurz zu ihm umwandte. Dabei trafen sich ihre Blicke, worin sie einen Moment lang verharrten.

„Hat schon ‘was angebissen?”

Der Junge richtete sich auf.

„Nö. − Das Einzige, daß heute aus dem See gekommen ist, bist Du.” Achternberg zog seine rechte Augenbraue hoch. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

„Störe ich Sie?”

„Nö. − Wie kommst Du darauf?”

„Na ja, Sie wollen hier in Ruhe angeln …”

„Ach, der Hecht läßt mich schon seit Wochen warten, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht an. Du störst wirklich nicht. Wie heißt Du?”

„Armas.”

„Achternberg.”

„Ich weiß. Sie sind der Schriftsteller, der mit den Krimis und Erotikgeschichten und so.”

„Ach ja?”

„Ja, ich hab’ mich im Netz über Sie informiert. Man muß doch wissen, wen man als Nachbarn hat. Meine Mutter liest Ihre Sachen gern, Papa weniger. Ich finde Ihre Erotika cool. Macht ‘n mächtigen Ständer.”

„Ach ja?”

So deutlich hatte es Achternberg noch von keinem Leser gehört. Aber es freute ihn, daß seine erotischen Geschichten so anregend wirkten. Er mußte schmunzeln. Ihm gefiel die offene Art von diesem Armas.

„Klar. Sie schreiben so schön bildhaft, daß mein angeschaltetes Kopfkino mir wunderbar hilft, zu onanieren.”

Achternberg mußte sich räuspern. Der Junge war wirklich frei heraus. Es schoß ihm gleich durch den Kopf, wie stolz er wäre, einen solchen Sohn zu haben. Einen, mit dem er sich offen über alles unterhalten könnte.

„Hast Du keine Freundin?”

„Nein, das heißt ja, keine Freundin.”

„Warum nicht? Du bist ein hübscher Junge.” Achternberg sah Armas forschend an.

Das war eine indiskrete Frage, aber nun war sie einmal heraus.

„Ich will noch nicht. Die Mädchen haben Ansprüche, die zu erfüllen ich nicht bereit bin.”

„Ach ja? Gefallen Dir Jungs besser?”

Das war hart und direkt auf den Busch geklopft. Achternberg wunderte sich ein wenig, daß Armas nicht wild darauf erpicht war, sein erstes Mal mit einem Mädchen und mehr als das zu erleben. Armas sah ihn fest an. Seine Wangen hatten sich leicht gerötet.

„Ich bin nicht schwul, falls Sie das denken. Ich kann nur warten.”

Achternberg war plötzlich überzeugt, einen ganz besonderen jungen Menschen vor sich zu haben.

„Es würde mich nicht stören.”

„Was? Wenn ich schwul wäre?”

„Genau. Niemand kann etwas für seine Vorlieben.”

„Sind Sie schwul?” Armas sah ihn durchdringend an.

Achternberg antwortete ihm mit einer Gegenfrage.

„Wie kommst Du darauf?”

„Weil Sie tolerant zu sein vorgeben.” Armas sah ihn forschend an. „Und weil es Sie nicht stört, daß ich nackt bin.”

Achternberg lachte.

„Wäre es Dir lieber gewesen, ich hätte Dich laut schimpfend verjagt?”

„Das wäre zumindest die normale Reaktion gewesen, wie ich sie bisher kennengelernt habe.”

„Dann bist Du also bisher immer nur an Spießer geraten?”

„Das kann man so sagen. Ich bin nur beschimpft worden und meine Eltern habe böse Briefe bekommen.”

„Also, um das ein für allemal klarzustellen”, Achternberg sah Armas fest an, „ich liebe die Frauen, auch wenn sie manchmal eine ziemliche Plage sind”, beide lachten, Armas zeigte dabei zwei Reihen strahlendweißer Zähne, „ich bin im Moment allein und Du gefällst mir, sonst wärst Du nicht mehr hier. Beantwortet das Deine Frage?”

„Jou”. Armas lächelte und wirkte zufrieden.

„Und warum haben Deine Eltern böse Briefe bekommen?” Achternberg wurde neugierig, obwohl er sich gewisse Dinge schon denken konnte.

„Das waren immer ebenso neugierige wie spießige Nachbarn, vielleicht waren sie auch einfach nur neidisch. Ich bin nun einmal groß, habe das Glück einen gutgewachsenen Körper zu haben, den ich allerdings auch sportlich trainiere, und mein Schwanz ist überdurchschnittlich lang.”

