Kitabı oku: «Indiana», sayfa 4
Neuntes Kapitel
Zwei Monate sind vergangen, In Lagny hat sich seitdem nichts verändert. An einem Frühlingsabend saß Herr Delmare auf den Stufen der Vortreppe, die Flinte in der Hand, und übte sich, Schwalben im Fluge zu, töten. Indiana arbeitete am offenen Fenster des Salons an ihrem Stickrahmen und beugte sich von Zeit zu Zeit hinaus, um mit betrübtem Blicke das grausame Vergnügen ihres Gatten zu beobachten. Ophelia bellte erzürnt über eine ihren Gewohnheiten so widerstrebende Jagd, und Sir Ralph, auf der Steinrampe reitend, rauchte seine Zigarre.
»Indiana!« rief der Oberst, seine Flinte niederlegend, »ich habe dir etwas mitzuteilen.« Er näherte sich dem Fenster, das ziemlich tief lag, und mit einer scherzhaften Miene, wie sie nur ein alter, eifersüchtiger Ehemann zeigen kann, sagte er: »Um dich ein wenig zu zerstreuen, habe ich für morgen einen deiner Verehrer zum Frühstück eingeladen. Du wirst mich fragen, welchen, denn du hast eine ziemlich hübsche Anzahl, Schelmin.«
»Es ist vielleicht unser alter guter Pfarrer,« riet Frau Delmare.
»O, ganz und gar nicht. Ralph, nennen Sie ihr den Namen, der ihr schon auf der Zunge schwebt, den sie aber nicht aussprechen will.«
»Es bedarf nicht so vieler Umstände, um Herrn von Ramière hier anzukündigen,« sagte ruhig Sir Ralph, »ich denke, das ist ihr ziemlich gleichgültig.«
Frau Delmare fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, sie trat vom Fenster zurück, als ob sie etwas im Salon suchte. Als sie wieder erschien, war ihre Haltung äußerlich ruhig.
»Wie?« sagte sie, »Sie wollten wirklich diesen Menschen hier empfangen, der sich bei Ihnen eingeschlichen hat, um Ihnen Ihre Erfindung zu stehlen, und den Sie fast wie einen Verbrecher erschossen hätten … Sie sind beide wahrlich sehr friedfertiger Natur, um dies zu vergessen.«
»Du, bist mir mit gutem Beispiele vorausgegangen, meine Liebe, denn als er dich bei deiner Tante besuchte, hast du ihn sehr gut aufgenommen, hast auch während eines ganzen Balles mit ihm getanzt, wie man mir gesagt hat.«
»Man hat dich getäuscht.«
»O, ich erfuhr es von deiner eigenen Tante! Schon seit langer Zeit empfängt sie Herrn von Ramières Besuche. Er hat mir unaufgefordert wichtige Dienste in bezug auf meine Fabrik geleistet, und da ich so einem Fremden keine Verbindlichkeiten schuldig sein mag, so will ich mich mit ihm abfinden.«
»Und auf welche Weise?«
»Indem ich mir ihn zum Freunde mache. Ich habe ihn diesen Morgen mit Ralph in Cercy besucht und lernte da auch seine Mutter kennen, eine äußerst liebenswürdige alte Dame. Es gefällt mir besonders, daß weder sie noch ihr Sohn durchaus nicht stolz auf ihren alten Stamm sind. Kurz, dieser Ramière ist ein Prachtmensch und ich habe ihn eingeladen, bei uns zu frühstücken und meine Fabrik zu besehen.«
Frau Delmare zog sich in ihr Zimmer zurück, um über die unerwartete Mitteilung ihres Gatten nachzudenken. Einstweilen wollen wir sie ihren Gedanken überlassen und auf Nouns Tod zurückkommen. Es ist zweifellos, daß sich diese Unglückliche in einem jener Augenblicke heftiger Gemütsbewegungen, wo die Leidenschaft sich leicht zu einer Gewalttat hinreißen läßt, in den Fluß geworfen hatte.
