Kitabı oku: «1984 - Neunzehnhundertvierundachtzig», sayfa 6
VII
Winston schrieb:
Wenn es eine Hoffnung gibt, dann liegt sie in den Prolls.
Wenn es Hoffnung gab, MUSSTE sie in den Prolls liegen, denn nur dort, in jener wimmelnden, missachteten Masse, die fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung Ozeaniens ausmachte, konnte die Kraft zur Zerstörung der Partei jemals entstehen, denn von innen war es nicht möglich, sie zu stürzen. Ihre Feinde, wenn sie denn überhaupt Feinde hatte, waren nicht in der Lage, sich zusammenzutun, ja nicht einmal fähig, sich gegenseitig zu erkennen. Selbst wenn die legendäre Bruderschaft existierte, was ja durchaus möglich war, so war es dennoch unvorstellbar, dass sich jemals mehr als zwei oder drei ihrer Mitglieder unentdeckt zusammenfinden könnten. Rebellion bedeutete einen Blick in die Augen, eine Veränderung der Stimmlage, höchstens ein gelegentlich geflüstertes Wort. Aber die Prolls, wenn sie sich nur auf die eine oder andere Weise ihrer eigenen Stärke bewusst würden, hätten keinerlei Verschwörung nötig. Sie bräuchten nur aufzustehen und sich zu schütteln wie ein Pferd, das Fliegen wegwedelt. Wenn sie es wollten, könnten sie die Partei morgen früh in Stücke reißen. Sicherlich musste ihnen doch früher oder später der Gedanke kommen, es zu tun? Und dann..!
Winston erinnerte sich daran, wie er einmal eine belebte Straße hinuntergegangen war, als aus einer nicht weit entfernten Seitenstraße ein lauter Schrei aus Hunderten weiblicher Kehlen ertönt war. Es war ein gewaltiger Ruf der Wut und Verzweiflung gewesen, ein tiefes, lautes „Oooooh“, das wie der Nachhall einer Glocke weiterklang. Sein Herz hatte einen Sprung gemacht. Er hatte gedacht, nun ginge es los: Ein Aufruhr! Die Prolls! Endlich! Als er dann jene Stelle erreicht hatte, von welcher der Lärm gekommen war, hatte er einen Mob von etwa zwei- bis dreihundert Weibern vorgefunden, die sich um die Stände eines Straßenmarktes drängten, mit Gesichtern, die so traurig aussahen wie die von todgeweihten Passagieren eines sinkenden Schiffs. Doch da zerfiel die allgemeine Verzweiflung in eine Vielzahl von einzelnen Auseinandersetzungen: Es stellte sich heraus, dass an einem der Stände Blechkasserollen verkauft worden waren. Es waren erbärmliche, kaum haltbare Dinger, aber Küchengeräte jeglicher Art waren immer schwer zu bekommen. Und nun war der Vorrat auf einmal erschöpft. Die Frauen, die noch eine Kasserolle ergattert hatten, wurden von den anderen, die nicht so erfolgreich gewesen waren, gestoßen und angerempelt und versuchten also, sich mit ihrer Beute aus dem Staub zu machen, während Dutzende andere den Stand weiter belagerten, den Verkäufer anschrien, ihm Günstlingswirtschaft vorwarfen und auch, dass er noch heimlich weitere Töpfe in Reserve hätte. Dann gab es einen erneuten Ausbruch von Schreien: Zwei dicke Weiber, eins von ihnen mit wirrem Haar, hatten dieselbe Kasserolle in die Hände bekommen und versuchten, sie sich gegenseitig aus den Händen zu reißen. Einen Moment lang zogen sie beide daran, und dann – fiel der Griff ab. Winston hatte das alles zunehmend angewidert beobachtet. Und doch: Was für eine beinahe beängstigende Kraft hatte, wenn auch nur für kurze Zeit, in diesem Gebrüll aus nur ein paar Hundert Kehlen gelegen! Weshalb nur konnten die Prolls nie so laut schreien, wenn es um etwas Wichtiges ging?
