Kitabı oku: «Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt»
Die Hilbert-Kurve ist eine Linie (mit sehr vielen Ecken), die eine zweidimensionale Fläche vollständig ausfüllt – und dadurch sozusagen ihre eigene Dimensionen hinter sich lässt.
Georg von Wallwitz
Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt
Wie ein Mathematiker das 20. Jahrhundert veränderte
1. Vorwort
2. Ungehaltener Nekrolog
3. Zwei Vögel, ein Frosch und der Erzengel des Fortschritts
4. Ein geschärfter Geist
5. Hilbert geht nach Göttingen
6. Die 23 Probleme in Paris
7. »Der Beginn der Kultur der Gegenwart«
8. Hilbert lernt Physik
9. Zwei wirkliche Kerle
10. Dies ist keine Badeanstalt
11. Ein endliches Spiel
12. Von Neumann, Bologna
13. Wunderknaben in Göttingen
14. »Ein dämonischer Mangel an Plausibilität«
15. Demonstrationes Catholicae
16. Im Licht der Logik
17. Translatio Imperii
18. Nachwort
Oft bekommt man zu hören: Das ist gut, doch es ist von gestern. Ich aber sage: Das Gestern ist noch nicht geboren. Es war noch nicht wirklich da.
Ossip Mandelstam, Das Wort und die Kultur (1921)
1. Vorwort
Es gibt einen im Grunde liebenswürdigen Menschenschlag, der beim Nachdenken über die Welt bereit ist, über die Intuition hinauszugehen und sich allein von der Form und der inneren Logik der Phänomene leiten zu lassen. Diese Menschen sind phantasievoll und mutig im Angesicht strenger Logik und selbstbewusst genug, um unvermeidliche Niederlagen nach kurzer Trauer einzugestehen – denn die Wahrheit der formalen Überlegung geht ihnen über alles. Sie erlangen selten den Status eines öffentlichen Intellektuellen, sind wenig ruhmsüchtig und meistens mit einem stillen Kämmerchen zufrieden, in welchem sie gleichwohl nichts Geringeres herstellen als den Schmierstoff der modernen Welt. Die Rede ist, natürlich, von den Mathematikern.
Wir alle wissen, wie groß der Einfluss ihrer Arbeit ist. Unter den Begriffen Big Data, Künstliche Intelligenz und Kryptographie haben mathematische Techniken das tägliche Leben einer Menschheit durchdrungen, die sich auch bei noch so guter Schulbildung oft wenig darunter vorstellen kann, was unter moderner Mathematik zu verstehen ist und wer sich so etwas ausdenkt. Der Draht der Mathematiker zu großen Teilen der gebildeten Schichten ist, trotz ihres stark gewachsenen Einflusses, weitgehend verlorengegangen.
Das war nicht immer so. Im 18. Jahrhundert konnte ein Philosoph wie Voltaire ein Buch über Newtons Physik schreiben und große Mathematiker wurden hoch gehandelt in den Salons von Paris, London und Berlin. Dichter wie Novalis machten sich ausgiebig Gedanken über Euklids Axiomatik und die Bedeutung der binomischen Formeln. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein gebildeter Mensch könnte ohne Kenntnisse der neuesten Mathematik auskommen. Dann aber, um 1800, verlor sie ihre Selbstverständlichkeit, denn durch die furchterregend abstrakten Arbeiten von Carl Friedrich Gauss und einigen seiner Zeitgenossen büßte sie ihre Anschaulichkeit ein und wurde zu einem Fach, das unmöglich von Kavalieren nebenher, als amüsanter Zeitvertreib, betrieben werden konnte. Die Dilettanten in der Mathematik starben langsam aus. Heute ist sie nicht mehr Teil der Allgemeinbildung und es gibt sehr kultivierte Menschen, die ohne Furcht vor sozialer Ausgrenzung bekennen können, keinen blassen Schimmer von moderner Mathematik zu haben. Sie nehmen den Anspruch der Mathematik auf Unbedingtheit, Ewigkeit und Schönheit von Ferne interessiert zur Kenntnis, sehen als Zugang aber nur ein Nadelöhr, das Ihnen unpassierbar erscheint. An diese richtet sich das vorliegende Buch.
