Consuelo hatte zu viel Verstand und zu viel Adel des Geistes, um sich nicht zu sagen, dass Albert’s Liebe von den beiden, welche ihr dargebracht wurden, bei weitem, ja ohne alle Vergleichung die wahrste, edelste und schätzenswerteste sei. Und als sie Albert und Anzoleto neben einander sah, glaubte sie schon über ihren Feind gesiegt zu haben. Albert’s tiefer Blick, der ihr bis in das Innerste der Seele zu dringen schien, und der lange, kräftige Druck seiner biederen Hand ließen sie erkennen, dass er den Ausgang ihrer Unterredung mit dem alten Christian wusste, und ihrer Entscheidung still ergeben und dankbar harrte.
Wirklich hatte Albert mehr erlangt als er gehofft und Consuelo’s Schwanken war ihm süß gegen das gehalten, was er gefürchtet hatte, so niedergeschlagen war er, als er sah wie geckenhaft sich Anzoleto benahm. Dieser hatte sich mit aller seiner Entschlossenheit gewaffnet. Halb erratend, was hinter seinem Rücken geschah, hatte er sich vorgenommen, jeden Fußbreit Boden zu verteidigen, und sollte man ihn bei den Schultern zum Hause hinausstoßen. Seine freche Haltung, sein spöttischer Blick widerten Consuelo an, und als er dreist auf sie zuging, um ihr die Hand zu reichen, wendete sie sich hinweg und nahm die Hand, die Albert ihr bot, um sie zu Tische zu führen.
Wie gewöhnlich setzte sich der junge Graf Consuelo gegenüber und der alte Christian ließ sie an seiner Linken sitzen, an Amaliens früherem Platze, den sie seitdem immer eingenommen hatte. Aber statt des Kaplans der zur Linken Consuelo’s zu sitzen pflegte, nötigte das Stiftsfräulein den vorgeblichen Bruder sich zwischen sie beide zu setzen, sodass Anzoleto’s bittere Witzeleien halblaut gesprochen zu Consuelo’s Ohre gelangen und seine gottlosen Schnaken den alten Priester ärgern konnten worauf er es eben abgesehen hatte.
Anzoleto’s Plan war sehr einfach. Er wollte sich denen in der Familie, welche, wie er vermutete, der Heirat abgeneigt wären, verhasst und unerträglich machen, um ihnen durch seine Ungezogenheit und Gemeinheit den schlechtesten Begriff von Consuelo’s Anhang und Verwandtschaft beizubringen.
– Wir wollen einmal sehen, dachte er, ob sie den Bruder, den ich ihnen vorreiten will, verdauen werden.
Anzoleto war zwar ein unreifer Sänger und in tragischen Rollen ein höchst mittelmäßiger Schauspieler, aber er hatte eine gute Anlage zur Komik. Er hatte schon genug von der Welt gesehen, um die feinen Sitten und die Sprache der gebildeten Gesellschaft nachahmen zu können, aber durch die Anwendung dieser Fertigkeit würde er das Stiftsfräulein wahrscheinlich mit der niedrigen Herkunft der Braut eher ausgesöhnt haben; er entschied sich daher für das entgegengesetzte Genre und benahm sich umso geschickter dabei, als es ihm natürlicher war.
Er hatte sich überzeugt, dass Wenceslawa ungeachtet sie hartnäckig dabei blieb, nur Deutsch, die Sprache des Hofes und aller wohldenkenden Untertanen zu sprechen, doch kein Wort von dem verlor, was er auf Italienisch sagte. Er fing also an, in die Kreuz und Quere zu schwatzen und dem guten Ungarwein fleißig zuzusprechen, vor dem er sich nicht fürchtete, denn er war längst an die berauschendsten Getränke gewöhnt, tat aber, als ob er die erhitzende Wirkung des schweren Weines fühlte, um den Berauschten spielen zu können.
Sein Plan glückte ihm ganz nach Wunsch. Der alte Graf der zuerst nachsichtig über seine schlechten Späße gelacht hatte, konnte bald nur noch gezwungen lächeln und musste alle seine Höflichkeit als Wirt und sein ganzes väterliches Wohlwollen zusammennehmen, um nicht den vorlauten künftigen Schwager seines edlen Sohns in die geziemenden Schranken zu verweisen.
