Kitabı oku: «1984 - Neunzehnhundertvierundachtzig», sayfa 5

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Syme hatte sich mittlerweile einen Papierstreifen hergestellt, auf dem sich eine lange Liste von Worten befand, und studierte sie nun, mit einem Tintenstift zwischen den Fingern.

„Sieh’ ihn nur an, wie er sogar in der Mittagspause arbeitet!“, sagte Parsons und stupste Winston an. „Toll, was? Was macht er da, Kumpel? Etwas, das ein wenig zu hoch für mich ist, nehme ich an. Smith, alter Junge, ich sage dir, weshalb ich hinter dir her bin: Es ist der Beitrag, den du vergessen hast, mir zu geben.“

„Welches Abo ist es denn?“, fragte Winston und fühlte in seiner Tasche automatisch nach etwas Geld. Ungefähr ein Viertel des Gehalts mussten für freiwillige Mitgliedschaften reserviert werden, die allerdings so zahlreich waren, dass es schwierig war, über alle den Überblick zu behalten.

„Für die Hasswoche. Du weißt schon: dieser ‚Für-Unser-Haus-Fonds’. Ich bin Schatzmeister für unseren Block. Wir geben uns jede Mühe, eine gewaltige Show zu bieten. Ich sage dir, es wird nicht an mir liegen, wenn das alte Victory-Gebäude nicht den großartigsten Fahnenschmuck der ganzen Straße haben wird. Zwei Dollar hast du mir versprochen.“

Winston fand zwei zerknitterte und schmutzige Banknoten, die er Parsons gab, und dieser trug die Summe in ein kleines Notizbuch ein, in der sauberen Handschrift des funktionalen Analphabeten.

„Übrigens, Kumpel“, sagte er. „Ich habe gehört, dass mein Sohn, dieser Verrückte, gestern mit seinem Katapult auf dich geballert hat, als du bei mir warst. Ich habe ihm dafür eine kleine Abreibung verpasst. Ich habe ihm sogar gesagt, dass ich ihm das Ding wegnehmen werde, wenn das so weitergeht.“

„Ich denke, er war nur ein wenig wütend, weil er nicht zu der Hinrichtung durfte“, beschwichtigte Winston.

„Er zeigt die richtige Haltung, nicht wahr? Durchtriebene kleine Biester sind sie, alle beide, aber unheimlich clever! Alles, an was die beiden denken, sind die Spione. Und natürlich der Krieg. Weißt du, was meine Kleine letzten Sonnabend gemacht hat, als ihre Truppe auf einer Wanderung war, außerhalb von Berkhamsted? Sie nahm zwei andere Mädels mit, und gemeinsam entfernten sie sich von der Gruppe und verbrachten den ganzen Nachmittag damit, einem fremden Mann zu folgen. Sie blieben ihm zwei Stunden lang auf den Fersen, mitten durch den Wald, und dann, als sie nach Amersham kamen, übergaben sie ihn den Patrouillen.“

„Wie kamen sie denn darauf?“, wollte Winston etwas verwundert wissen.

Parsons erklärte mit Triumph in der Stimme: „Mein kleines Mädchen vergewisserte sich, dass er eine Art feindlicher Agent war. Vielleicht war er mit dem Fallschirm abgesprungen. Und das ist nun das Entscheidende, mein alter Kumpel: Was, glaubst du, hat sie darauf gebracht? Sie bemerkte, dass er seltsame Schuhe trug; sie sagte, sie habe noch nie jemanden gesehen, der solch komische Schuhe anhatte. Die Chancen standen also gut, dass er ein Ausländer war. Ziemlich clever für eine kleine siebenjährige Zicke, was?“

„Was geschah mit dem Mann?“, fragte Winston.

„Ah, das kann ich natürlich nicht sagen. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn...“ Parsons zielte wie mit einem Gewehr und schnalzte mit der Zunge, um das Schussgeräusch zu imitieren.

„Sehr schön“, sagte Syme abwesend, ohne von seinem Stück Papier aufzusehen.

„Selbstverständlich können wir es uns nicht leisten, Risiken einzugehen“, stimmte Winston pflichtbewusst zu.

„Das meine ich: Wir haben schließlich Krieg“, bekräftigte Parsons.