Der durchschnittliche Mathematiker weiß genau, dass die Allgemeinheit die konkreten Inhalte seiner Wissenschaft weder sucht noch findet. Sosehr er es sich auch wünschen mag, dem nächsten Passanten auf der Straße zu erklären, was es mit Topologie oder algebraischer Geometrie auf sich hat, er wird am Ende bestenfalls graue Erinnerungen an die Schulzeit wecken und keine reichhaltigen Ideen transportieren. Über Inhalte kann daher in diesem Buch nicht geredet werden, es hätte keinen Sinn. Ich kann nur versichern, dass es ein wunderschönes Erlebnis sein kann, logische Zusammenhänge zu begreifen, dass auch in jener Gedankenwelt jenseits der Intuition und der bunten Vorstellungen noch Leben ist. Allerdings lässt sich über die biographische Konstellation reden, über die Denkweise und die Aufgaben, aus der die Mathematik hervorgeht – und dann lässt sich umso besser darüber staunen, wie eine rein geistige Übung so tief in die Realität hineingreifen kann.
Wie tief dieser Eingriff ist, hat am stärksten die um 1900 geborene Generation erfahren. In ihrer Kindheit bezeichneten Glühbirnen und Dampfmaschinen den Stand der Technik. Fünfzig Jahre später gab es Autos, Flugzeuge, Atombomben, Computer, Radar, Radio und Fernsehen und die Welt erkannte sich kaum wieder. Die Physik hatte die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik hervorgebracht und es gab völlig neue Wissenschaftszweige wie die Spieltheorie und die Kybernetik. In diesem halben Jahrhundert hat sich die Welt so dramatisch gewandelt wie in fast keiner anderen Periode. Gegen diesen Sturm sind die Veränderungen, welche die westliche Welt heute erlebt, bestenfalls ein leises Ziehen.
Sucht man nach der einen Figur, welche häufiger als alle anderen an den Quellen dieser Umwälzung auftaucht, trifft man schnell auf David Hilbert in Göttingen, den einflussreichsten Mathematiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war die graue Eminenz hinter den naturwissenschaftlichen Köpfen, die die Welt in dieser Zeit auf ihre Weise erschütterten. Bei niemandem trafen so viele der später entscheidenden Wissenschaftler aufeinander und auf keinem anderen Schreibtisch kreuzten sich so viele Verbindungslinien und Ideen, aus denen schließlich, ungeplant, eine neue Zeit entstand. Er gab der ganzen Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert die Richtung vor. Viel von dem, was wir heute davon im täglichen Leben sehen, wie etwa die Entwicklung des Computers, ist in der Auseinandersetzung mit seinen Ideen entstanden. Und es ist auch kein Zufall, dass viele der Physiker, die später die Atombombe bauten, sich in den 1920er Jahren in Hilberts Göttingen kennenlernten.
»Zwei Einflüsse haben meiner Meinung nach vor allen anderen das 20. Jahrhundert geprägt. Der eine ist die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technologie – gewiss die größte Erfolgsgeschichte unserer Zeit […] Der andere besteht zweifellos aus den großen ideologischen Stürmen, welche das Leben fast der gesamten Menschheit verändert haben«,1 schreibt Isaiah Berlin, einer der besten Zeugen seiner Zeit. Besteht der Mantel der Geschichte des 20. Jahrhunderts nach außen hin aus Krieg, Vernichtung und Vertreibung, aus Ideologien, Rassismus und blindem Eifer, so ist sein Innenfutter aus der phänomenalen Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaft gewoben, welche die Gestalt des Jahrhunderts mindestens so sehr geprägt hat. Über die Tyrannen, denen im 20. Jahrhundert niemand aus dem Weg gehen konnte, ist viel geschrieben und gestritten worden – womöglich mehr, als sie es verdient haben. Vielleicht stellt man in 200 Jahren aber fest, dass die Ideen und Methoden, die in dieser Zeit in Mathematik und Physik erdacht wurden, den Gang der Geschichte nachhaltiger verändert haben als die Grausamkeit der Ideologen.