„Kann man sagen“, nickte Achternberg zustimmend. Ihm gefiel das gesunde Selbstbewußtsein des Jungen, das nicht arrogant wirkte. „Läufst Du gern nackt herum? Ich meine, woher könnten die Nachbarn sonst wissen, daß Dein Penis zur Körpergröße paßt, wie? Oder hast Du keine Gardinen vor Deinem Fenster und wirst von den Nachbarn beobachtet, wie Du Dich in Deinem Zimmer bewegst? Spanner gibt es ja leider immer wieder.”

„Ich finde es einfach cool, frei und ungebunden zu sein, und das schließt ein, daß ich in der warmen Jahreszeit möglichst wenig Stoff am Körper haben möchte. Ich bin schon gern nackt schwimmen gegangen, als ich noch auf meine ersten Schamhaare wartete, und ich liebe es, in der Sauna zu sein. Wir hatten immer ein großes Grundstück um uns herum, aber es gibt ja Ferngläser. Da bin ich wohl immer begafft worden, wenn ich nackt im Garten herumgelaufen bin oder mich gesonnt habe. Meine Eltern haben das stets toleriert, aber die blöden Briefe der Nachbarn haben schon genervt. Auf der Straße bin ich auch schon mal als schamloser Bengel beschimpft worden. ‚Wenn du mein Sohn wärst …’ und so weiter. Finden Sie, daß ich schamlos bin?” Armas schlug kurz die Augen nieder, ehe er Achternberg fragend ansah, wobei er seinen Kopf leicht schräg legte.

„Natürlich bist Du schamlos, aber auf eine sehr angenehme, gesunde Art und Weise. Mache Dir deshalb keine Gedanken. Du bist auf eine wunderbare Weise völlig unnormal normal. Ich kenne Dich zwar erst seit heute, aber ich rate Dir, so zu bleiben, wie Du bist. Beantwortet das Deine Frage?”

„Jou.”

Armas war für einen ganz kurzen Augenblick das Gesicht gefroren, als ihm seine Schamlosigkeit bestätigt wurde, aber dann hellte es sich total auf. Ein Anflug von Glücksgefühl huschte über sein schönes Gesicht. Er strich sich mit dem rechten Zeigefinger über den Nasenrücken, den er danach leicht kräuselte.

„Man kann Dir nur gratulieren, daß Du auf eine wohltuende Art schamlos bist. Du lebst eine unverklemmte Körperlichkeit. Das müssen die meisten Menschen erst mühsam lernen, Du bist offensichtlich ein Naturtalent. Du benimmst Dich ungezwungen. Das ist sicher auch ein gehöriges Verdienst Deiner Eltern. Ich hoffe, ich darf sie einmal kennenlernen.”

„Das läßt sich bestimmt einrichten, wenn Papa mal wieder da ist.”

Achternberg sah ihn fragend an.

„Oh, er ist Kapitän auf Großer Fahrt und selten zu Hause. Ich habe ihn seit dem Umzug nicht mehr gesehen. Im Moment ist er irgendwo im Südchinesischen Meer.”

„Tatsächlich?”

„Es ist schon vorgekommen, daß er ein halbes Jahr nicht da war. Danach hatte Mama ungefähr eine Woche wenig Zeit für mich, aber das war schon in Ordnung. Das kommt immer wieder vor. Ich koche dann für meine Eltern mit und stelle es ihnen vor die Schlafzimmertür. Wenn wir uns dann wiedersehen, wirken beide immer etwas schlanker als vorher.” Armas grinste schelmisch. Auch Achternberg konnte sich ein breites Schmunzeln nicht verkneifen. Der Junge hatte wirklich Witz und Humor. Eine seltene, schöne Gabe. Er begann, ihn zu interessieren.

Achternberg beobachtete wieder das Umfeld der ausgeworfenen Angel. Hinter ihm wurde es still. Er wähnte Armas wieder in der Sonne ausgestreckt. Er wurde nicht gestört, und Achternberg wollte nicht stören. Sie würden sich schon noch weiter unterhalten. Nach einer Weile ...

„Magst Du morgen zum Essen kommen? Es gibt Matjes mit Pulchen.”