Wie zur Bestätigung erklang ein Trompetensignal aus dem Teleschirm unmittelbar über ihren Köpfen. Diesmal handelte es sich jedoch nicht um die Proklamation eines militärischen Sieges, sondern lediglich um eine Ankündigung des Ministeriums des Überflusses.

„Genossen!“, rief eine eifrige jugendliche Stimme. „Achtung, Genossen! Wir haben ruhmreiche Neuigkeiten für alle: Wir haben die Schlacht um die Produktion gewonnen! Die Auswertung aller Kennziffern für die Produktion von Konsumgütern ist nun abgeschlossen und hat ergeben, dass unser Lebensstandard im vergangenen Jahr um nicht weniger als zwanzig Prozent gestiegen ist. In ganz Ozeanien gab es heute Morgen unbändige spontane Demonstrationen, als Arbeiter aus Fabriken und Büros herausmarschierten, um durch die Straßen zu ziehen und auf Transparenten die unermessliche Dankbarkeit der Bevölkerung Ozeaniens gegenüber Big Brother auszudrücken: für das Geschenk seiner weisen Führung, die uns unser neues, glückliches Leben erst ermöglicht hat. Hier sind einige der vollständigen Kennziffern: Lebensmittel...“

Die Wendung „unser neues, glückliches Leben“ tauchte mehrmals auf. In letzter Zeit hatte das Ministerium des Überflusses bevorzugt zu dieser Phrase gegriffen. Parsons, gebannt durch den Trompetenruf, saß und lauschte mit einer Art dümmlicher Feierlichkeit, wie mit erbauter Langeweile. Er konnte den Zahlen nicht folgen, aber er war sich bewusst, dass sie in gewisser Weise ein Grund zur Zufriedenheit waren. Er hatte eine riesige, dreckige Pfeife herausgekramt, die bereits halb voll mit verkohltem Tabak war. Bei einer Ration von hundert Gramm pro Woche war es selten möglich, eine Pfeife bis oben hin zu füllen. Winston rauchte eine Victory-Zigarette, die er sorgfältig waagerecht hielt. Die neue Ration gab es erst morgen, und er hatte bis dahin nur noch vier Stück. Für den Moment hatte er seine Ohren vor den Geräuschen der Umgebung verschlossen und lauschte dem Zeug, das aus dem Teleschirm drang. Es schien sogar Demonstrationen gegeben zu haben, um Big Brother für die Anhebung der Schokoladenration auf zwanzig Gramm pro Woche zu danken. Und doch, so überlegte Winston, war erst gestern bekannt gegeben worden, dass die Zuteilung auf zwanzig Gramm pro Woche REDUZIERT werden sollte. War es möglich, dass sie das einfach hinnahmen, nach nur vierundzwanzig Stunden? Ja, sie schluckten es. Parsons schluckte es leicht, mit der Dummheit eines Tieres. Die augenlose Kreatur am anderen Tisch schluckte es fanatisch, leidenschaftlich; mit dem wütenden Wunsch, jeden aufzuspüren, zu denunzieren und vaporisiert zu wissen, der es wagen sollte, daran zu erinnern, dass letzte Woche die Ration noch dreißig Gramm betragen hatte. Und auch Syme – in einer mehr komplexen Art und Weise, bei der Doppeldenk im Spiel war – Syme schluckte es auch. Und Winston fragte sich, wieder einmal: War er selbst in diesem ganzen Wahnsinn denn der EINZIGE mit einem noch funktionierenden Erinnerungsvermögen?