In einer für die Mathematik glorreichen Zeit war Hilbert das überragende Oberhaupt einer Schule, die Naturwissenschaften und Technik die Mittel an die Hand gab, die Welt neu zu begreifen. Diese Schule zog begabte junge Menschen aus der ganzen Welt an, einen sehr bunten und genialen Haufen von Menschen, unkonventionell in jeder Hinsicht. Für seine Schüler setzte er sich bedingungslos ein, wie etwa für Emmy Noether, die er als Dozentin kaum durchsetzen konnte gegen seine dem Frauenbild des Kaiserreichs verpflichteten Kollegen von der Philosophischen Fakultät (und auch das nur unter dem Verweis auf den Unterschied zwischen Fakultät und Badeanstalt). Sein Markenzeichen war die im Sinne des großen Euklid benannte axiomatische Methode, in der sich der Ehrgeiz ausdrückte, des Pudels Kern nicht nur zu verstehen, sondern das Tier auch auf logisch einwandfreie, formale Weise wieder zusammenzusetzen. Sie ist der Versuch, die Dinge von ihrer inneren Logik her zu verstehen. Gedanklich war das eine Revolution, der Bruch mit einer romantischen Tradition, die den Mathematiker nur seiner genialen Intuition verpflichtet sah.
Das mathematische Wissen hat den Aufbau einer Pyramide. Die meisten von uns haben in der Schule eine im Kern dunkle Wissenschaft erlebt, die aus der richtigen Anwendung auswendig gelernter Formeln besteht und erst durch den Einsatz von Taschenrechnern erträglich wird. Diese Schulmathematik ist die breite Basis der Pyramide und objektiv langweilig – diese Ahnung der Amateure kann jeder Profi bestätigen. Mathematik ist aber, wie die Profis im selben Atemzug beteuern, auch interessant und schön. Interessant wird es dort, wo die Mathematik mit der Realität in Berührung kommt und anschaulich wird. Ein sehr großer Teil der Mathematik ist aus der Beschäftigung mit konkreten Problemen entstanden und an dieser Nahtstelle zwischen Geist und Natur wird sie greifbar. Etwa wenn sich die Orientierungsleistung von Tunesischen Wüstenameisen am besten als ein Operieren mit Vektoren begreifen lässt, oder wo das klügste Vorgehen im Glücksspiel Thema der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird. Schön ist die Mathematik an der Spitze der Pyramide, wo sie zu einer ästhetischen Erfahrung werden kann, wenn der mühevolle Aufstieg in Zahlentheorie, Topologie oder Algebra mit einer Ahnung von ewiger Wahrheit und Harmonie belohnt wird. Sie hat dort viel mit Inspiration und einem freien Spiel der Formen zu tun, die von alters her mit der sinnlichen Erfahrung von Schönheit assoziiert werden. Wenn das strenge Gerüst der mathematischen Begriffsbildung erst einmal gemeistert ist, bietet sich ein völlig anderes Bild. Es ist, als rage die Spitze der Pyramide aus einem Wolkenmeer unscharfer und unzusammenhängender Begriffe heraus.
Laien sind in der Mathematik gut beraten, sich nicht durch das Formelgestrüpp zu hauen, welches zwischen ihnen und den guten Gedanken an der Spitze der Pyramide wuchert, sondern zunächst auf den Stil und den Weg achten. Wie liest man also als Laie ein Buch über einen Mathematiker? In jeder Fachsprache finden sich Wendungen, die den Praktikern erst durch lange Übung so vertraut geworden sind wie dem Tänzer seine Schrittfolge. Wenn nun im vorliegenden Buch Begriffe und Passagen vorkommen, die undeutlich bleiben, bitte ich den Leser um die Nachsicht und den Mut, über das Schwierige zunächst hinwegzulesen und sich an die Essenz zu halten. Es geht hier nicht um exakte Definitionen, sondern um eine Reihe großartiger Ideen, die zum Wirkungsmächtigsten gehören, was das vergangene Jahrhundert zu bieten hatte. Das meiste von dem, was über die Schulmathematik hinausgeht, habe ich daher in Fußnoten verbannt, die mit dem Kürzel FfF, Fußnote für Fortgeschrittene, gekennzeichnet sind.
Eine zunächst oberflächliche Lektüre ist unter Mathematikern nicht ehrenrührig. Auch sie springen gerne, wenn sie eine Abhandlung lesen, über schwierig erscheinende Passagen hinweg. Zunächst lesen sie gewöhnlich nur die Sätze, die das Destillat der Überlegungen sind. Sie wissen zwar, dass oft nur die Begründung den Sinn eines Satzes klarmacht. Aber dennoch, erst wenn sie das Gefühl haben, es steckt eine gute Idee darin, vollziehen sie die Beweisketten nach. Nicht jeder Mathematiker ist fleißig und leidenswillig. Ihre Leser müssen es nicht anders halten.