Zwei Personen konnten mit Gewißheit auf einen Selbstmord schließen: Herr von Ramière und der Gärtner von Lagny. Den Gärtner bewogen Schrecken und Gewissensbisse, Stillschweigen zu beobachten. Aus Habgier hatte er die Zusammenkünfte der beiden Liebenden begünstigt und der geheime Kummer der jungen Kreolin war ihm nicht verborgen geblieben. Mit Recht die Vorwürfe seiner Herrschaft fürchtend, schwieg er, und als Herr Delmare, dessen Vermutungen der Tatsache nahe kamen, ihn befragte, leugnete er hartnäckig. Demnach konnte man das Ereignis dem Zufall zuschreiben. In finsterer Nacht durch den Park gehend, konnte Noun sich in dem herrschenden dicken Nebel verirrt haben und neben der englischen Brücke, welche über den schmalen Fluß führte, von dem steilen und vom Regen schlüpfrig gewordenen Ufer hinabgestürzt sein.
Sir Ralph, der ein tieferer Beobachter war, als er sich anmerken ließ, hatte zwar einen starken Grund zum Verdacht gegen Herrn von Ramière gefunden, doch teilte er ihn niemand mit, da er es für grausam hielt, einem Menschen noch Vorwürfe zu machen, der schon unglücklich genug war, sich zeitlebens solche Gewissensbisse machen zu müssen. Dem Oberst stellte er vor, daß bei dem krankhaften Zustande Indianas es dringend notwendig sei, die Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes ihrer Jugendgefährtin zu verheimlichen. So kam man schweigend überein, niemals in Indianas Gegenwart davon zu sprechen.
Doch diese Vorsicht war unnötig; denn Indiana hatte ebenfalls ihre Gründe, an einen Selbstmord zu glauben. Die bitteren Vorwürfe, welche sie an jenem verhängnisvollen Abend dem unglücklichen Mädchen gemacht hatte, schienen ihr hinreichende Ursachen, um Nouns verhängnisvollen Entschluß zu erklären. Daher hatte in dem furchtbaren Augenblick, wo Indiana den Leichnam auf dem Wasser erblickte, ihr ohnedies so niedergebeugtes Herz, den letzten Stoß erhalten. Ihr Leiden machte jetzt schnellere Fortschritte; das junge und vielleicht kräftige Weib wollte nicht genesen und gab sich unter der Last des Kummers dem Tode preis.
»Wehe mir, wehe!« rief sie aus, nachdem sie die bevorstehende Ankunft Raymons in ihrem Hause erfahren hatte. »Fluch dem Manne, welcher nur hieher kommt, um mir verderblich zu werden. Großer Gott, warum gibst Du zu, daß er sich meines Schicksals nach Willkür bemächtigt, daß er nur die Hand ausstrecken und zu sagen braucht: »Sie gehört mir, und wenn sie mir widersteht, stürze ich sie ins Unglücks!««
Sie begann bitterlich zu weinen, denn der Gedanke an Raymon erweckte ihre Erinnerung an Noun nur noch lebhafter.
»Arme Noun! arme Gefährtin meiner Kindheit, meine einzige Freundin!« rief sie schmerzlich. »Dieser Mensch war dir verderbenbringend wie mir! Durch welche Kunstgriffe hat er dich dahin bringen können, mir die Treue zu bewahren und eine solche Schändlichkeit an mir zu begehen? Du erkanntest deinen Fehler erst, als du meinen Zorn sahest! Ich war zu streng gegen dich, ich habe dich zur Verzweiflung getrieben, dir den Tod gegeben! Unglückliche, warum warfst du dich nicht weinend an meinen Busen und sagtest: »Ich bin betrogen worden, ich wußte nicht, was ich tat. Aber du weißt es wohl, ich achte und liebe dich!« Ich hätte dich in meine Arme gedrückt und du wärest noch am Leben. Tot! tot, so jung, so schön, so lebensfreudig! Gestorben mit neunzehn Jahren eines so entsetzlichen Todes!«
Während Indiana ihre Gefährtin beweinte, beweinte sie auch, ohne es sich selbst zu gestehen, die Täuschungen der drei schönsten Tage ihres Lebens, der einzigen, wo sie gelebt hatte; denn während dieser drei Tage hatte sie mit heißer Leidenschaft geliebt. Je blinder und heftiger diese Liebe gewesen war, desto tiefer hatte Indiana die Schmach empfunden, die ihr widerfahren war.