Die fabelhaften Statistiken strömten weiterhin nur so aus dem Teleschirm: Im Vergleich zum letzten Jahr gab es mehr Lebensmittel, mehr Kleidung, mehr Häuser, mehr Möbel, mehr Kochtöpfe, mehr Treibstoff, mehr Schiffe, mehr Hubschrauber, mehr Bücher, mehr Babys – mehr von allem außer Krankheit, Kriminalität und Wahnsinn. Jahr für Jahr und Minute für Minute bewegten sich alles und jeder immer schneller nach oben, immer weiter aufwärts. Wie schon Syme zuvor hatte Winston den Löffel genommen, spielte damit in der auf der Tischplatte verteilten blassen grauen Soße herum, formte sie zu einem Muster und meditierte dabei über die physische Beschaffenheit des Lebens: War es schon immer so gewesen? Hatte Nahrung schon immer so geschmeckt? Winston sah sich in der Kantine um: ein niedriger, überfüllter Raum, die Wände verdreckt von der ständigen Berührung mit unzähligen menschlichen Körpern; abgeranzte Metalltische und -stühle, so nah beieinander aufgestellt, dass diejenigen, die darauf saßen, mit den Ellenbogen zusammenstießen; verbogene Löffel, verbeulte Tabletts, klobige weiße Becher; alle Oberflächen fettig; Schmutz in jedem Kratzer – und über alldem ein säuerlich vermischter Geruch aus miesem Gin und schlechtem Kaffee, metallisch schmeckendem Eintopf und dreckiger Kleidung. Das alles verursachte ein Gefühl im Magen und unter der Haut, um etwas betrogen worden zu sein, auf das es doch ein verdammtes Recht geben musste. Allerdings wusste Winston nicht, was genau das sein sollte, denn so weit er zurückdenken konnte, hatte es nie genug zu essen gegeben; die Socken und die Unterwäsche waren voller Löcher, die Möbel ramponiert und klapprig, die Räume ständig schlecht beheizt, die U-Bahnen überfüllt, die Häuser zerfallen, das Brot dunkel, echter Tee eine Rarität, der Kaffee von widerlichem Geschmack, die Zigaretten stets zu knapp; nichts war billig und reichlich vorhanden – außer synthetischem Gin. Und obwohl bei alldem sicher auch die zunehmende Alterung des Körpers dazu beitragen mochte, dass es im Laufe der Jahre nicht einfacher wurde, so verließ Winston doch niemals die dumpfe Ahnung, dass es trotzdem NICHT die natürliche Ordnung der Dinge war, wenn das Herz krankte an der Unbequemlichkeit und dem Mangel und dem allgegenwärtigen Dreck; an den endlosen Wintern, der Klebrigkeit der Socken, den nie funktionierenden Aufzügen, dem kalten Wasser, der körnigen Seife, den Zigaretten, aus denen der Tabak zu Boden fiel; dem Essen mit seinem seltsam ekelhaften Geschmack. Wieso nur, fragte sich Winston also immer wieder, kam ihm das alles denn hier so unerträglich vor, wenn er doch keine Erinnerung mehr an die längst vergangenen Zeiten hatte, in denen es vielleicht einmal anders gewesen sein mochte? Weshalb nur erschien ihm diese Welt denn so unglaublich schrecklich?

Er blickte sich noch einmal in der Kantine um: Beinahe alle hier waren hässlich und würden es auch immer noch sein, wenn sie anders als in blaue Overalls gekleidet wären. Auf der anderen Seite des Raums, allein an einem Tisch, saß ein kleiner, wie ein Käfer aussehender Mann, trank seinen Becher Kaffee und warf dabei mit kleinen Augen verdächtige Blicke nach allen Seiten. Solange sich nur niemand um sich herum genau genug umsah, dachte Winston, war es zwar einfach zu glauben, dass der von der Partei zum Ideal erhobene Menschentyp – hoch gewachsene, muskulöse Jünglinge und großbrüstige Jungfrauen; blonde Haare, vital, sonnenverbrannt, sorglos – tatsächlich existierte und sogar überwiegend verbreitet wäre. Tatsächlich aber, soweit Winston das beurteilen konnte, war die Mehrheit der Menschen in Flugfeld Eins eher klein, dunkel und unansehnlich. Es war merkwürdig, dass ausgerechnet jenes käferähnliche Aussehen bei denjenigen überwog, die in den Ministerien arbeiteten: kleine, pummelige Männer, schon sehr früh im Leben eher gedrungen wachsend, mit kurzen Beinen, schnellen, geradezu krabbelnden Bewegungen und dicken und undurchschaubaren Gesichtern mit sehr kleinen Augen. Es war die Art von Mensch, die unter der Herrschaft der Partei am besten gedieh.

Die Mitteilung des Ministeriums des Überflusses endete mit einem weiteren Trompetensignal und wich einer blechernen Musik.