Er schrieb weiter:
Solange sie nicht zu Bewusstsein kommen, werden sie nie rebellieren, und solange sie nicht rebelliert haben werden, können sie nicht zu Bewusstsein kommen.
Das, so überlegte er, könnte fast eine Abschrift aus einem der Lehrbücher der Partei sein, die selbstverständlich für sich in Anspruch nahm, die Prolls aus der Knechtschaft befreit zu haben. Vor der Revolution waren sie auf schreckliche Weise von den Kapitalisten unterdrückt, ausgehungert und ausgepeitscht, die Kinder schon im Alter von sechs Jahren in die Fabriken verkauft und die Frauen dazu gezwungen worden, in den Kohlebergwerken zu arbeiten (Frauen arbeiteten nach wie vor in den Kohlebergwerken, das war eine Tatsache). Aber gleichzeitig, getreu den Prinzipien von Doppeldenk, lehrte die Partei, dass die Prolls natürliche Unterlegene waren, die durch die Anwendung einiger weniger einfacher Regeln in Unterordnung zu halten waren wie Tiere. In Wahrheit wusste die Partei auch nicht sehr viel über die Prolls und musste es auch nicht wissen: Solange sie weiter arbeiteten und sich vermehrten, war das, was sie taten, ohne jede Bedeutung. Sich selbst überlassen wie das Vieh im argentinischen Grasland, waren sie zu einem Lebensstil zurückgekehrt, der zu ihnen auf eine natürliche Art zu gehören schien wie ein angestammtes Muster aus uralter Zeit: Sie wurden geboren, wuchsen in der Gosse auf, begannen mit zwölf zu arbeiten, hatten eine kurze Blütezeit der Schönheit und des sexuellen Verlangens, heirateten mit zwanzig, waren mit dreißig im mittleren Alter und starben größtenteils mit sechzig. Schwere körperliche Arbeit, Haushalt und Kinder, unbedeutende Streitigkeiten mit den Nachbarn, Filme, Fußball, Bier und vor allem Glücksspiel füllten den Horizont ihres Geistes völlig aus. Sie unter Kontrolle zu halten, war nicht schwer: Einige wenige Agenten der Gedankenpolizei bewegten sich in der Masse, um falsche Gerüchte zu verbreiten und die wenigen Individuen zu identifizieren und zu eliminieren, bei denen die Gefahr bestand, dass sie hätten gefährlich werden können, aber es wurde keinerlei Versuch unternommen, die Prolls mit der Ideologie der Partei zu indoktrinieren. Es war nicht wünschenswert, dass sie starke politische Gefühle hatten. Alles, was von ihnen verlangt wurde, war ein primitiver Patriotismus, an den es möglich war, stets dann zu appellieren, wenn es notwendig wurde, sie dazu zu bringen, längere Arbeitszeiten zu akzeptieren oder gekürzte Rationen. Und selbst dann, wenn sie unzufrieden wurden, wie es manchmal vorkam, führte ihre Unzufriedenheit zu nichts, weil sie keine grundlegende Vorstellungen hatten und so ihren Unmut nur auf eng umgrenzte Probleme richten konnten. Die größeren Übel entgingen ausnahmslos ihrer Aufmerksamkeit. Die überwiegende Mehrheit der Prolls hatte nicht einmal einen Teleschirm zuhause. Und auch die Patrouillen hatten wenig mit ihnen zu tun: In London gab es zwar eine riesige Menge an Kriminalität, einen ganzen Staat im Staate von Dieben, Banditen, Prostituierten, Drogenhändlern und Gaunern jeder Art, aber da sich das alles nur unter den Prolls selbst abspielte, war es unwichtig für die Partei. In allen Fragen der Moral war es ihnen gestattet, ihrem angestammten Kodex zu folgen. Der sexuelle Puritanismus der Partei wurde ihnen nicht aufgezwungen: Promiskuität blieb straflos, Scheidung war erlaubt. Was das anging, wäre ihnen sogar Gottesdienste gestattet worden, wenn die Prolls denn gezeigt hätten, dass sie dergleichen wünschten. Sie waren jenseits jeden Verdachts der Häresie; wie die Parole der Partei es ausdrückte: Prolls und Tiere sind frei.