Non omnis moriar
Horaz, Oden 3,30
2. Ungehaltener Nekrolog
David Hilberts Beerdigung muss als verunglückt gelten. Er war schon zum Zeitpunkt seines Todes unstreitig der bedeutendste Mathematiker seiner Zeit, also für sein Fach das, was Einstein für die Physik darstellte. Aber die Welt hatte, als er am 14. Februar 1943 starb, andere Sorgen. Das friedliche Dahinscheiden eines 81-jährigen Mathematikprofessors in Göttingen war ein entschieden undramatisches Ereignis in einer Zeit, in der ein jedes Leben in Europa und Asien jederzeit gewaltsam enden konnte. Die Trauergemeinde war überschaubar, sie bestand allenfalls aus einem Dutzend Personen, den letzten Relikten eines zehn Jahre zuvor untergegangenen goldenen Zeitalters.
Da Hilbert schon lange keiner Kirche mehr angehört hatte, fand die Zeremonie im Wohnzimmer im Erdgeschoss seines Hauses in der gutbürgerlichen Wilhelm-Weber-Straße statt. Der große Raum blickte in einen winterlichen Garten. Der angestaubten Einrichtung merkte man das Alter der Bewohner und die fortgeschrittene Erblindung der Hausfrau deutlich an.
Arnold Sommerfeld, neben Max Planck der Doyen der in Deutschland verbliebenen Physiker und mit 81 Nominierungen so oft wie kein anderer für den Nobelpreis vorgeschlagen, war aus München gekommen und hielt eine kurze, unbeholfene Ansprache auf den hohen Toten, die sich im Wesentlichen auf eine Aufzählung von dessen akademischen Leistungen beschränkte. Constantin Carathéodory, ein im Osmanischen Reich aufgewachsener Mathematiker, vielleicht der wichtigste von den in Deutschland verbliebenen, ließ sich entschuldigen, schickte aber einen kurzen Nachruf. Sein kurzer Text, ebenfalls kein großer Wurf, wurde unter Tränen verlesen und handelte immerhin am Rande von Hilberts Persönlichkeit.
Die Grabredner hatten einen verlässlichen Freund vom Schlage eines ostpreußischen Bauern verloren, zugleich aber auch den Mentor der gesamten mathematischen Naturwissenschaften. Über das Wichtigste im Lebenslauf des Toten konnte freilich kaum geredet werden. Das nämlich waren die endlosen Gespräche auf den immer gleichen Wanderungen, die Hilbert mit seinen Studenten, Assistenten und Kollegen unternommen hatte. Dabei war ein einzigartiges Netzwerk entstanden, in welchem Logik, Mathematik, Physik und Philosophie so eng wie nie zuvor miteinander verwoben waren. Die weitaus meisten von Hilberts Weggefährten mussten dabei (wenigstens in der schriftlichen Version der Grabreden) unerwähnt bleiben, denn viele von ihnen waren Juden oder Gegner des Nationalsozialismus und hatten Deutschland verlassen, so lange es noch möglich war. Wie aber sollte man über einen Sokrates reden, für den das Gespräch die wichtigste Quelle der Erkenntnis war, wenn man kein Wort über seine Dialogpartner verlieren durfte? Der Weg zum Grab wurde so zum Geisterzug, der eher aus Abwesenden als Anwesenden bestand. Die Trauernden blieben mit ihrem Gedanken an eine unaussprechliche und unwiederbringliche Vergangenheit allein. Sie waren sich ihrer eigenen Verlorenheit schmerzlich bewusst, und mancher mag etwas neidisch auf den Toten geblickt haben, der diese trostlose Zeit nun hinter sich hatte. Wären doch nur die Grabreden gelungen!2
Die Welt ging unterdessen in Flammen auf. Im Februar 1943 kapitulierten die Deutschen in Stalingrad. Die Engländer hatten im Seekrieg die Oberhand gewonnen, auf geheimnisvolle Weise, die aber durchaus mit der großen Göttinger Leiche zusammenhing, und versenkten nun ein deutsches U-Boot nach dem anderen. In Tunesien rieben sie die letzten italienischen Truppen auf. In Casablanca trafen sich Roosevelt und Churchill und legten die bedingungslose Kapitulation der Achsenmächte als Kriegsziel fest. Währenddessen rief in Deutschland Goebbels unter dem Jubel der Berliner im Sportpalast den Totalen Krieg aus und in München wurden die Geschwister Scholl durch das Fallbeil hingerichtet. Letzteres blieb auf Jahre hin das einzige wichtige Ereignis aus dem Universitätsleben in Deutschland.