Parsons, durch das Bombardement von Zahlen zu einer Art unbestimmter Begeisterung angeregt, nahm seine Pfeife aus dem Mund. „Das Ministerium des Überflusses hat in diesem Jahr sicherlich gute Arbeit geleistet“, sagte er mit einem wissenden Kopfnicken. „Und wenn wir schon dabei sind: Smith, alter Kumpel, ich nehme an, du hast auch keine Rasierklingen mehr, die du mir überlassen könntest?“

„Nicht eine. Ich benutze meine schon seit sechs Wochen.“

„Na, klar – dachte nur, ich frag’ dich mal.“

„Tut mir leid“, sagte Winston.

Die schnatternde Stimme vom Nebentisch, die während der Mitteilungen des Ministeriums verstummt gewesen war, kam wieder in Gang, so laut wie eh und je. Aus unerfindlichem Grund dachte Winston plötzlich an Frau Parsons, mit ihrem wuscheligen Haar und dem Staub in ihren Gesichtsfalten: Innerhalb von zwei Jahren würden ihre Kinder sie bei der Gedankenpolizei denunzieren. Frau Parsons würde vaporisiert werden. Syme würde vaporisiert werden. Er selbst würde vaporisiert werden. O’Brien würde vaporisiert werden. Parsons hingegen würde niemals vaporisiert werden. Die augenlose Kreatur mit der quäkenden Stimme würde niemals vaporisiert werden. Die kleinen, käferartigen Männer, die so flink durch die labyrinthischen Korridore der Ministerien huschten, würden auch niemals vaporisiert werden. Und das Mädchen mit dem dunklem Haar, das Mädchen aus der Belletristikabteilung – sie würde sicher erst recht nicht vaporisiert werden. Es schien Winston auf einmal, als ob er instinktiv wüsste, wer überleben und wer sterben würde; obwohl nicht leicht zu sagen war, was ein solches Überleben genau bedeuten sollte.

Da wurde er plötzlich aus seiner Träumerei herausgerissen: Das Mädchen am Nebentisch hatte sich teilweise umgedreht und sah herüber. Es war das Mädchen mit dem dunklen Haar. Sie blickte Winston nur kurz von der Seite an, mit einer seltsamen Intensität, und wandte sich dann schnell wieder um.

Winston begann zu schwitzen, und ein Gefühl der Furcht erfasste ihn. Es verging fast sofort wieder, doch blieb eine Art nagenden Unbehagens zurück: Weshalb hatte das Mädchen ihn beobachtet? Folgte sie ihm? Wann genau hatte sie sich hingesetzt? Schon vor ihm? Erst hinterher? Er wusste es nicht mehr. Gestern aber, während des Zwei-Minuten-Hasses, daran erinnerte er sich jedenfalls noch sehr deutlich, hatte sie unmittelbar hinter ihm gesessen, obwohl das nicht unbedingt notwendig gewesen wäre. Wahrscheinlich hatte sie also vorgehabt, ihm zuzuhören und sich zu vergewissern, dass er auch laut genug brüllte.

Ein Gedanke, den er schon einmal gehabt hatte, kam Winston wieder in den Sinn: Wahrscheinlich war das Mädchen zwar nicht bei der Gedankenpolizei, aber anscheinend eine Amateurspionin, und die waren die größte Gefahr von allen. Er wusste nicht, wie lange sie ihn bereits beobachtet hatte, vielleicht waren es nur fünf Minuten gewesen, doch das konnte bereits genügen, wenn es ihm in dieser Zeit nicht gelungen war, seine Gesichtszüge vollständig unter Kontrolle zu halten. Es war schrecklich: An einem öffentlichen Ort oder in Reichweite eines Teleschirms die Gedanken abschweifen zu lassen, war verdammt gefährlich. Schon die kleinste Sache genügte, um jemanden zu erledigen: ein nervöses Zucken, ein unbewusster Blick der Angst, eine Gewohnheit des Murmelns zu sich selbst; einfach alles, was andeuten konnte, nicht normal zu sein, etwas zu verbergen zu haben. Jedenfalls war bereits ein unangemessener Gesichtsausdruck (etwa, ungläubig erstaunt auszusehen, wenn ein Sieg verkündet wurde) eine Straftat. Es gab sogar ein Wort dafür auf Neusprech: UNGESICHT.