Achternberg wandte sich um − und fand sich wieder allein. Armas war verschwunden. Er mußte leise weggetaucht sein. Achternberg fand das ganz in der Ordnung. Trotz der erst kurzen Bekanntschaft war der Junge ihm sympathisch. Er würde wiederkommen, dessen war er sich sicher. Und das würde bereits am nächsten Tag sein. Für Achternberg bestand da kein Zweifel. Er würde für Armas etwas vorbereiten.

Verflixter Hecht! Er wollte wieder nicht beißen. Der schlaue Räuber narrte ihn einen weiteren Tag. Dafür hatte der See ihm ein anderes, ein besonderes Geschenk gemacht. Einen interessanten, jungen Menschen. Er hatte plötzlich die Grundidee für ein neues Buch.

*

2. Tag

Am nächsten Vormittag war Achternberg besonders gut gelaunt. Er hatte ausgezeichnet geschlafen. Am Abend zuvor fanden erste Notizen ihren Weg in den PC. Die erste grausige weiße Seite war bereits Vergangenheit und hatte damit ihren Schrecken verloren. Nach seinem wie üblich späten Frühstück war er kurz am See gewesen. Der lag bei schönstem Sonnenschein und fast wolkenlos blauem Himmel still da. Es regte sich kein Lüftchen. Die Wasseroberfläche war spiegelglatt.

Achternberg kehrte zurück, erledigte anstehende Post und tätigte telephonisch einige Überweisungen. Dann nahm er seine Angel, einen kleinen Picknickkorb, den er vorbereitet hatte, denn er wußte, daß er einige Stunden nicht zurückkehren würde, setzte sich seinen breitrandigen Strohhut auf und verließ das Haus.

Als er an dem kleinen Holzsteg ankam, bemerkte er, daß er bereits Gesellschaft hatte.

Armas lag mit dem Rücken auf dem großen Badetuch, das Achternberg ihm hingelegt hatte. Den breitrandigen Strohhut hatte er sich über die Stirn gelegt. Auf Armas’ Haut glitzerten keine Wassertropfen mehr, also war er mindestens schon seit einer halben Stunde da, aber sie glänzte − er hatte die Sonnenmilch benutzt, die Achternberg auf das große Tuch gelegt hatte. Und daneben lag, sorgfältig quadratisch gefaltet, die Alufolie, in der ein großes Stück kalte Putenbrust eingewickelt gewesen war. Der Junge hatte offensichtlich Hunger gehabt und sich daran nach der Seeüberquerung gestärkt.

Armas’ linke Hand lag auf seiner Brust, die sich ruhig hob und senkte. Den rechten Arm hatte er unter seinen Kopf gelegt. Dadurch war sein rechter Bizeps deutlich hervorgetreten, während unterhalb seiner rechten Brusthälfte sein Rippenxylophon leicht hervortrat. Er bot ein anrührend friedliches Bild. Achternberg konnte nicht anders als stehenzubleiben und diesen ästhetischen Eindruck einen Moment lang in sich aufzunehmen. Aber so ganz friedlich war das Bild dann doch wieder nicht.

Achternberg fiel auf, daß Armas’ Penis seine Ruhestellung gewechselt hatte. Und er war irgendwie „größer“. Konnte das eine optische Täuschung sein? Er ruhte nicht schlaff in seiner selbst dann beachtlichen Länge zwischen Armas’ Schenkeln, sondern auf seinem Bauch − reichte fast bis zu seinem Bauchnabel. Achternberg grinste und schüttelte amüsiert den Kopf: Armas hatte eine Erektion!

„Wie schön, er fühlt sich schon so wohl hier, daß er sich nicht scheut, sein erotisches Kopfkino einzuschalten. Oder er ist eingeschlafen, wie gestern, und träumt etwas Schönes. … Ach ja, wären wir doch in seinem Alter so unverklemmt gewesen. Da hat sich doch keiner getraut, coram publico einen Ständer zu bekommen!”

Achternberg sprach ihn nicht an, wollte ihn nicht erschrecken oder gar peinlich berühren. Er ging vor auf den kleinen Steg, stellte seinen Korb ab, den Klappstuhl auf, setzte sich und warf die Angel aus. Achternberg sah auf den See hinaus und schaltete ab.

Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er ein Plätschern wahrnahm. Achternberg wandte sich um und sah, daß Armas im flachen Uferwasser kniete und sich wusch. Er dachte sich etwas, wollte aber nicht wirklich wissen, warum, und tat so, als hätte er es nicht bemerkt, denn Armas sah nicht zu ihm herüber. Der Junge war völlig entspannt, offensichtlich.

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