Der Göttinger Friedhof lag auf der anderen Seite des Flusses. Für Hilberts letzten Weg passte die Trauergesellschaft in zwei Wagen. Am Grab verabschiedeten sich mit einer Handvoll Erde zuerst seine Witwe Käthe, die die letzte Ruhestätte nur noch schemenhaft, als dunkles Loch in der weißen Schneefläche wahrgenommen haben wird, und dann sein Sohn Franz, dessen gestörter Verstand der zweitgrößte Kummer in David Hilberts Leben gewesen war. Auf dem Grabstein sollten keine Lebensdaten, keine Orte, keine Zeiten stehen, nur sein Name und sein faustisches Lebensmotto: Wir müssen wissen, wir werden wissen.
Albert Einstein wären am Grab sicher ein paar brauchbare Sätze eingefallen. Zu seinem 70. Geburtstag hatte er Hilbert noch freundlich gratuliert, sprach von den »Stunden ungetrübt schönen Erlebens«, die er dem Kollegen verdanke.3 In der spannendsten Phase ihres Lebens waren sie miteinander in einem fast sportlichen Ringen um die Formulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie verbunden gewesen. Niemand war Einstein damals in Gedanken, aber auch in Taten näher gewesen als Hilbert. Beide hatten sich auf ihre eigene Weise an die alles entscheidenden Feldgleichungen herangetastet, auf dem Weg durch ihre eigenen Gedankenexperimente und Irrtümer. Im Juni 1915 reiste Einstein nach Göttingen, wohnte bei Hilbert, diskutierte mit ihm über Mathematik, Physik und den Weltfrieden und hielt tagsüber Vorlesungen an der Universität. Von dieser bemerkenswerten Konstellation hätte Einstein in seinem Nekrolog berichten können, von der Zusammenarbeit, der Konkurrenz und dem nachhaltigen Respekt, der daraus erwachsen war. Einstein erkannte in Hilbert einen der wenigen Menschen an, die aus demselben Holz geschnitzt waren und sich auf demselben Niveau bewegten wie er. Die Seelenverwandtschaft ging weit über das Fachliche hinaus, als sie 1918 gemeinsam einen Aufruf für den Frieden geplant hatten. Beide waren Pazifisten und verstanden das kriegsbegeisterte Europa nicht mehr. Die Frage einer Grabrede stellte sich nun aber nicht mehr, denn von Hilberts Tod erfuhr Einstein vermutlich erst Monate später. Er lebte seit 1932 in den USA und hegte inzwischen eine tiefe Abneigung gegen (fast) alle Deutschen und eigentlich alles, was mit Deutschland zu tun hatte.
Es gab durchaus Gedenkfeiern für Hilbert, aber meistens außerhalb Deutschlands und erst sehr viel später, als die Nachricht von seinem Tod langsam durch die Front gesickert war. In Princeton etwa, wo einige seiner prominentesten Schüler dem Institute for Advanced Study zu dem Ruhm verhalfen, den es bis heute hat. Dort, wie auch anderswo, war das Innehalten und Gedenken aber nur kurz, denn die meisten von denen, die in Göttingen ihr mathematisches Handwerkszeug in Hilberts Art und anhand seiner Weltsicht gelernt hatten, waren nun mit dem Krieg beschäftigt, mit der Entwicklung von Kommunikationstechnik, Kybernetik, Rechenmaschinen, Radar und der Atombombe. Dieser Krieg war in hohem Maße auch ein Krieg der Wissenschaftler, die einst alle an derselben Quelle gesessen hatten.