Das Mädchen hatte sich wieder von Winston abgewandt. Vielleicht verfolgte sie ihn ja doch nicht; vielleicht war es nur zufällig geschehen, dass sie zwei Tage hintereinander in seiner Nähe gesessen hatte. Seine Zigarette war ausgegangen, und er legte sie vorsichtig auf die Tischkante. Er würde sie nach der Arbeit zu Ende rauchen, wenn es ihm gelänge, den Tabak darin zu behalten. Sehr wahrscheinlich war die Person am nächsten Tisch eine Spionin der Gedankenpolizei, und sehr wahrscheinlich würde er in spätestens drei Tagen in den Kellern des Ministeriums der Liebe landen, aber eine halbe Zigarette durfte trotzdem nicht verschwendet werden.

Syme hatte seinen Papierstreifen zusammengefaltet und in der Tasche verstaut.

Parsons begann wieder zu sprechen: „Hab’ ich dir jemals davon erzählt, alter Junge“, sagte er zu Winston und gluckste fröhlich mit dem Pfeifenstiel im Mund, „wie meine beiden kleinen Nervensägen den Rock einer alten Marktfrau angezündet haben, weil sie gesehen hatten, wie sie Würste in ein Plakat mit dem Bild von BB einwickelte? Schlichen sich von hinten mit einer Streichholzschachtel an die Alte heran. Hat sich ziemlich schlimm verbrannt, glaube ich. Kleine Verbrecher, was? Aber scharf wie Senf! Das ist eine erstklassige Ausbildung, die sie heutzutage bei den Spionen erhalten; sogar noch besser als zu meiner Zeit. Was, glaubst du, haben sie mir zuletzt vorgeführt? Ohrtrompeten zum Hören durch Schlüssellöcher! Mein kleines Mädchen hat neulich so ein Ding mit nach Hause gebracht und ausprobiert und meinte dann, sie könne doppelt so viel hören wie sonst. Natürlich ist es nur ein Spielzeug, wohlgemerkt. Trotzdem gibt es ihnen eine richtige Vorstellung von der Sache, oder?“

In diesem Moment ertönte aus dem Teleschirm ein durchdringendes Pfeifen. Das war das Signal, zur Arbeit zurückzukehren. Alle drei Männer sprangen auf, um sich an dem Kampf um die Aufzüge zu beteiligen – und der restliche Tabak fiel aus Winstons Zigarette.

VI

Winston schrieb in sein Tagebuch:

Es ist drei Jahre her. Es war an einem dunklen Abend, in einer schmalen Seitenstraße, in der Nähe eines der großen Bahnhöfe. Die Frau stand in einem Hauseingang, unter einer Straßenlaterne, die kaum Licht gab. Sie hatte ein junges Gesicht, sehr dick bemalt. Es war in Wahrheit die Farbe, die mich ansprach, das Weiß, wie eine Maske, und die leuchtend roten Lippen. Parteifrauen malen sich nie ihr Gesicht an. Es war sonst niemand auf der Straße, und es gab keine Teleschirme. Die Frau sagte: Zwei Dollar! Ich...

Kurz konnte Winston nicht weiterschreiben. Er schloss die Augen, presste seine Finger dagegen und versuchte, die immer wiederkehrende Vision herauszudrücken. Er war kaum in der Lage, der Versuchung zu widerstehen, eine Reihe schmutziger Worte herauszubrüllen. Oder seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, den Tisch umzutreten und das Tintenfass durch das Fenster zu schleudern – etwas Gewalttätiges, Lärmendes oder Schmerzhaftes zu tun, das die Erinnerung, die ihn quälte, verschwinden ließe.

Der schlimmste Feind, so wurde Winston wieder einmal klar, war immer das eigene Nervensystem. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt konnte die innere Anspannung sich in ein sichtbares Symptom verwandeln. Winston dachte an einen Mann, an dem er vor ein paar Wochen auf der Straße vorbeigegangen war: ein ganz gewöhnlich aussehender Mann, ein Parteimitglied, fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt, groß und dünn, mit einer Aktentasche. Sie waren ein paar Meter voneinander entfernt gewesen, als sich die linke Gesichtshälfte des Mannes plötzlich wie in einer Art von Krampf verzerrte. Es geschah noch einmal, gerade als sie aneinander vorbeigingen. Es war nur ein Zucken, ein Zittern, schnell wie das Klicken eines Kameraverschlusses, aber offensichtlich immer wieder vorkommend. Winston erinnerte sich, wie er gedacht hatte: „Der ist erledigt.“ Und das Erschreckende daran war, dass dem armen Kerl das offensichtlich unbewusst geschah, ohne dass er es selbst bemerkte. Die tödlichste Gefahr von allen war das Sprechen im Schlaf. Denn es gab, soweit das erkennbar war, keinerlei Möglichkeit, sich davor zu schützen.