Winston kratzte vorsichtig an seinem Krampfadergeschwür. Es hatte wieder zu jucken begonnen. Das, was ihn immer wieder beschäftigte, war die Unmöglichkeit zu wissen, wie das Leben vor der Revolution tatsächlich ausgesehen hatte. Er nahm aus der Schublade ein Geschichtslehrbuch für Kinder, das er von Frau Parsons ausgeliehen hatte, und begann, einen Auszug daraus in das Tagebuch zu übertragen:
In den alten Tagen, vor der glorreichen Revolution, war London nicht die schöne Stadt, die wir heute kennen. Es war ein dunkler, schmutziger, elender Ort, an dem kaum jemand genug zu essen hatte, und Hunderte und Tausende von armen Menschen hatten keine Stiefel an den Füßen und nicht einmal ein Dach, um darunter zu schlafen. Kinder, die nicht älter waren als du, mussten zwölf Stunden am Tag für grausame Meister schuften, die sie auspeitschten, wenn sie zu langsam arbeiteten, und ihnen nichts weiter an Nahrung gaben als Wasser und harte Brotkrusten. Aber mitten in dieser schrecklichen Armut gab es ein paar große, schöne Häuser, in denen reiche Männer wohnten, die von bis zu dreißig Lakaien bedient wurden. Diese reichen Männer wurden Kapitalisten genannt. Sie waren fette, hässliche Männer mit bösen Gesichtern, wie der auf dem Bild auf der gegenüberliegenden Seite. Dort kannst du sehen, dass er einen langen schwarzen Mantel trägt, der Gehrock genannt wurde, und einen seltsamen, glänzenden Hut in Form eines Ofenrohrs, der Zylinder hieß. Dies war die Uniform der Kapitalisten, und niemand sonst durfte sie tragen. Den Kapitalisten gehörte alles in der Welt, und alle anderen waren ihre Sklaven. Den Kapitalisten gehörten das ganze Land, alle Häuser, all die Fabriken und das ganze Geld. Wenn jemand ihnen nicht gehorchte, konnten sie ihn ins Gefängnis werfen oder ihm seine Arbeit wegnehmen und ihn verhungern lassen. Wenn ein gewöhnlicher Mensch mit einem Kapitalisten sprach, musste er sich vor ihm ducken und verbeugen, die Mütze abnehmen und ihn mit SIR ansprechen. Der Häuptling aller Kapitalisten hieß König, und...
Winston brach ab, weil er den Rest kannte: Erwähnung finden würden die Bischöfe in ihren gepufften Ärmeln, die Richter in ihren Hermelingewändern, der Pranger, die Aktien, die Tretmühle, die Neunschwänzige Katze, das Bankett des Oberbürgermeisters und die Praxis, den Zeh des Papstes zu küssen. Es gab auch etwas mit dem Namen IUS PRIMAE NOCTIS, das wahrscheinlich nicht in einem Lehrbuch für Kinder genannt werden würde: Es war das Gesetz, nach dem jeder Kapitalist das Recht hatte, mit jeder Frau zu schlafen, die in einer seiner Fabriken arbeitete.