Unerwähnt blieb in den in Deutschland verfassten Nekrologen inbesondere – auf Grund seines jüdischen Glaubens – Hilberts bester Freund und Weggefährte, Hermann Minkowski, der einstmals einem staunenden Publikum verkündet hatte, die Welt müsse, als Konsequenz aus der Relativitätstheorie, in Zukunft nicht mehr in drei, sondern in vier Dimensionen begriffen werden. Unerwähnt blieb die brillante Emmy Noether, eine Expertin für besonders abstrakte Zusammenhänge, die aber als Frau und Jüdin mit Sympathien für den Sozialismus an der Göttinger Fakultät sowieso schon nicht leicht vermittelbar gewesen war und ihre Vorlesungen nur halten konnte, weil Hilbert hohen Respekt vor ihrer Arbeit und ein ausgeprägtes Vergnügen an der Beugung scheinbar eherner Regeln hatte.
Von einigen der Erwähnenswerten, soweit sie noch am Leben waren, wusste man ohnehin nicht so genau, wo und wie sie gerade beschäftigt waren. Aus Hilberts Gedankenwelt wurde im Krieg (der, wie man lange weiß, nicht nur zerstört, sondern auch beschleunigt) ein Nährboden für praktisch anwendbare Erfindungen (wie den Computer oder die Atombombe) und Konzepte (wie Kybernetik, Kommunikations- oder die Spieltheorie). Viele Mathematiker und theoretische Physiker begriffen schnell, dass sie den Ausgang dieses Krieges maßgeblich beeinflussen konnten, und so war unter ihnen bald von theoretischer Denkbarkeit keine Rede mehr, sondern eher von technischer Machbarkeit. Werner Heisenberg und Robert Oppenheimer, die in Göttingen in der Mitte der 20er Jahre bei Hilberts Schüler Max Born arbeiteten, lieferten sich ein Rennen, bei dem es nur einen Sieger geben konnte, indem sie das deutsche beziehungsweise amerikanische Atombombenprojekt leiteten. Oppenheimer hatte in Göttingen einige der wichtigsten Theoretiker für das Manhattan-Projekt kennengelernt, etwa Paul Dirac und Johann von Neumann. Neumann war in vieler Hinsicht Hilberts Meisterschüler, der die Mathematik hinter der plötzlich kriegswichtigen Atomphysik verstand wie kaum ein anderer. Er war auf amerikanischer Seite damit betraut, Lösungen für Differenzialgleichungen zu finden zur Berechnung von Schockwellen bei Detonationen und von Flugbahnen für Projektile. Da die Lösung solcher Gleichungen eine mühsame Angelegenheit war, im Kern aber geistlos und immer gleich, beschlossen amerikanische Mathematiker im April 1943, eine Maschine für diese Aufgabe zu bauen, einen Electronic Numerical Integrator and Computer (ENIAC). Neumann machte diese Maschine zu seinem Lieblingsprojekt, als er realisierte, dass sie sich prinzipiell für alle logischen Operationen eignete (womit sie zur Urmutter aller modernen Computer wurde). Bis es so weit war, mussten noch Kurt Gödels und Alan Turings Arbeiten in ihm gären. Diese waren zwar keine Hilbert-Schüler im engeren Sinne, aber sie hatten ihre Studentenzeit damit verbracht, sich an Hilberts Entscheidungsproblem abzuarbeiten und dabei, ohne es zu beabsichtigen, die gedankliche Grundlage des modernen Computers entwickelt. Auch sie hätten wohl einiges auf Hilberts Beerdigung zu sagen gehabt. Aber insbesondere Turing war nun ebenfalls unabkömmlich, denn er hatte den Code der deutschen Verschlüsselungsmaschine Enigma geknackt, was im Frühjahr 1943 zur vorläufigen Einstellung des deutschen U-Boot-Krieges führen sollte. Kurz, indem Hilberts direkte und indirekte Schüler Bomben und Rechenmaschinen erfanden, steckten sie über beide Ohren im Krieg, und so wurde seine Beerdigung zu einer traurigen kleinen Veranstaltung für alte Weggefährten.