Winston atmete tief ein und schrieb weiter:

Ich ging mit ihr durch die Tür und über einen Hinterhof in eine Küche im Keller. Dort stand ein Bett an der Wand, und die Lampe auf dem Tisch war heruntergedreht. Die Frau...

Winston war nervös. Am liebsten hätte er ausgespuckt. Er dachte gleichzeitig an die Frau in der Kellerküche und an Katharine, seine Ehefrau. Winston war verheiratet; jedenfalls war er verheiratet gewesen, und wahrscheinlich war er auch noch, denn soweit er wusste, war seine Frau noch nicht tot. Es kam ihm vor, als atmete er wieder den warmen, stickige Geruch des Kellers; einen Geruch, zusammengesetzt aus Ungeziefer und schmutziger Kleidung und abscheulich billigem Parfum, aber dennoch verlockend, weil keine Frau der Partei jemals Parfum benutzte oder auch nur vorstellbar war, dass sie es täte. Nur die Prolls benutzten Parfum. In Winstons Vorstellung war dieser Geruch untrennbar mit verbotener Unzucht verbunden.

Mit dieser Frau mitzugehen, war sein erster Ausrutscher seit etwa zwei Jahren gewesen. Selbstverständlich war es verboten, mit Prostituierten etwas zu tun zu haben, aber es war eine dieser Regeln, die gelegentlich gebrochen werden durften. Es war gefährlich, aber es ging nicht um Leben und Tod. Mit einer Prostituierten erwischt zu werden, konnte fünf Jahre in einem Zwangsarbeitslager bedeuten, nicht mehr, wenn kein anderes Vergehen hinzukam. Und es war nur wichtig zu vermeiden, auf frischer Tat ertappt zu werden. In den ärmeren Vierteln wimmelte es von Frauen, die bereit waren, sich zu verkaufen. Einige waren sogar schon für eine Flasche Gin zu haben, den die Prolls nicht trinken durften. Stillschweigend war die Partei sogar geneigt, die Prostitution als Ventil für Instinkte zu fördern, die nicht ganz unterdrückt werden konnten. Bloße Ausschweifung war nicht so bedeutend, solange alles heimlich und freudlos geschah und lediglich die Frauen einer untergeordneten und verachteten Klasse betraf. Das unverzeihliche Verbrechen war Promiskuität unter Parteimitgliedern. Doch war es – obwohl dies stets unter den Vergehen gewesen war, welche die Angeklagten in den großen Säuberungen immer wieder gestanden hatten – nur schwer vorstellbar, dass so etwas tatsächlich geschehen könnte.

Das Ziel der Partei war nicht nur, Männer und Frauen daran zu hindern, Loyalitäten zu entwickeln, die möglicherweise nicht kontrollierbar waren. Es ging vielmehr darum, auch wenn das nie offiziell zugegeben wurde, jegliche Freude an der Sexualität auszurotten. Nicht so sehr die Liebe als vielmehr die Erotik war der Feind, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ehe. Alle Eheschließungen zwischen Parteimitgliedern mussten von einem für diesen Zweck eigens ernannten Ausschuss genehmigt werden, und eine Erlaubnis – obwohl das offiziell nie so geäußert wurde – kam keinesfalls in Frage, wenn das betroffene Paar den Eindruck machte, sich körperlich zueinander hingezogen zu fühlen. Einzig anerkannter Zweck der Ehe war es, Kinder zu zeugen für den Dienst an der Partei. Der Geschlechtsverkehr war als geringfügiger und ein wenig ekelhafter medizinischer Eingriff anzusehen, wie etwa, einen Einlauf verpasst zu bekommen. Dies wiederum wurde zwar nie in deutlichen Worten erklärt, aber auf indirekte Weise jedem Parteimitglied von Kindheit an eingebleut. Es gab sogar Organisationen, die den vollständigen Zölibat für beide Geschlechter forderten, wie die Jugend-Anti-Sex-Liga Alle Kinder sollten am besten durch künstliche Befruchtung (KUNSTKIND nannte es sich auf Neusprech) gezeugt und in öffentlichen Einrichtungen aufgezogen werden. Dies, Winston war sich dessen bewusst, war zwar nicht vollkommen ernstgemeint, deckte sich aber dennoch mit der allgemeinen Ideologie der Partei, die versuchte, den Geschlechtstrieb abzutöten oder ihn wenigstens, wenn er schon nicht auszurotten war, zu verzerren und zu beschmutzen, so weit es nur ging. Winston wusste nicht, weshalb das so war, doch es schien ihm selbstverständlich, dass es so sein sollte. Und was die Frauen betraf, so waren die Bemühungen der Partei auch weitgehend erfolgreich.