Wie aber war es möglich zu erkennen, was davon Wahrheit und was Lüge war? Es KÖNNTE ja durchaus richtig sein, dass der Durchschnittsmensch jetzt besser dran war als vor der Revolution. Der einzige Beweis für das Gegenteil waren der stumme Protest in den eigenen Knochen und das instinktive Gefühl, unter unerträglichen Bedingungen zu leben; dass zu einem anderen Zeitpunkt etwas anders gewesen sein musste. Winston fiel auf, dass das Charakteristische am modernen Leben nicht dessen Grausamkeit und Unsicherheit war, sondern einfach seine Nacktheit, seine Schäbigkeit, seine Teilnahmslosigkeit. Das Leben hatte genau betrachtet nicht nur keinerlei Ähnlichkeit mit all den Lügen, die aus den Teleschirmen strömten, sondern auch nicht mit all den Vorstellungen, welche die Partei umzusetzen versuchte. Große Bereiche dieses Lebens, selbst für Parteimitglieder, waren neutral und unpolitisch: das bloße Absitzen der Zeit an tristen Arbeitsplätzen, der Kampf um einen Platz in der U-Bahn, das Stopfen einer abgetragenen Socke, das Schnorren einer Saccharintablette, das Aufbewahren eines Zigarettenstummels. Das von der Partei hochgehaltene Ideal war etwas Großes, Schreckliches und Glitzerndes: eine Welt aus Stahl und Beton; von monströsen Maschinen und furchterregenden Waffen; eine Nation von Kriegern und Fanatikern, die in vollkommener Einheit vorwärts marschierten, alle die gleichen Gedanken hatten und die gleichen Parolen brüllten; fortwährend arbeiteten, kämpften, triumphierten und Abweichler verfolgten; dreihundert Millionen Menschen, alle mit dem gleichen Gesicht. Die Realität hingegen bestand aus zerfallenden, schmutzigen Städten, in denen unterernährte Menschen in undichten Schuhen hin und her schlurften, zwischen zusammengeflickten Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert, die nach Kohl und schlechten Toiletten rochen. Winston schien eine Vision von London zu sehen: riesig und verkommen, eine Stadt, bestehend aus einer Million Mülltonnen, und mit diesem Bild vermischt erschien ihm Frau Parsons: eine Frau mit zerfurchtem Gesicht und fusseligem Haar, die hilflos an einem verstopften Abflussrohr herumhantierte.
Winston kratzte sich erneut am Knöchel. Tag und Nacht füllten die Teleschirme die Ohren der Zuhörer mit Statistiken, die beweisen, dass die Menschen heute mehr Nahrung, schönere Kleidung, bessere Häuser, ausgedehntere Freizeitmöglichkeiten hatten; sie länger lebten, weniger arbeiteten, größer, gesünder und stärker, glücklicher, intelligenter und besser ausgebildet waren als die Menschen vor fünfzig Jahren. Kein einziges Wort davon konnte jemals bewiesen oder widerlegt werden. So behauptete die Partei, dass heutzutage vierzig Prozent der erwachsenen Prolls lesen und schreiben konnten, und vor der Revolution, so hieß es, habe diese Quote nur bei fünfzehn Prozent gelegen. Die Partei behauptete auch, dass die Säuglingssterblichkeit nur noch bei einhundertsechzig pro tausend läge, während es vor der Revolution dreihundert gewesen wären; und immer so weiter. Es war wie eine unlösbare Gleichung mit zwei Unbekannten: Buchstäblich sämtliche Schilderungen in den Geschichtsbüchern konnten nur reine Erfindung oder aber die vollständige Wahrheit sein. Nach allem, was Winston selbst wusste, hatte es zwar niemals ein Gesetz wie das IUS PRIMAE NOCTIS gegeben oder eine Kreatur wie einen Kapitalisten oder ein Kleidungsstück wie einen Zylinderhut, aber das bedeutete ja nicht, dass es nicht doch so gewesen sein könnte.
Alles verschwamm im Nebel. Die Vergangenheit war ausgelöscht und die Auslöschung vergessen worden; die Lüge wurde zur Wahrheit. Nur einmal in seinem bisherigen Leben hatte Winston – NACHDEM die Fälschung vorgenommen worden war, und das allein war dabei von Bedeutung – etwa dreißig Sekunden lang einen konkreten, unmissverständlichen Beweis für eine Veränderung der Vergangenheit in den Händen gehalten. 1973 musste es gewesen sein, jedenfalls ungefähr zu der Zeit, als er und Katharine sich getrennt hatten, aber das relevante Datum lag noch sieben oder acht Jahre weiter zurück.