Doch sie hatte mehr dem Impulse der Scham und des Verdrusses nachgegeben, als einem wohlbedachten Willen. Sehr wahrscheinlich würde Raymon Verzeihung gefunden haben, wenn er Zeit gehabt hätte, seine ganze hinreißende Beredsamkeit ins Treffen zu führen.
Bei Raymon war es nicht gekränkte Eigenliebe, weshalb er die Liebe und die Verzeihung Frau Delmares suchte. Die Liebe keiner anderen Frau, kein anderes Glück auf der Erde schien ihm dafür Ersatz geben zu können. Ein unersättlicher Drang nach Kampf und leidenschaftlichen Aufregungen verzehrte sein Leben.
Man glaube jedoch nicht, daß er gegen Nouns Tod unempfindlich gewesen wäre. Im ersten Augenblicke wollte er sich sogar erschießen; aber der Gedanke an seine Mutter bewahrte ihn davor, was sollte aus ihr werden? Aus seiner alten, schwachen Mutter, deren Leben so bewegt, so schmerzensreich gewesen war, die nur noch für ihn, ihr einziges Glück, lebte! Die beste Art, sein Verbrechen wieder gutzumachen, war, sich von jetzt an mehr denn je seiner Mutter zu widmen, und in dieser Absicht kehrte er nach Paris zurück.
Raymon besaß eine unglaubliche Macht über alles, was ihn umgab, denn er war bei allen seinen Fehlern und Verirrungen in der Pariser Gesellschaft ein ausgezeichneter Mann und besaß sogar den Ruf als geistreicher und talentvoller Kopf. Er beschäftigte sich viel mit Politik und die Schriften, die er veröffentlichte, wurden mit großem Interesse gelesen. Sein Vermögen überhob ihn der Notwendigkeit, für Geld zu schreiben; er schrieb nur aus Neigung und aus Anhänglichkeit an das absolute Königtum Ludwigs XVIII., der damals regierte. Aber seine ehrgeizigen Träume wichen bald wieder dem Bedürfnisse seines Herzens und dem Drange nach verliebten Abenteuern.
Anfangs hatte er verzweifelt, nach dem tragischen Ausgange seiner doppelten Intrigue Frau Delmare je wiederzusehen. Aber während er die Bedeutung des Schatzes erwog, der ihm in ihr entging, kam ihm die Hoffnung, sich ihn zurückzuerobern. Er erwog die Hindernisse, auf welche er stoßen würde, und sah ein, daß diejenigen, deren Beseitigung am schwierigsten wäre, zunächst von Indiana selbst ausgehen würden. Er mußte also den Angriff von dem Gatten selbst unterstützen lassen. Die eifersüchtigen Ehemänner sind zu dieser Art Dienstleistung besonders geeignet.
Vierzehn Tage, nachdem Raymon diesen Entschluß gefaßt hatte, befand er sich auf dem Wege nach Lagny, wo man ihn zum Frühstück erwartete. Es sollen nicht alle die Dienstleistungen aufgezählt werden, wodurch es seiner Klugheit gelungen war, sich in Herrn Delmares Gunst zu setzen; dafür möge hier ein Bild des Obersten selbst seine Stelle finden.