Er dachte wieder an Katharine. Es musste neun, zehn, beinahe elf Jahre her sein, dass sie sich getrennt hatten. Es war merkwürdig, wie selten er an sie dachte. Tagelang konnte er vergessen, dass er jemals verheiratet gewesen war. Sie waren auch nur etwa fünfzehn Monate zusammen gewesen. Die Partei gestattete zwar keine Scheidung, förderte allerdings die Trennung in Fällen, in denen aus der Ehe keine Kinder hervorgingen.

Katharine war ein großes, blondes Mädchen gewesen, sehr gerade, mit schönen Bewegungen. Sie hatte ein kühnes Gesicht wie ein Greifvogel; ein Gesicht, das vielleicht sogar edel hätte genannt werden können, bis sich herausstellte, dass dahinter Leere herrschte. Sehr früh in seinem Eheleben hatte Winston festgestellt –vielleicht deshalb, weil er Katherine besser kannte als die meisten anderen Leute – dass sie den dümmsten, vulgärsten und leersten Verstand hatte, den es geben konnte: Sie hatte keinen einzigen Gedanken im Kopf, der nicht ein Slogan war, und es gab keinen Schwachsinn, absolut keinen, den sie nicht fähig war zu schlucken, wenn die Partei ihn von sich gegeben hatte. Und so hatte Winston seine Ehefrau heimlich bald nur noch „die menschliche Tonspur“ genannt.

Dennoch hätte er sein Eheleben ertragen können, wenn es da nicht noch diese eine Sache gegeben hätte: Sex.

Sobald er Katherine berührte, schien sie vor ihm zurückzuweichen und sich zu versteifen. Sie zu umarmen, war beinahe so, wie sich einer Holzpuppe körperlich nähern zu wollen. Und besonders seltsam erschien es Winston, dass er selbst dann, wenn Katherine ihn an sich zog, das Gefühl hatte, dass sie ihn gleichzeitig mit all ihrer Kraft wegstieße. Die Starrheit ihrer Muskeln vermittelte diesen Eindruck. Sie lag mit geschlossenen Augen da und leistete weder Widerstand, noch zeigte sie Initiative, sondern es war nichts weiter als UNTERWERFUNG. Es war außerordentlich peinlich, und nach einer Weile war es schrecklich. Aber selbst unter diesen Umständen hätte Winston es ertragen können, weiterhin mit Katherine zu leben, wenn sie einfach beide dazu bereit gewesen wären, dann eben auf Sex gänzlich zu verzichten. Doch seltsamerweise war es Katharine, die dies ablehnte. Sie müssten, so sagte sie, ein Kind produzieren, wenn sie könnten. Also fand, mit schöner Regelmäßigkeit, einmal in der Woche, die grausliche Vorstellung weiterhin statt, wann immer es nicht unmöglich war. Sie erinnerte ihn sogar morgens daran, was an diesem Abend getan werden musste und nicht vergessen werden durfte. Sie hatte zwei Bezeichnungen dafür: Der eine lautete „ein Baby machen“, der andere „unsere Pflicht für die Partei erfüllen“ (ja, diesen Ausdruck hatte sie tatsächlich benutzt). Ziemlich bald bekam Winston jedes Mal Angstzustände, wenn der verabredete Tag näher rückte. Aber zum Glück entstand bei alldem kein Kind, und so willigte Katharine am Ende darin ein, den Versuch aufzugeben, eins zu zeugen, und bald darauf trennten sie sich.