Die angewandte Mathematik kann manchmal (und jedenfalls im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz) als Sprache der Physik und der Informationstechnologie die öffentliche Anerkennung für sich reklamieren. Aber die abstrakte Konstruktion aus Begriffen, Definitionen und Formeln, welche die reine Mathematik kennzeichnet, wirkt auf den Laien oft wie ein leeres Gefäß, dessen Schönheit und höherer Sinn nur für die Eingeweihten und Geübten offensichtlich ist. Wie die Künstler einer klassischen Periode produzieren reine Mathematiker Muster, die nach ästhetischen Kategorien wie Einfachheit, Symmetrie, Eleganz und Schönheit beurteilt werden wollen. Für sie kann auf die Dauer in dieser Welt kein Platz sein für hässliche Mathematik.4 Nun wäre es aber zu kurz gegriffen, die Mathematik nur als ein schönes Spiel zu beschreiben. Das mag sie im Kern wohl sein, aber ihre Schönheit ist immer die der Effizienz, denn eine schöne Formel zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen bestimmten Sachverhalt kurz und gut auf den Punkt bringt.
Mathematiker müssen also gleichermaßen einen Sinn für logische Effizienz und einen ästhetischen Blick für Einheit und Struktur mitbringen. Das gibt es nicht häufig, und die mathematische Denkweise bleibt den meisten Menschen ihr Leben lang fremd. So ergibt es sich, dass Mathematiker meistens unter sich bleiben, allenfalls noch mit Physikern Umgang pflegen. Und selbst wenn sie eine breitere Anerkennung finden, so wissen sie doch immer, dass ihr Ruhm nur geborgt ist und auf Erzählungen beruht, nicht auf eigenständigem Verstehen der zeitungslesenden Massen. Ihr Einfluss mag beträchtlich sein, sie mögen Nobelpreisträgern das Handwerkszeug geschaffen oder die Erfindung alltagstauglicher Geräte und Methoden ermöglicht haben, aber dennoch wissen sie, dass am Ende das Wie, Warum und Woher den meisten ihrer Zeitgenossen schleierhaft bleibt. All jene klugen Geister, deren Kunst darin besteht, logische Formen und Beziehungen aus dem eigenen Denken zu schöpfen, können in den seltensten Fällen mit allgemeiner Aufmerksamkeit rechnen. Sie leben getrennt vom Rest einer Gesellschaft, die nicht in Strukturen und Abstraktionen denkt, sondern in Tischen, Stühlen und Bierkrügen.
Ein zurückgezogenes Leben ist den meisten mathematischen Köpfen vorbestimmt und angemessen, auch wenn sie es selbst oft nicht so empfinden. Offensichtlich wird dies bei der Beerdigung, einem gleichermaßen öffentlichen wie intimen Moment, der bei Mathematikern nur sehr selten zum Ereignis wird. Sie werden fast nie unter Fanfarenstößen beerdigt, denn sie waren im Besitz einer Wahrheit, die für die meisten Menschen weder interessant noch zugänglich ist. Physiker, obwohl sie oft mit nichts anderem als Mathematik beschäftigt sind, können die Phantasie anregen durch das Versprechen, den schwarzen Glanz des bestirnten Himmels über uns zu erklären. Mathematiker hingegen sind keine öffentlichen Intellektuellen, sie bedeuten nur ihren eigenen engen Kreisen etwas. Sie sind meist bescheiden und zurückhaltend, ohne dass ihr Selbstbewusstsein darunter leidet. Darin sind sie wie ein idealer Beamter, bei dem Amt und Person sauber voneinander getrennt sind: Der Mensch muss austauschbar sein, sonst dient er nicht der Sache. Mathematiker betrachten ihre geistige Leistung als das Wesentliche und die Person, auch die eigene, spielt nur in Krisenzeiten eine Rolle. Das Werk des Mathematikers muss für sich selbst bestehen können, unabhängig von den historischen Umständen seiner Entstehung. Die Person ist, wie bei einem guten Kunstwerk, zweitrangig. Einstein etwa wusste das und obwohl er ein sehr öffentlicher Mensch war, der Aufmerksamkeit zu erregen und zu nutzen verstand, empfand er seine eigene Beerdigung als eine überflüssige Ablenkung und verfügte, die Asche in einem Wald zu verstreuen und ganz ohne Erinnerungsort zu bleiben. Auch David Hilbert wird, davon können wir ausgehen, das Format seiner Beerdigung herzlich egal gewesen sein. Wie es einer grauen Eminenz gebührte, verschwand er still, unbemerkt, geleitet von einem grauen Zug, in dem die Abwesenden die Wichtigsten waren. Staub zu Staub.