Das Zartgefühl des Herzens betrachtete dieser alte Soldat als weibische Kinderei. Ohne Geist, ohne Takt und ohne Erziehung, genoß er einer größeren Achtung, als man durch Talente und Herzensgüte erlangt. Er hatte breite Schultern und eine kräftige Faust; er wußte den Säbel und den Degen trefflich zu führen und dabei besaß er eine argwöhnische Empfindlichkeit. Da er nicht immer Scherz verstand, so lebte er in fortwährendem Mißtrauen, daß man sich über ihn lustig mache. Durch Drohungen mit Stockschlägen und Duellen wußte er sich Respekt zu verschaffen; deshalb war sein Name in der Provinz stets mit der Bezeichnung des Tapfern begleitet, weil die militärische Tapferkeit augenscheinlich nur darin besteht, breite Schultern und einen starken Schnauzbart zu haben, wie ein Fuhrknecht zu fluchen und bei dem geringsten Streit nach dem Degen zu greifen. Die alten Soldaten des Kaiserreiches, welche fabelhafte Heldentaten ausgeführt hatten, waren in dem Pulverdampf der Schlachten herangewachsen. Aber nach ihrem Rücktritt in das bürgerliche Leben waren sie nur noch kühne und rohe Gesellen und man mußte froh sein, wenn sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft nicht wie in einem eroberten Lande betrugen!
Herr Delmare besaß alle guten und alle schlechten Eigenschaften dieser ausgedienten Militärs. Offenherzig bis zur Kinderei in gewissen zarten Punkten des Ehrgefühls, wußte er seine Interessen auf die bestmögliche Weise zu wahren, ohne sich besonders über das Heil oder Unheil zu beunruhigen, welches daraus für andere entstehen konnte. Der Buchstabe des Gesetzes war sein Gewissen, das Recht seine Moral. Er besaß jene unbeugsame Rechtlichkeit, die nichts borgt, aus Furcht, es nicht wiedergeben zu können, und nichts leiht, aus Furcht, es nicht zurückzuerhalten. Er war ein ehrlicher Mann, der lieber sterben will, als einen Ast aus den königlichen Wäldern zu nehmen, aber jeden ohne Umstände töten würde, der in dem seinigen einen dürren Zweig aufläse. Er mischte sich in nichts, was um ihn her vorging, aus Furcht, einen Dienst leisten zu müssen. Aber wenn er sich aus Ehrgefühl zu einem solchen verbunden glaubte, so bewies niemand einen tätigeren Eifer. Voll Vertrauen wie ein Kind, und doch auch argwöhnisch wie ein Despot, glaubte er einem falschen Schwur und mißtraute einem aufrichtigen Versprechen. Er war unfähig, seine Frau zu schätzen oder sie auch nur zu verstehen. In Indianas Herzen hatte die Sklaverei eine Art tugendhafter und stummer Abneigung gegen ihren Gatten erzeugt, die nicht immer gerecht war. Er war nur hart und sie hielt ihn für grausam. In seinem Ungestüm lag mehr Rauhheit als Zorn. Die Natur hatte ihn nicht bösartig geschaffen; er hatte Augenblicke des Mitleids, die ihn bis zur Reue führten, und in der Reue war er fast gefühlvoll. Das kriegerische Lagerleben hatte die Rohheit bei ihm zur zweiten Natur gemacht. Einer weniger geschmeidigen, weniger sanften Frau gegenüber wäre er schüchtern wie ein gezähmter Wolf gewesen. Aber Indiana war ihres Schicksals überdrüssig, sie gab sich nicht die Mühe, zu versuchen, es besser zu gestalten.
Zehntes Kapitel
Als Raymon im Hofe von Lagny aus seinem Tilbury stieg, fühlte er seinen Mut sinken. Er sollte unter dieses Dach treten, das ihm so entsetzliche Erinnerungen zurückrief!
