Maigret auf Reisen

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Seriler: Georges Simenon #51
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Maigret auf Reisen
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Der 51. Fall






Georges Simenon



Maigret auf Reisen



Roman



Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Claire Schmartz



Kampa




1 Was im George-V geschah, während es in Paris regnete, Maigret schlief und ein paar Leute ihr Bestes taten



»Die verzwicktesten Fälle sind jene, die anfangs so banal wirken, dass man ihnen keine Bedeutung beimisst. Ein bisschen wie bei Krankheiten, die schleichend beginnen, mit leichtem Unwohlsein. Wenn man sie dann endlich ernst nimmt, ist es oft schon zu spät.«



Das hatte Maigret einmal zu Janvier gesagt, als sie eines Abends über den Pont Neuf zurück zum Quai des Orfèvres gingen.



Doch in dieser Nacht enthielt sich Maigret einer Einschätzung der Ereignisse, denn er schlief tief und fest neben Madame Maigret in seiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir.



Selbst wenn er geahnt hätte, dass es Scherereien geben würde, hätte er sie nicht im Hôtel George-V erwartet, das häufiger in den Klatschpalten der Zeitungen als in den Lokalnachrichten auftauchte, sondern eher von der Tochter eines Abgeordneten, die er in sein Büro hatte vorladen müssen, um ihr nahezulegen, in Zukunft ein paar extravagante Gewohnheiten bleiben zu lassen. Obwohl er in väterlichem Ton mit ihr gesprochen hatte, war sie empört gewesen. Allerdings hatte sie auch erst vor Kurzem ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert.



»Sie sind nichts als ein unbedeutender Beamter. Ich werde dafür sorgen, dass man Sie rauswirft!«



Um drei Uhr morgens fiel ein kaum sichtbarer Sprühregen und überzog die Straßen mit einem feinen Film, der, wie Tränen in den Augen, die Lichter stärker glänzen ließ.



Um halb vier läutete es im dritten Stock des George-V, in dem Raum, in dem ein Hausdiener und ein Zimmermädchen vor sich hin dösten. Sie schlugen die Augen auf. Der Hausdiener sah als Erster, dass die gelbe Lampe aufleuchtete, und sagte:



»Für Jules.«



Es bedeutete, dass jemand nach dem Kellner geklingelt hatte, der jetzt einem Gast ein dänisches Bier brachte.



Das Zimmermädchen und der Hausdiener nickten wieder ein, jeder auf seinem Stuhl. Eine Weile war alles still, dann klingelte es erneut, gerade als der über sechzigjährige Jules, der wie immer den Nachtdienst versah, mit dem leeren Tablett zurückkehrte.



»Ja, ja. Komme ja schon«, knurrte er zwischen den Zähnen.



Ohne Hast ging er zur 332, wo über der Tür eine Lampe angegangen war, klopfte und wartete kurz. Da keine Antwort kam, öffnete er vorsichtig die Tür. In dem dunklen Salon war niemand. Vom Schlafzimmer drang ein schwacher Lichtschein herüber, und der Kellner hörte leises, anhaltendes Wimmern wie von einem Tier oder einem Kind.



Auf dem Bett lag die kleine Comtesse, die Augen halb geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, die Hände aufs Herz gepresst.



»Wer ist da?«, ächzte sie.



»Der Kellner, Madame.«



Er kannte sie gut. Auch sie kannte ihn gut.



»Ich sterbe, Jules. Aber ich will nicht sterben. Holen Sie einen Arzt, schnell. Gibt es im Hotel einen?«



»Um diese Zeit nicht, Madame, aber ich lasse die Krankenschwester rufen.«



Vor gut einer Stunde hatte er eine Flasche Champagner, eine Flasche Whisky, Sodawasser und einen Eiskübel gebracht.



Im Salon standen noch die Flaschen und Gläser, bis auf eine Champagnerflöte, die nun auf dem Nachttisch lag.



»Hallo! Schnell, die Krankenschwester!«



Mademoiselle Rosay, die Telefonistin, wunderte sich nicht, sondern steckte einen Stöpsel in eine der Buchsen der Anlage, dann einen zweiten.



Jules hörte ein entferntes Klingeln, dann eine verschlafene Stimme: »Hier Mademoiselle Genévrier.«



»Kommen Sie bitte sofort in die 332 herunter!«



»Ich sterbe, Jules …«



»Keine Angst, Sie werden nicht sterben, Madame.«



Er wusste nicht, was er tun sollte. Er ging in den Salon, knipste die Lampen an und stellte fest, dass die Champagnerflasche leer, die Whiskyflasche dagegen noch zu einem Viertel gefüllt war.



Die Comtesse Palmieri wimmerte immer noch, die Hände über der Brust verkrampft.



»Jules …«



»Ja, Madame?«



»Wenn es zu spät ist …«



»Mademoiselle Genévrier ist schon unterwegs.«



»Wenn es zu spät ist, sagen Sie ihnen, ich habe mich vergiftet, aber ich will nicht sterben.«



Nachdem sie der Form halber leise an die Tür geklopft hatte, betrat die Krankenschwester die Suite. Sie hatte graues Haar und ein fahles Gesicht und roch unter ihrem weißen Kittel noch nach Schlaf. Sie hielt ein bräunliches Fläschchen mit Gott weiß was in der Hand und hatte sich die Taschen ihres Kittels mit Medikamentenschachteln vollgestopft.