Die Geschichte begann Mitte der 1960er, in der Zeit der großen Säuberungen, bei denen die ursprünglichen Führer der Revolution ein für alle Mal beseitigt worden waren. 1970 war keiner von ihnen mehr übrig, außer Big Brother selbst. Alle anderen waren zu diesem Zeitpunkt bereits als Verräter und Konterrevolutionäre entlarvt worden. Goldstein war geflohen und versteckte sich, niemand wusste, an welchem Ort, und von den anderen waren ein paar einfach verschwunden, während die Mehrheit nach spektakulären öffentlichen Prozessen hingerichtet worden war, bei denen sie ihre Verbrechen gestanden hatten. Unter den letzten Überlebenden waren drei Männer gewesen namens Jones, Aaronson und Rutherford. Es musste 1965 gewesen sein, dass diese drei verhaftet worden waren. Wie so oft blieben sie für ein Jahr oder länger verschwunden, und es war nicht bekannt, ob sie noch lebten oder bereits tot waren. Dann tauchten sie plötzlich wieder auf, um sich auf die übliche Weise selbst zu belasten: Sie hatten geheimdienstliche Tätigkeit für den Feind gestanden (zu diesem Zeitpunkt war der Feind ebenso wie heute Eurasien gewesen), Veruntreuung öffentlicher Gelder, Ermordung verschiedener loyaler Parteimitglieder, Intrigen gegen die Führung von Big Brother, die lange vor der Revolution begonnen, und Sabotageakte, die zum Tod von Hunderttausenden Menschen geführt hatten. Nach dem Geständnis dieser Taten wurden die drei begnadigt und wieder in die Partei aufgenommen und auf machtlose, aber wichtig klingende Pöstchen gesetzt. Alle drei hatten lange, unterwürfige Artikel in der Times geschrieben, in denen sie die Gründe für ihre Abtrünnigkeit dargelegt und das Versprechen abgegeben hatten, Wiedergutmachung zu leisten.
Einige Zeit nach ihrer Freilassung hatte Winston tatsächlich alle drei im Café Kastanienbaum gesehen. Er erinnerte sich an die Art von erschreckender Faszination, mit der er sie aus den Augenwinkeln betrachtet hatte: Sie waren Männer, weitaus älter als er selbst, Relikte einer vergangenen Welt; fast die letzten großen Gestalten, die aus den heroischen Tagen der Partei noch übrig waren. Der verblassende Glanz des Kampfs im Untergrund und des Bürgerkriegs umschwebte sie noch immer. Winston hatte das Gefühl, obwohl schon damals die Fakten und Daten verschwammen, dass er ihre Namen schon Jahre früher gehört hatte als den von Big Brother. Aber auch sie waren nun Gesetzlose, Feinde, Unberührbare; mit absoluter Sicherheit innerhalb von ein oder zwei Jahren der Auslöschung geweiht. Niemand, der einmal in die Fänge der Gedankenpolizei geraten war, konnte am Ende jemals entkommen. Sie waren Leichen, die nur darauf warteten, ins Grab zurückgeschickt zu werden.
Niemand saß an einem der Tische in ihrer Nähe. Es war äußerst unklug, gemeinsam mit solchen Leuten gesehen zu werden. Sie hockten still vor Gläsern voller mit Nelken aromatisiertem Gin, der die Spezialität des Cafés war. Von den dreien war es Rutherford, dessen Aussehen Winston am meisten beeindruckt hatte: Rutherford war einst ein berühmter Karikaturist gewesen, dessen brutale Zeichnungen dazu beigetragen hatten, die öffentliche Meinung vor und während der Revolution für die Sache der Partei zu entflammen. Auch jetzt noch erschienen seine Karikaturen in großen Abständen in der Times. Sie waren aber einfach nur noch eine Imitation seiner früheren Kunst und dabei eigenartig leblos und wenig überzeugend. In ihnen wurden stets nur noch alte Themen aufgewärmt: Slum-Wohnungen, hungernde Kinder, Straßenschlachten, Kapitalisten in Zylindern – selbst auf den Barrikaden schienen die Kapitalisten immer noch an ihren Zylindern zu hängen – und waren ein endloses, hoffnungsloses Bemühen, in die Vergangenheit zurückzukehren. Er war ein monströser Mann, mit einer Mähne aus fettig grauem Haar, sein Gesicht zerfurcht, mit Hamsterbacken und auffälligen Lippen. Früher musste er ungeheuer stark gewesen sein, doch jetzt hing sein großer Körper nur noch herab, sich schief in alle Richtungen wölbend und gleichermaßen zerbröckelnd wie ein Berg, der langsam auseinanderfällt.