Der Kaplan sprang mehrmals entrüstet halb von seinem Stuhle auf und murmelte deutsche Worte zwischen den Zähnen, die fast wie Exorcismen klangen. Die Mahlzeit wurde ihm hässlich verdorben, und seiner Tage hatte er nicht so schlecht verdaut.
Das Stiftsfräulein hörte die Ungezogenheiten ihres Gastes mit unterdrückter Verachtung und fast mit boshaftem Vergnügen an. Bei jeder neuen Unschicklichkeit warf sie ihrem Bruder einen Blick zu, als ob sie ihn zum Zeugen nehmen wollte, und der gute Christian suchte, ohne aufzusehen, durch irgend eine nicht gerade passend herbeigezogene Bemerkung die Aufmerksamkeit der Zuhörer abzulenken. Dann sah das Stiftsfräulein Albert an, aber Albert war fühllos. Er schien von seinem lästigen und lustigen Tischgenossen nichts zu sehen und nichts zu hören.
Am meisten gefoltert von Allen war unstreitig die arme Consuelo. Zuerst glaubte sie, Anzoleto habe sich bei seinem ausschweifenden Leben diese ungebärdigen Manieren und diesen schmutzigen Geschmack angeeignet, die sie an ihm nicht kannte, denn er hatte sich nie so vor ihr gezeigt. Sie war so empört und so bestürzt darüber, dass sie nahe daran war, vom Tische aufzustehen. Aber als sie merkte, dass es eine Kriegslist war, fand sie die Kaltblütigkeit wieder, die ihrer Unschuld und ihrer Würde geziemte.
Sie hatte sich nicht in die Geheimnisse und in die Gunst dieser Familie eingedrängt, um die Stellung, welche man ihr antrug, zu erschleichen. Diese Stellung hatte nicht einen Augenblick ihrem Ehrgeiz geschmeichelt und in ihrem reinen Gewissen fühlte sie sich stark genug gegen die geheimen Beschuldigungen des Stiftsfräuleins. Sie wusste, sie sah, dass Albert’s Liebe und seines Vaters Zutrauen über eine so jämmerliche Probe erhaben waren. Die Verachtung, welche Anzoleto, feig und schlecht auch in seiner Rache, ihr einflößte, machte sie nur noch stärker. Ihre Augen begegneten ein einziges Mal den Augen Albert’s und sie verstanden sich. Consuelo sagte Ja, und Albert antwortete Trotz allem!
– Es ist noch nicht so weit, sagte Anzoleto leise zu Consuelo, da er diese Blicke bemerkt und sich ausgelegt hatte.
– Sie tun mir unendlich wohl, antwortete Consuelo, und ich danke Ihnen dafür.
Sie murmelten den raschen venetianischen Dialekt zwischen den Zähnen hin, der nur aus Vokalen zusammengesetzt scheint und so viele Laute abwirft und zusammenzieht, dass selbst die anderen Italiener aus Florenz und Rom ihn beim ersten Hören kaum verstehen können.
– Ich merke, dass du mich in diesem Augenblicke verabscheust, sagte Anzoleto, und dass du nun gewiss zu sein glaubst, mich immer zu hassen. Aber du kommst mir so nicht los.
– Sie haben zu früh die Maske abgelegt, entgegnete Consuelo.
– Aber nicht zu spät, versetzte Anzoleto, He, Padre mio benedetto, sagte er zu dem Kaplan gewendet und gab ihm einen Stoß an den Ellenbogen, dass der würdige Priester die Hälfte des Weines, den er zu den Lippen führte, auf sein Krägelchen schüttete, trinken Sie doch flinker solch einen braven Wein hinunter, der Leib und Seele labt, wahrhaftig so gut wie der in der heiligen Messe! Herr Graf, sagte er dann zu dem alten Christian, ihm sein Glas hinreichend, Sie haben da an Ihrer Herzensseite eine goldgelbe Reserveflasche stehen, die wie die Sonne blitzt. Ich denke mir, dass das ein Nektar ist, wovon ein einziger Tropfen mich zu einem Halbgott machen müsste.