Der erste, der ihm entgegentrat, war Sir Ralph Brown, und als er ihn in seinem Jagdkleide, von seinen Hunden umgeben und ernst wie ein schottischer Laird, auf sich zukommen sah, glaubte er das Bildnis zu erblicken, welches er in dem Zimmer der Frau Delmare gefunden hatte. Wenige Augenblicke nachher kam der Oberst und man trug das Frühstück auf, ohne daß Indiana erschienen wäre.
»Frau Delmare will also durchaus nicht herunterkommen?« fragte der Oberst sein Faktotum Lelièvre mit einiger Bitterkeit.
»Die gnädige Frau hat eine schlimme Nacht gehabt,« antwortete Lelièvre, »und Fräulein Noun … zum Teufel! der Name kommt mir nicht aus dem Gedächtnis! … Fräulein Fanny, will ich sagen, hat mir versichert, daß die gnädige Frau jetzt schliefe.«
»Wie kommt es denn, daß ich sie eben am Fenster gesehen habe? Fanny hat sich getäuscht. Geh und sag' Frau Delmare, das Frühstück sei aufgetragen …; oder vielmehr, Sir Ralph, lieber Vetter, wollten Sie wohl selbst sehen, ob Ihre Cousine ernstlich krank ist?«
Hatte der unglückliche Name, welcher dem Diener aus Gewohnheit entschlüpft war, Raymons ganzes Wesen schmerzlich berührt, so mischte der Auftrag des Obersten diesem Gefühl einen sonderbaren Zusatz von Eifersucht bei.
Dieser Engländer hat hier Rechte, dachte er, welche der Gatte selbst in Anspruch zu nehmen nicht zu wagen scheint.
Als wenn Herr Delmare Raymons Gedanken erraten hätte, sagte er:
»Das darf Sie nicht wundern. Herr Brown ist der Arzt des Hauses und dann ist er unser Vetter, dem wir von Herzen zugetan sind.«
Ralph blieb wohl zehn Minuten aus. Raymon war zerstreut und unruhig. Er aß nicht und sah häufig nach der Tür. Endlich erschien der Engländer wieder.
»Indiana ist wirklich nicht wohl,« berichtete er, »ich habe ihr geraten, sich wieder niederzulegen.«
Ruhig setzte er sich an den Tisch und aß mit gesundem Appetit. Der Oberst tat desgleichen.
»Das ist sicher nur ein Vorwand, mit mir nicht zusammentreffen zu müssen,« dachte Raymon.
Das Hindernis steigerte seine Willenskraft. Nouns Bild verschwand und bald schwebte seiner Phantasie nur noch die graziöse leichte Gestalt Indianas vor. Im Salon setzte er sich an ihren Stickrahmen und betrachtete, während er das Gespräch fortführte und den Zerstreuten spielte, die Blumen ihrer Stickerei und berührte die Seidenrollen, welche durch ihre kleinen Finger geglitten waren. Schon in Indianas Zimmer hatte er diese Arbeit gesehen; damals war sie kaum begonnen, jetzt war sie mit Blumen bedeckt, die unter dem Hauche des Fiebers entstanden und von ihren täglichen Tränen befeuchtet waren. Nur mit Mühe vermochte Raymon seine eigenen Tränen zurückzuhalten.
Die Stimme des Obersten erweckte ihn plötzlich.
»Nun, mein geehrter Herr Nachbar,« sagte er, »es ist Zeit, daß ich mein Versprechen halte. Die Fabrik ist in vollem Gange und alle Arbeiter sind in Tätigkeit. Hier ist Bleistift und Papier, damit Sie Ihre Notizen machen können.«
Raymon folgte dem Obersten, besah die Fabrik mit aufmerksamem Blicke, hörte mit unerschöpflicher Geduld die endlosen Erklärungen des Herrn Delmare an, ging in einige seiner Ideen ein und bestritt andere, während doch seine Gedanken auf Frau Delmare gerichtet waren. Nach Besichtigung des inneren Fabriksbetriebes kam das Gespräch auf die Kraft des Wassers. Sie traten hinaus und kletterten auf die Schleuse. Der Werkmeister mußte die Schaufeln stellen und man sprach über den wechselnden Stand der Wasserhöhe. Herr Delmare schätzte den Höchststand auf fünfzehn Fuß.