Es war die einsame Stunde um 15-00. Winston konnte sich jetzt nicht mehr daran erinnern, wie er in das zu dieser Zeit sonst fast leere Café gekommen war. Eine blecherne Musik tönte aus den Teleschirmen. Die drei Männer saßen fast regungslos in ihrer Ecke und sprachen nicht. Unaufgefordert brachte der Kellner neuen Gin. Daneben stand ein Schachbrett auf dem Tisch, auf dem die Figuren aufgestellt waren, aber nie wurde ein Spiel angefangen. Und dann, vielleicht eine halbe Minute lang, geschah etwas mit den Teleschirmen: Sie spielten etwas vollkommen anderes, und auch die Tonlage der Musik veränderte sich. Es war kaum zu beschreiben: ein eigenartiges, gebrochenes, wie höhnisch kicherndes Liedchen; Winston nannte es in Gedanken eine gelbe Melodie. Und dann sang eine Stimme:
Einst unter dem großen Kastanienbaum
verkauft’ ich deinen und du meinen Traum.
Sie dort, wir hier, sah‘n wir uns beide kaum,
einst unter dem großen Kastanienbaum.
Die drei Männer bewegten sich nicht. Doch als Winston erneut auf Rutherfords zerstörtes Gesicht blickte, sah er, dass dessen Augen voller Tränen waren. Und zum ersten Mal bemerkte er mit einer Art innerem Schaudern und ohne zu wissen, WAS genau ihn daran so erschreckte, dass sowohl Aaronson als auch Rutherford gebrochene Nasen hatten.
Wenig später wurden alle drei erneut verhaftet. Es hatte den Anschein, dass sie vom Augenblick ihrer Freilassung an bereits wieder neue Verschwörungen ausgeheckt hatten. Bei ihrem zweiten Prozess gestanden die drei dann auch alle ihre alten Verbrechen noch einmal und eine ganze Reihe neue. Die drei wurden hingerichtet und ihr Schicksal in den Annalen der Partei festgehalten als eine Warnung an die Nachwelt. Ungefähr fünf Jahre später hatte Winston gerade ein Bündel Dokumente ausgerollt, die aus der Rohrpost auf seinen Schreibtisch gefallen waren, als er auf ein kleines Stück Papier stieß, das offensichtlich unter die anderen geraten und dann dort vergessen worden war. Als er es flachgedrückt hatte, erkannte er sofort die Bedeutung dieses Papiers: Es war eine halbe Seite, die etwa zehn Jahre zuvor aus der Times herausgerissen worden war – die obere Hälfte, mit der Datumsangabe –, und es war ein Foto der Delegierten einer Parteifeier in New York darauf zu sehen. Hervorstechend in der Mitte der Gruppe waren Jones, Aaronson und Rutherford abgebildet. Sie waren nicht zu verwechseln und außerdem standen deutlich ihre Namen in der Bildunterschrift.
Das Entscheidende daran aber war: In beiden Prozessen hatten alle drei Männer gestanden, dass sie sich genau an jenem Tag auf eurasischem Boden befunden hätten. Sie wären von einem geheimen Flugplatz von Kanada aus zu einem Treffen in Sibirien geflogen und hätten sich mit Mitgliedern des Eurasischen Generalstabs getroffen und an diesen wichtige militärische Geheimnisse verraten. Das Datum war in Winstons Gedächtnis haften geblieben, weil es der Sommeranfang gewesen war; aber die ganze Geschichte musste auch an anderen unzähligen anderen Stellen aufgezeichnet worden sein. So gab es nur eine mögliche Schlussfolgerung: Die Geständnisse waren Lügen.