– Nehmen Sie sich in Acht, mein Kind! sagte endlich der Graf, indem er seine magere, mit Ringen bedeckte Hand an den brillantierten Hals der Kristallflasche legte: der Greisenwein schließt jungen Leuten manchmal den Mund.
– Du maulst, dass du wie ein Kobold hübsch aussiehst, sagte Anzoleto in gutem klaren Italienisch zu Consuelo, sodass es alle Welt verstehen konnte. Du gemahnst mich recht an die Diavolessa von Galuppi, die du voriges Jahr in Venedig so himmlisch gespielt hast. Apropos, Herr Graf, denken Sie denn meine Schwester hier noch lange in Ihrem vergoldeten, und mit Seide gefütterten Käfigt zu behalten? Sie ist ein Singevogel, muss ich Ihnen sagen, und der Vogel dem man seine Stimme wehrt, verliert bald die Federn. Es geht ihr hier sehr gut, das sehe ich ein, aber das liebe Publikum da unten, das sie rein verrückt gemacht hat, schreit sich heiser nach ihr. Und wenn ich von mir reden soll, so könnten Sie mir Ihren Namen, Ihr Schloss, Ihren ganzen famosen Weinkeller und Ihren ehrwürdigen Kaplan noch obenein schenken, ich würde meine Lampen, meinen Kothurn und meine Triller nicht dafür lassen.
– Sie sind also auch Komödiant? fragte das Stiftsfräulein mit kaltem, verächtlichem Tone.
– Komödiant, Pickelhäring Ihnen zu dienen, Illustrissima! entgegnete Anzoleto, ohne die Fassung zu verlieren.
– Kann er etwas? fragte der alte Christian Consuelo mit einer Ruhe, worin eben so viel Gutmütigkeit als Wohlwollen lag.
– Nicht das mindeste! entgegnete Consuelo, indem sie einen bemitleidenden Blick auf ihren Gegner warf.
– Wenn das ist, so verklagst du dich selbst, sagte Anzoleto, denn ich bin dein Zögling. Ich hoffe indessen, setzte er im venetianischen Dialekt hinzu, dass ich genug kann, um dir das Spiel zu verderben.
– Sie werden nur sich selbst schaden, antwortete Consuelo in demselben Dialekt. Böse Absichten verderben das Herz, und das Ihrige wird bei dem allen mehr verlieren, als Sie mir im Herzen der anderen rauben können.
– Ich bin sehr erfreut, dass du die Herausfodrung annimmst. Ans Werk denn, schöne Kriegerin! Ziehen Sie nur das Visier nieder, ich lese doch die Furcht und den Ärger in Ihren Augen.
– Oh, Sie können nichts darin lesen, als wie sehr ich Sie bedauere. Ich glaubte es vergessen zu können, dass ich Sie verachten muss, und Sie geben sich alle Mühe, es mir in das Gedächtnis zurück zu rufen.
– Verachtung und Liebe bestehen oft ganz gut miteinander.
– Ja, in gemeinen Seelen.
– Nein, in den stolzesten Seelen; das hat man schon erlebt und wird es immer wieder erleben.
So ging die ganze Mahlzeit hin. Als man sich in den Nebensaal begeben hatte, bat das Stiftsfräulein, das entschlossen schien, sich an Anzoleto’s Unverschämtheit zu ergötzen, diesen, dass er etwas singen möchte. Er war sogleich bereit, und nachdem er ein Paar Läufe über das alte Klavier gemacht hatte, welches unter seinen nervigen Fingern ächzte, stimmte er einen jener lockeren Schwänke an, womit er Zustiniani’s petits soupers zu würzen pflegte. Die Textworte wurden wirbelnd schnell gesprochen. Das Stiftsfräulein verstand sie nicht und hatte ihre Freude an der Geläufigkeit und Keckheit, womit er sie vortrug. Graf Christian war überrascht von der schönen Stimme und der wunderbaren Leichtigkeit des Sängers. Er überließ sich zwanglos dem Vergnügen, ihm zuzuhören, und als das erste Stück zu Ende war, verlangte er ein zweites. Albert, der neben Consuelo saß, schien taub und sagte kein Wort.