Winston seufzte unhörbar. Er nahm den Stift wieder in die Hand und schrieb:

Die Frau warf sich auf das Bett und auf einmal, ohne jede Art von Ankündigung und auf eine unglaublich grobe, kaum vorstellbar schreckliche Art zog sie ihr Kleid hoch. Ich...

Er sah sich dort im schwachen Lampenlicht stehen, mit dem Geruch von Ungeziefer und billigem Parfum in der Nase und in seinem Herzen ein Gefühl der Niederlage und von Abneigung, die sich schon zu diesem Zeitpunkt mit dem Gedanken an Katharines weißen Körper vermischte, der für immer erstarrt war durch die hypnotisierende Kraft der Partei. Und Winston fragte sich: Weshalb musste es immer so sein? Weshalb konnte er nicht eine Frau für sich allein haben anstatt dieser schmutzigen Rammeleien in Abständen von mehreren Jahren? Aber eine echte Liebesbeziehung war eine fast undenkbare Sache: Die Frauen der Partei waren alle gleich, und Keuschheit war in ihnen ebenso tief verwurzelt wie Parteitreue. Durch sorgfältige frühe Konditionierung, durch Spiele und kaltes Wasser, durch den Müll, der ihnen in der Schule und bei den Spionen und in der Jugendliga eingetrichtert wurde; durch Vorträge, Paraden, Lieder, Parolen und Militärmusik war das natürliche Gefühl aus ihnen vertrieben worden. Winston wusste, dass es schon aus Gründen der Wahrscheinlichkeit einfach Ausnahmen geben musste, aber sein Herz war nicht mehr in der Lage, das zu glauben. Sie waren alle so uneinnehmbar, wie die Partei beabsichtigte, dass sie es sein sollten. Und was er wollte, sogar noch mehr, als geliebt zu werden, war es, diese Mauer der Tugend niederzureißen, und wenn es nur ein einziges Mal in seinem ganzen Leben sein sollte. Der sexuelle Akt, erfolgreich ausgeführt, war eine Rebellion. Begehren war Gedankenverbrechen. Selbst die eigene Ehefrau aufgeweckt zu haben, wenn er es hätte schaffen können, wäre eine verbotene, strafbare Verführung gewesen.

Aber das Ende der Geschichte musste nun noch niedergeschrieben werden. Also fuhr Winston fort:

Ich drehte das Licht auf. Als ich sie ansah...

Nach der vorher herrschenden Dunkelheit war ihm das schwache Licht der Paraffinlampe sehr hell erschienen. Zum ersten Mal konnte er die Frau richtig sehen. Er war weiter auf sie zugegangen und dann stehengeblieben, voller Geilheit und Angst. Ihm wurde schmerzlich das Risiko bewusst, das er eingegangen war, als er hierhergekommen war. Es war durchaus möglich, dass die Patrouillen ihn erwischen würden. Sie könnten sogar gerade jetzt vor der Tür auf ihn warten. Sogar dann, wenn er wegginge, ohne das zu tun, weshalb er hierhergekommen war...

Es musste nun aufgeschrieben und gestanden werden: Im Schein der Lampe hatte er gesehen, dass die Frau ALT gewesen war. Die Farbe auf ihrem Gesicht war so dick aufgetragen, dass es aussah, als könnte es wie eine Pappmaske zerspringen. Ihr Haar war voller weißer Strähnen, aber das wahrhaft schreckliche Detail war, dass sich ihr Mund ein wenig geöffnet hatte und nichts außer einer höhlenartigen Schwärze enthielt: Sie hatte überhaupt keine Zähne mehr.

Winston schrieb gehetzt weiter, in krakeliger Handschrift:

Als ich sie ansah, erkannte ich, dass sie eine sehr alte Frau war, mindestens fünfzig. Aber ich machte weiter und tat es trotzdem.

Er drückte seine Finger wieder gegen seine Augenlider. Endlich hatte er es aufgeschrieben, aber es machte keinen Unterschied: Die Therapie hatte nicht funktioniert. Der Drang, sinnlos schmutzige Worte hinauszubrüllen, war so stark wie eh und je.