Selbstverständlich war dies für sich genommen noch keine großartige Entdeckung. Schon vorher hatte Winston sich nicht vorstellen können, dass die Menschen, die bei den Säuberungen ausgelöscht wurden, die ihnen vorgeworfenen Verbrechen tatsächlich begangen hatten. Aber dies hier war etwas anderes: ein konkreter Beweis; es war ein Fragment der verschwundenen Vergangenheit, wie ein fossiler Knochen, der in der falschen Ablagerungsschicht auftaucht und damit eine geologische Theorie zerstört. Dieses kleine Stück Papier genügte, um die Partei in ihre Atome zu zerlegen, wenn es, wie auch immer, veröffentlicht und der Welt sein Inhalt hätte bekanntgemacht werden können.
Winston hatte sich sofort wieder seiner Arbeit zugewandt. Sobald er gesehen hatte, was auf dem Foto zu sehen war, und auch verstanden hatte, was es bedeutete, hatte er es mit einem weiteren Blatt Papier zugedeckt. Zum Glück hatte das Bild, als er das Stück Zeitung ausgerollt hatte, aus Sicht des Teleschirms auf dem Kopf gestanden.
Winston nahm seinen Notizblock auf die Knie und schob seinen Stuhl etwas zurück, um sich so weit wie möglich vom Teleschirm zu entfernen: Ein ausdrucksloses Gesicht zu behalten, war nicht schwer, und mit der nötigen Anstrengung war es auch möglich, den Atem zu kontrollieren, nicht aber den Herzschlag, und der Teleschirm war wahrscheinlich empfindlich genug, auch dieses Geräusch erkennen zu können. Winston ließ seiner Einschätzung nach etwa zehn Minuten vergehen, die ganze Zeit gequält von der Befürchtung, dass ein unvorhergesehenes Ereignis – etwa eine plötzliche Luftbewegung, welche die Papiere aufgedeckt hätte – ihn verraten könnte. Dann, ohne es wieder umzudrehen, ließ er das Foto im Erinnerungsloch verschwinden, zusammen mit einigem anderen Abfall. Innerhalb einer Minute würde es zu Asche zerfallen sein.
Das war zehn oder elf Jahre her. Heute hätte er das Foto wahrscheinlich aufbewahrt. Es war merkwürdig, dass ihm die Tatsache, es in den Fingern gehalten zu haben, selbst jetzt noch einen Unterschied zu machen schien, obwohl doch die Aufnahme selbst wie auch das Ereignis, das sie dokumentiert hatte, längst nur noch Erinnerung waren. War der Einfluss der Partei auf die Vergangenheit weniger stark, fragte er sich, weil ein Beweisstück, das nun nicht mehr existierte, einmal existiert HATTE?
Allerdings wäre das Foto jetzt, selbst einmal unterstellt, dass es aus Asche wiederhergestellt werden könnte, vielleicht nicht einmal mehr ein Beweismittel: Schon zu der Zeit, als Winston seine Entdeckung gemacht hatte, befand sich Ozeanien bereits nicht mehr im Krieg mit Eurasien, und es mussten nun also Agenten Ostasiens gewesen sein, an welche die drei toten Männer ihr Land verraten hatten. Seitdem hatte es weitere Veränderungen gegeben; zwei, drei, er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wie viele es gewesen waren. Sehr wahrscheinlich waren die Geständnisse also umgeschrieben und wieder und wieder umgeschrieben worden, bis die ursprünglichen Fakten und Daten nicht mehr die geringste Bedeutung hatten. Die Vergangenheit hatte sich nicht einfach nur verändert, sondern war kontinuierlich umgewandelt worden. Am meisten peinigte ihn allerdings an alldem wie eine geradezu alptraumhafte Empfindung, dass er nie völlig verstanden hatte, aus welchem Grund dieser riesige Aufwand an Lüge und Vertuschung überhaupt betrieben wurde. Die unmittelbaren Vorteile einer Verfälschung der Vergangenheit lagen zwar auf der Hand, aber das letztendliche Motiv blieb undurchschaubar. Winston nahm den Federhalter wieder in die Hand und schrieb:
Ich verstehe, WIE. Aber ich verstehe nicht, WESHALB.