Anzoleto glaubte, Albert ärgere sich, weil er sich endlich in einem Punkte ausgestochen sähe. Er vergaß seinen Vorsatz, die Zuhörer mit seinen musikalischen Zoten in die Flucht zu jagen, und da er zum Überflusse sah, dass es vergebliche Mühe war, weil seine Wirte entweder zu unschuldige Seelen oder des Dialekts zu unkundig waren, so ergab er sich seinem Durste nach Bewunderung und sang mit Lust; er wollte aber auch Consuelo zeigen, dass er Fortschritte gemacht hatte. Er hatte in dem Gebiete, welches ihm erreichbar war, in der Tat an Fertigkeit und Bewusstsein gewonnen. Seine Stimme hatte vielleicht nicht mehr ganz ihre erste Frische, den Sammet der Jugend hatte sein zügelloses Leben hinweggewischt, aber er hatte seine Effekte mehr beherrschen gelernt, und verstand es besser als sonst, Schwierigkeiten zu überwinden, wozu ihn sein Geschmack und seine Neigung immer am meisten hinzog. Er sang gut und erntete viele Lobsprüche vom Grafen Christian, von dem Stiftsfräulein und sogar von dem Kaplan ein, der ein großer Freund von Fiorituren war und dem Consuelo’s Manier zu einfach und natürlich schien, um ihm gelehrt zu scheinen.
– Sie sagten, er könnte nichts, bemerkte der Graf gegen Consuelo, Sie sind zu streng oder zu bescheiden mit Ihrem Zögling. Er hat im Gegenteile recht viel Geschick und kurz, ich finde in ihm etwas von Ihnen.
Der gute Christian dachte durch diese Anerkennung Anzoleto’s die Beschämung, welche dessen Betragen der vermeintlichen Schwester verursacht haben müsste, ein wenig zu verwischen. Er verteidigte daher das Verdienst des Sängers mit vielem Eifer, und Anzoleto, der zu gern glänzte, um nicht schon seiner hässlichen Rolle überdrüßig zu sein, setzte sich wieder an das Klavier, nachdem er noch wahrgenommen hatte, dass Graf Albert immer tiefer in sein Träumen versank.
Das Stiftsfräulein, welches bei langen Musikstücken schläfrig wurde, bat ihn um noch ein venetianisches Lied, und Anzoleto wählte diesmal eines, welches von mehr gutem Geschmack zeugte. Er wusste, dass er Volksweisen am besten sang. Consuelo selbst war die charakteristische, pikante Behandlung des Dialekts nicht so eigen als ihm, der ein Kind der Lagunen und gleichsam von Geburt Charaktersänger war.
Bald die derbe und kecke Manier der istrischen Fischer, bald die sinnvolle und behagliche Nachlässigkeit der venetianischen Gondoliere wusste er so anmutig, so entzückend nachzuahmen, dass es unmöglich war, ihn nicht mit Vergnügen zu sehen und zu hören. Sein schönes, bewegliches, ausdrucksvolles Gesicht nahm bald den stolzen, feierlichen Ernst der einen, bald die schmeichelnde und spöttische Geschmeidigkeit der anderen an. Sein geschmacklos koketter Anzug, dem man auf eine Meile weit den Venetianer anmerken konnte, trug in diesem Augenblicke dazu bei, die Täuschung zu vermehren und hob die Vorzüge seiner Persönlichkeit statt ihnen zu schaden.
Consuelo, welche Anfangs wirklich kalt gewesen, sah sich bald dahin gebracht, dass sie die Gleichgültige und Zerstreute nur spielte. Die Aufregung nahm sie immer mehr und mehr ein. Sie sah in Anzoleto ganz Venedig leibhaft wieder, und in diesem Venedig den ganzen Anzoleto der früheren Tage, mit seiner Lustigkeit, seiner unschuldigen Liebe, seinem kindischen Stolz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und die munteren Scherze, welche die anderen lachen machten, drangen ihr, die tiefste Wehmut weckend in das Herz.
Nach den Liedern verlangte Graf Christian einen geistlichen Gesang.
– Je nu! ich weiß alle, sagte Anzoleto, die man in Venedig singt, aber sie sind zu zwei Stimmen, und wenn meine Schwester, die sie auch weiß, nicht mit singen will, so kann ich Ew. Herrlichkeit nicht dienen.