»Um Vergebung, Herr Oberst,« sagte der Werkmeister, »wir haben dieses Jahr schon siebzehn Fuß gehabt.«
»Wann war das? Sie täuschen sich,« antwortete der Oberst.
»Das war den Tag vor Ihrer Rückkehr aus Belgien, Herr Oberst, in der Nacht, wo Fräulein Noun ertrunken gefunden wurde. Der beste Beweis ist, daß der Leichnam über den Damm gehen konnte und erst hier angehalten wurde, an der Stelle, wo der Herr steht.«
Der Werkmeister zeigte auf die Stelle, wo Raymon stand. Der Unglückliche wurde bleich wie der Tod. Er warf einen Blick auf das zu seinen Füßen dahinfließende Wasser und glaubte Nouns Leiche darin zu erblicken. Ein Schwindel ergriff ihn und er wäre in den Fluß gefallen, wenn Ralph ihn nicht am Arme weggezogen hätte.
»Gut,« sagte der Oberst, der dies nicht bemerkt hatte; »aber das war ein außerordentlicher Fall und die mittlere Höhe des Wassers … Aber was Teufel, haben Sie beide?« unterbrach er sich plötzlich.
»Nichts,« antwortete Sir Ralph; »als ich mich umwandte, trat ich Herrn von Ramière auf den Fuß; ich muß ihm sehr weh getan haben.«
Diese Antwort wurde in einem so ruhigen und natürlichen Tone gegeben, daß Raymon sich einredete, Sir Ralph glaube es selbst.
Einige Stunden später verließ Raymon Lagny, ohne Frau Delmare gesehen zu haben. Das war mehr, als er hoffte; er hatte gefürchtet, sie werde ihm gleichgültig und ruhig begegnen.
Er kam wieder, ohne jedoch glücklicher zu sein. Diesmal war der Oberst allein. Raymon tat alles, um sich in dessen Gunst zu befestigen. Er rühmte Napoleon, den er nicht liebte, beklagte die Gleichgültigkeit der Regierung, welche die berühmten Trümmer der großen Armee vernachlässige, und brachte von seinen politischen Glaubensartikeln nur diejenigen zur Sprache, welche Herrn Delmare schmeicheln konnten. Er nahm sogar einen ganz anderen Charakter an, kehrte den Lebemann, den leichten Kameraden, sogar den sorglosen Taugenichts hervor.
»Nun,« sagte der Oberst, als er ihn fortgehen sah, »der wird meine Frau nie erobern!«
Frau von Ramière war damals in Cercy; Raymon rühmte ihr Indianas Anmut und Geist und wußte ihr geschickt den Wunsch einzuflößen, der jungen Frau einen Besuch zu machen. Eine Woche später begleitete sie in der Tat ihren Sohn nach Lagny.
«Jetzt kann mich Indiana nicht mehr vermeiden,« triumphierte Raymon.
Allerdings hatte er recht. Als Indiana aus dem Wagen eine bejahrte Frau steigen sah, die sie nicht kannte, eilte sie ihr auf der Freitreppe des Schlosses entgegen. Sie nahm Frau von Ramière achtungsvoll und gütig auf; aber ihre Kälte gegen Raymon war so eisig, daß er sie nicht lange zu ertragen vermochte. Sein Stolz empörte sich, denn an Verachtung war er nicht gewöhnt. Da spielte er denn die Rolle eines Mannes, der gleichgültig gegen eine Laune ist, er bat um die Erlaubnis, Herrn Delmare im Park aufsuchen zu dürfen, und ließ die beiden Frauen allein.