Er fragte sich, wie schon unzählige Male zuvor, ob er ein Wahnsinniger wäre. Vielleicht war ein Wahnsinniger ja auch nur eine Minderheit, die lediglich aus einem einzigen bestand. Einst war es ein Zeichen von Wahnsinn gewesen zu glauben, dass die Erde sich um die Sonne drehte; heute bestand der Irrsinn eben darin zu glauben, dass die Vergangenheit unveränderlich war. Vielleicht war er ALLEIN mit diesem Glauben, und wenn er allein war, dann war er ein Wahnsinniger. Aber der Gedanke, ein Wahnsinniger zu sein, beunruhigte ihn nicht sonderlich, denn das wahrhaft Furchtbare dabei war, dass er sich auch irren konnte.
Er nahm das Geschichtsbuch für Kinder wieder in die Hand und betrachtete das Bild von Big Brother darauf: Die hypnotisierenden Augen blickten in seine eigenen. Es war, als würde eine gewaltige Kraft auf Winston einwirken – eine Kraft, die in der Lage war, in seinen Schädel einzudringen, gegen das Bewusstsein zu kämpfen, mit Gewalt und Schrecken die Überzeugungen daraus zu vertreiben und die Beweiskraft der Sinne zu erschüttern; deren Wahrnehmung zu leugnen. Zum Schluss würde die Partei noch verkünden, dass zwei und zwei fünf ergäben, und es gäbe dann keinen Ausweg mehr, als auch das noch zu glauben. Es war sogar unvermeidlich, dass sie früher oder später diese Behauptung aufstellen würde: Die Logik ihrer Position verlangte es. Nicht so sehr die Gültigkeit der Erfahrung, sondern überhaupt die Existenz einer äußeren Realität wurde von ihrer Philosophie stillschweigend geleugnet. Die Ketzerei aller Ketzereien war gesunder Menschenverstand; war die Annahme, dass etwas außerhalb der eigenen Wahrnehmung und unabhängig davon existieren könnte. Und das Schlimmste daran war nicht etwa, dass die Partei jeden töten würde, der etwas anderes dachte, sondern vielmehr, dass sie damit recht haben könnte: Wie können wir wissen, dass zwei und zwei vier sind? Oder dass die Schwerkraft wirkt? Oder dass die Vergangenheit unveränderlich ist? Wenn sowohl die Vergangenheit als auch die äußere Welt nur innerhalb unseres Verstandes existieren und der Verstand aber vollständig kontrollierbar ist, was dann?
Aber nein! Winston fühlte plötzlich wieder eine Art von innerer Stärke. Das Gesicht O’Briens, von keiner offensichtlichen Assoziation hervorgerufen, war ihm in den Sinn gekommen. Er wusste mit mehr Sicherheit als zuvor, dass O’Brien auf seiner Seite war. Er schrieb das Tagebuch für O’Brien – AN O’Brien; es war wie ein endloser Brief, den niemand jemals lesen würde, der aber an eine bestimmte Person adressiert war und durch diese Tatsache seine Bedeutung erhielt.
Die Partei verlangte von jedem, die Beweiskraft der eigenen Wahrnehmung zu leugnen. DAS war ihr erstes und letztes und wichtigstes Gebot. Winstons Mut sank wieder, als er sich die enorme Macht vorstellte, die sich gegen ihn richtete; die Leichtigkeit, mit der beliebige Parteiintellektuelle imstande wären, ihn in einer Debatte zu übertölpeln; er dachte an die subtilen Argumente, die er nicht verstehen, geschweige denn widerlegen könnte. Und doch hatte er recht! Sie hatten unrecht, und er hatte recht! Das Offensichtliche, das Verrückte und das Wahre mussten verteidigt werden. Wahrheiten sind wahr, nur das zählt! Die materielle, feste Welt existierte, ihre Gesetze änderten sich nicht: Steine sind hart, Wasser ist nass, Objekte fallen zum Erdmittelpunkt hin. Mit dem Gefühl, dass er mit O’Brien sprach, und auch mit der Überzeugung, ein wichtiges Axiom weiterzugeben, schrieb Winston:
Freiheit bedeutet, sagen zu können, dass zwei plus zwei vier ergibt. Wenn das sicher ist, dann folgt alles andere von selbst.
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