Sogleich bat man Consuelo zu singen. Sie wehrte sich lange, obgleich die Versuchung groß war. Endlich gab sie den Bitten des guten alten Grafen nach, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, sie mit ihrem Bruder auszusöhnen, indem er sich selbst mit ihm ganz ausgesöhnt zeigte, setzte sich neben Anzoleto und begann zitternd einen dieser langen, zweistimmigen, in Strophen von je drei Versen eingeteilten Gesänge, die man zu Venedig in den Andachtszeiten ganze Nächte hindurch vor den Madonnenbildern an den Straßenecken hört. Ihre Bewegung ist eher lebhaft als schwermütig, aber in der Eintönigkeit ihres Refrains und in den Gedanken ihres Textes, die eine etwas heidnische Frömmigkeit atmen, liegt etwas sanft Wehmütiges, welches den Hörer allmählich anzieht und zuletzt hinreißt.
Consuelo sang mit sanfter, verschleierter Stimme, den venetianischen Frauen nachahmend, und Anzoleto in dem etwas rauen Kehlton der jungen Leute dort zu Lande. Zugleich spielte er auf dem Klavier eine leise, fließende Begleitung in gebrochenen Akkorden, welches seine Gefährtin an das Murmeln der Wellen auf den Fliesen und das Flüstern des Windes in den Weinranken erinnerte. Sie glaubte sich in Venedig an einem schönen Sommerabend, einsam, am Fuße einer jener Kapellen, die unter freiem Himmel Weinlaub überschattet und eine flimmernde Lampe beleuchtet, deren Schein die leicht gekräuselte Flut des Kanales zitternd zurückwirft.
O, welch ein Abstand zwischen dem bangen, peinigenden Gefühle von diesem Morgen, als sie Albert’s Geige an dem Rande eines anderen Wassers, einer schwarzen, stummen, regungslosen und gespenstigen Quelle hörte und dem Entzücken, dies Venedig im Geiste zu schauen, mit seinem schönen Himmel, seinen süßen Melodien, seinen blauen, flatternden Wellen und darin dem Lichterflimmer und dem Wiederschein der Sterne!
Anzoleto brachte ihr dieses herrliche Schauspiel vor die Seele, in welchem sich für sie alles vereinte, was nur Leben und Freiheit war; und auf der anderen Seite jene Höhle, die seltsamen, wilden Melodien der alten Böhmen, die Gebeine von düsterroten Fackeln angeleuchtet, welche sich in einem vielleicht mit denselben traurigen Überresten angefüllten Wasser spiegeln, und mitten unter dem allen Albert’s bleiche Gestalt, das schwärmerische Bußwerk, der Gedanke einer unbekannten Welt, das Anschauen einer mystischen Symbolik und die schmerzliche Aufregung einer unbegreiflichen Verzückung, zu viel das alles für Consuelo’s ruhige, einfache Seele.
Um einzugehen in diese Welt abstrakter Gedanken, musste sie Anstrengungen machen, deren ihre lebhafte Einbildungskraft fähig war, wobei jedoch ihr Wesen, gefoltert von unerklärlichen Leiden und von ermattenden Schauern, erlag. Ihre ganze frühere Entwickelung und noch mehr ihre südliche Natur widerstand dem trüben, bangen Wesen einer mystischen Liebe. Albert erschien ihr wie der Geist des Nordens, tief, gewaltig und erhaben oft, doch immer düster, wie der Sturm der eisigen Nächte und das dumpfe Brausen der unterirdischen Ströme. Es war die grübelnde, träumende Seele, die alles befragt und alles deutet, die Sturmnacht, den Lauf der himmlischen Erscheinungen, die wilden Stimmen des Waldes und die halb verloschene Inschrift eines alten Grabes.