Indiana konnte dem Reize nicht widerstehen, den ein überlegener Geist, verbunden mit einem edlen und großmütigen Herzen, auch über die geringfügigsten Beziehungen zu verbreiten weiß, und wurde warm und herzlich in Frau von Ramières Gegenwart. Nie hatte sie eine Mutter gekannt, Frau von Carvajal, ihre Tante, konnte deren Stelle nicht ersetzen; um so wohltuender empfand Indiana den sanften Zauber, den Raymons Mutter auf sie ausübte.
Bei der Abfahrt sah Raymon, wie Indiana die Hand seiner Mutter an ihre Lippen drückte. Die arme Indiana fühlte das Bedürfnis, sich an jemand anzuschließen. Alles, was ihr Hoffnung auf Teilnahme und Schutz in ihrem einsamen und unglücklichen Leben bot, wurde von ihr mit Entzücken erfaßt.
»Ich will mich in die Arme dieser trefflichen Frau werfen,« dachte sie, »und, wenn es nötig ist, ihr alles bekennen. Ich will sie beschwören, mich vor ihrem Sohne zu retten, und ihre Klugheit wird über ihn und über mich wachen.«
Das war natürlich Raymons Gedanke nicht.
»Die Güte und Anmut meiner teuren Mutter bewirken Wunder,« sagte er sich. »Was verdanke ich ihr nicht schon! Meine Erziehung, meine Erfolge im Leben. Es fehlt mir nur noch, daß ich ihr das Glück verdanke, die Liebe einer Frau, wie Indiana, zu gewinnen.«
Bald nachher erhielt Raymon eine Einladung, drei Tage in Bellerive zuzubringen, dem prächtigen Landsitze, welchen Sir Ralph Brown zwischen Cercy und Lagny besaß. Es sollte mit Hilfe der besten Schützen der Umgegend Jagd auf Wild gemacht werden, welches den Wald und die Gärten des Besitzers verwüstete. Raymon liebte weder Sir Ralph noch die Jagd, aber bei großen Gelegenheiten machte Frau Delmare im Hause ihres Vetters die Honneurs, und die Hoffnung, sie dort zu treffen, bestimmte Raymon, die Einladung anzunehmen.
Sir Ralph rechnete jedoch diesmal nicht auf seine Cousine; sie hatte sich mit dem schlechten Zustand ihrer Gesundheit entschuldigt. Aber der Oberst ließ das nicht gelten.
»Du willst wohl der ganzen Umgegend glauben machen, daß ich dich unter Schloß und Riegel halte?« warf er ihr vor. »Du läßt mich für einen eifersüchtigen Gatten gelten; das ist eine lächerliche Rolle, die ich nicht länger spielen mag. Ziemt es dir, deinem Vetter einen so geringen Dienst zu verweigern, da wir nur seiner Freundschaft unser Vermögen und das Gedeihen unserer Unternehmungen verdanken? Aber ich weiß wohl, der arme Teufel ist dir nicht sentimental genug, du siehst in ihm einen Egoisten, weil er die Romane nicht liebt und den Tod eines Hundes nicht beweint. Übrigens machst du es Herrn von Ramière nicht besser, wie hast du ihn empfangen? Frau von Carvajal stellt ihn dir vor und du bist entzückt von ihm, aber kaum schenkte ich ihm mein Wohlwollen, so findest du ihn unerträglich und stellst dich krank, wenn er zu uns kommt. Soll ich deinetwegen für einen Mann ohne Welt gelten? Das muß aufhören.«
Als Raymon bei Sir Ralph ankam, hatte die Jagd bereits begonnen. Delmare wurde erst zur Stunde des Mittagessens erwartet. Unterdessen entwarf Raymon seinen Plan, zu dessen Ausführung er drei Tage Zeit hatte.