In Anzoleto verkörperte sich ihr dagegen das Leben des Südens, die von der mächtigen Sonne, von dem vollen Licht entzündete und befruchtete Materie, deren Poesie in der gedrängten Fülle des Wachstums ruht und deren Stolz die reiche Entfaltung des eigenen organischen Triebes ist. Es war hier das Gefühlsleben mit dem scharfen Sinne für Genuss, das Unbekümmertsein um heut und morgen, das dem Künstler eigen ist, eine gewisse Bewusstlosigkeit oder Sorglosigkeit um das, was gut und böse heißt, eine Leichtigkeit, glücklich zu sein, Verachtung oder Versäumnis des Besinnens und Bedenkens, kurz die Kehrseite und das Gegenteil der Idealität.
Zwischen diesen beiden Menschen, deren Wesen die entgegengesetzten Pole des menschlichen Geistes darzustellen schien, war Consuelo so in banger Schwebe gehalten, so unfähig zu handeln und zu wirken, wie es eine von ihrem Leibe geschiedene Seele wäre. Sie liebte das Schöne, sie dürstete nach dem Ideal. Begriff und Bild davon bot ihr Albert dar. Aber gehemmt in seiner geistigen Entwickelung durch einen krankhaften Reiz, hatte Albert dem übersinnlichen Leben zu viel eingeräumt. Er kannte das wirkliche Leben so wenig, dass er oft die Fähigkeit verloren hatte, sein eigenes Dasein zu empfinden. Er dachte gar nicht, dass die düsteren Vorstellungen und Bilder, mit welchen er sich vertraut gemacht hatte, seiner Braut ein anderes Gefühl unter dem Einflusse der Liebe und der Tugend einflößen könnten als gläubige Begeisterung und selige Rührung. Er hatte nicht begriffen, noch geahnt, dass er sie in eine Luft versetzte, die ihr tödlich werden musste, wie die Polarkälte einem tropischen Gewächse. Kurz er begriff nicht dass sie in sein Wesen nicht eingehn konnte, ohne dem ihrigen Gewalt anzutun.
Anzoleto dagegen verwundete zwar Consuelo’s Seele und empörte ihr Innerstes in jeder Hinsicht, allein er trug in seiner weiten, dem erquickenden Hauch der freien südlichen Lüfte geöffneten Brust allen Lebensatem, dessen die Blume Spaniens, wie er sie sonst zu nennen pflegte, zu freudigem Blühen bedurfte. Sie fand in ihm wieder ein ganzes Leben unbewusster, köstlicher Anschauungen, eine ganze Welt natürlicher, heller, fröhlicher Klänge, eine ganze Vergangenheit voll Frieden, Sorglosigkeit, körperlicher Regsamkeit, mühloser Unschuld, ungezwungener Sittsamkeit und ungesuchter Frömmigkeit. In der Tat fast das Dasein eines Vogels im Walde. Aber ist nicht viel vom Vogel in der Künstlerseele, und muss nicht auch der Mensch ein wenig aus dem Lebenskelche welcher allen Wesen gemein ist, nippen, um vollkommen zu sein und den Schatz seines Geistes zu verwerten?
Consuelo’s Gesang ward immer weicher und rührender, während ihre Seele sich unbewusst und unwillkürlich den unterschiedenen Eindrücken hingab, welche ich an ihrer Stelle als Betrachtungen aussprach, zu weitschweifig glaube ich selbst. Man möge es mir verzeihen. Denn wie würde man ohne sie die leidige Beweglichkeit des Gefühls begreifen welche dieses sonst so verständige und so wahre Mädchen, das mit Recht den treulosen Anzoleto noch eben gehasst hatte, dazu verleiten konnte, dass sie mit einer gewissen Wollust seine Stimme hörte, sein Haar streifte, seinen Atem fühlte?
Der Saal war zu tief, um je ganz erhellt zu sein, wie man schon weiß, und überdies neigte sich der Tag. Das Klavierpult, auf welchem Anzoleto ein großes Notenbuch offen hatte liegen lassen, verbarg ihre Köpfe den Anwesenden, welche alle ziemlich entfernt saßen, und ihre Köpfe näherten sich einander mehr und mehr. Anzoleto, nur noch mit einer Hand begleitend, hatte seinen anderen Arm um den schlanken Leib seiner Freundin geschlagen und zog sie unbemerkt an sich.
Sechs Monate des Schmerzes und der Entrüstung waren in diesem Augenblicke wie ein Traum ans der Seele des Mädchens entschwunden. Es war ihr ganz als wäre sie noch in Venedig, und betete zur Madonna, ihre Liebe zu dem schönen Verlobten, den ihr ihre Mutter gegeben hatte, und der Hand in Hand und Herz an Herz mit ihr betete, zu segnen. Albert war hinausgegangen, ohne dass sie es bemerkt hatte und die Luft war leichter, das Zwielicht traulicher um sie her. Plötzlich am Schlusse einer Strophe fühlte sie die glühenden Lippen ihres ersten Verlobten auf den ihrigen. Sie unterdrückte einen Schrei, und sich auf das Klavier niederbeugend, zerfloss sie in Tränen.
In diesem Augenblicke trat Albert wieder ein, hörte sie schluchzen und sah Anzoleto’s höhnische Freude. Die anderen Zeugen dieses raschen Vorgangs wunderten sich nicht über die Unterbrechung des Gesanges. Niemand hatte den Kuss bemerkt und jedermann dachte sich, dass die Erinnerung an ihre Kindheit und die Liebe zu ihrer Kunst ihr Tränen entlockten. Graf Christian empfand ein kleines Unbehagen über diese Empfindsamkeit, welche verriet wie schmerzlich sie noch an Dingen hing, deren Opfer er von ihr verlangte. Das Stiftsfräulein und der Kaplan waren froh darüber, denn sie hielten es für ein Zeichen, dass ihr das Opfer unmöglich wäre.
Albert hatte sich noch gar nicht gefragt, ob die Gräfin von Rudolstadt wieder Künstlerin werden könnte, oder ob sie aufhören könnte es zu sein. Er hätte alles verstattet, ihr alles freigestellt, alles sogar gefordert, was zu ihrem Glück, zu ihrer Freiheit dienen konnte, sei es in der Zurückgezogenheit, sei es in der großen Welt, sei es auf dem Theater. Er war so frei von Vorurteilen und von Selbstsucht, dass er auf die einfachsten Fälle nicht vorausdachte. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass Consuelo daran denken könnte, sich Opfer seinetwillen aufzuerlegen, weil er eben keine verlangte.
Aber während er dieses Nächste übersah, sah er weiter, wie es immer bei ihm der Fall war: er drang bis ins Herz des Baumes und griff den nagenden Wurm mit Händen. Das wahre Verhältnis Anzoleto’s zu Consuelo, das wahre Ziel, welches jener verfolgte, und die wahre Empfindung die er ihr einflößte, wurden ihm in einem Augenblicke offenbar. Er sah diesen Menschen scharf an, der ihm zuwider war und den er bis dahin kaum eines Blickes gewürdigt hatte, weil er den Bruder Consuelo’s nicht hassen wollte. Er erkannte in ihm einen verwegenen, hitzigen und gefährlichen Liebhaber.
Der edle Albert dachte nicht an sich: weder Argwohn noch Eifersucht kamen in seine Seele. Er sah nur die Gefahr für Consuelo; denn mit tiefblickendem, hellem Auge schaute dieser Mann, dessen unstäter Blick und empfindliches Gesicht das Sonnenlicht nicht ertrug, und Formen und Farben nicht unterschied, in die Tiefe der Seele und drang durch die rätselhafte Macht seines Ahnungsvermögens in die geheimsten Gedanken der Schächer und der Schelme.
Ich will diese wunderbare Gabe, welche er zu Zeiten besaß, nicht natürlich erklären. Gewisse Fähigkeiten (die auch die Wissenschaft überhaupt noch nicht ergründet und definiert hat) besaß er, welche für jene Umgebung nicht minder unbegreiflich blieben, als sie es für den Geschichtsschreiber sind, der sie euch erzählt, und der in Bezug auf Dinge dieser Art jetzt nach hundert Jahren nicht aufgeklärter ist, als es damals die gleichzeitigen großen Geister waren.
Das selbstsüchtige und eitle Herz seines Nebenbuhlers lag vor Albert nackt da; aber Albert sagte sich nicht: dieser ist mein Feind, sondern er sagte sich: es ist Consuelo’s Feind. Und ohne von seiner Entdeckung etwas merken zu lassen, nahm er sich vor, über sie zu wachen und sie zu beschützen.