»Sie sagt, sie hat sich vergiftet.«



Mademoiselle Genévrier sah sich um, entdeckte den Papierkorb, holte ein Tablettenröhrchen heraus und las das Etikett.



»Sagen Sie der Telefonistin, sie soll Doktor Frère anrufen. Es ist dringend.«



Jetzt, da sich jemand um sie kümmerte, schien die Comtesse sich in ihr Schicksal zu ergeben, denn sie versuchte nicht mehr zu sprechen, und ihr Wimmern wurde leiser.



»Hallo! Rufen Sie Doktor Frère an, schnell … Aber nein! Das kommt nicht von mir! Die Krankenschwester braucht ihn.«



In Luxushotels und gewissen Pariser Vierteln kommt Derartiges so häufig vor, dass, wenn in der Notrufzentrale nachts ein Anruf zum Beispiel aus dem 16. Arrondissement eingeht, die erste Frage fast immer lautet:



»Gardénal?«



Der Name des Schlafmittels ist jedem ein Begriff. Man spricht von »einem Gardénal«, so wie man von einem »Bercy« spricht, wenn man einen Betrunkenen meint, den man beim Quai de Bercy aus dem Wasser gefischt hat.



»Holen Sie warmes Wasser.«



»Abgekocht?«



»Egal, Hauptsache warm …«



Mademoiselle Genévrier hatte der Comtesse den Puls gemessen und ihre Lider angehoben.



»Wie viele Tabletten haben Sie genommen?«



Mit der Stimme eines kleinen Mädchens antwortete sie:



»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht mehr … Lassen Sie mich nicht sterben.«



»Natürlich nicht, meine Liebe. Hier, trinken Sie.«



Sie legte ihr den Arm um die Schultern, stützte sie und hielt ihr ein Glas an die Lippen.



»Steht es schlimm?«



»Trinken Sie!«



Ganz in der Nähe, in der Avenue Marceau, zog sich Doktor Frère in aller Eile an, schnappte sich seine Tasche, verließ das in tiefem Schlaf liegende Haus und stieg in seinen Wagen, der am Straßenrand stand.



Die Marmorhalle des George-V war menschenleer, bis auf den Mann am Empfang, der hinter der Mahagonitheke eine Zeitung las, und den Concierge, der gar nichts tat.



»332«, sagte der Arzt im Vorbeigehen.



»Ich weiß.«



Die Telefonistin hatte ihm Bescheid gegeben.



»Soll ich einen Krankenwagen rufen?«



»Mal sehen.«



Doktor Frère kannte die meisten Zimmer und Suiten des Hotels. Wie die Krankenschwester klopfte er sozusagen symbolisch an, trat ein, legte den Hut ab und ging ins Schlafzimmer.



Jules hatte sich, nachdem er einen Topf warmes Wasser gebracht hatte, in eine Ecke zurückgezogen.



»Eine Vergiftung, Herr Doktor. Ich habe ihr …«



Sie wechselten ein paar Worte im Telegrammstil, die an einen Geheimcode denken ließen, während die Comtesse, immer noch von der Schwester gestützt, heftigen Schluckauf bekam und sich dann übergab.



»Jules!«



»Ja, Herr Doktor.«



»Das Amerikanische Krankenhaus in Neuilly soll einen Krankenwagen schicken.«



Das alles war nicht weiter ungewöhnlich. Die Telefonistin, Kopfhörer über den Ohren, wandte sich an eine Kollegin, die drüben in Neuilly Nachtdienst hatte.



»Meine Liebe, ich weiß auch nichts Genaues. Es geht um die Comtesse Palmieri, der Arzt ist bei ihr oben.«



In der 332 klingelte das Telefon. Jules nahm den Hörer ab und wiederholte:



»Der Krankenwagen ist in zehn Minuten hier.«



Der Arzt legte die Spritze, mit der er der Comtesse eben eine Injektion gegeben hatte, wieder in seine Tasche.



»Soll ich sie anziehen?«



»Wickeln Sie sie in eine Decke, das wird reichen. Wenn Sie irgendwo einen Koffer sehen, packen Sie ihr ein paar Sachen ein. Sie wissen besser als ich, was sie braucht.«



Eine Viertelstunde später trugen zwei Sanitäter die kleine Comtesse hinunter und hievten sie in den Krankenwagen. Doktor Frère setzte sich in sein eigenes Auto.



»Ich werde mit Ihnen ankommen.«



Er kannte die Sanitäter, und sie kannten ihn. Er kannte auch die Dame am Empfang des Krankenhauses, mit der er kurz sprach, und den diensthabenden jungen Arzt. Diese Leute redeten nur wenig, in ihrem eigenen Code, da sie oft zusammenarbeiteten.



»Zimmer 41 ist frei.«



»Wie viele Tabletten?«



»Sie erinnert sich nicht mehr. Das Röhrchen war leer.«



»Hat sie sich übergeben?«



Die Krankenschwester hier war Doktor Frère genauso vertraut wie die im George-V. Während sie sich um die Patientin kümmerte, konnte er sich endlich eine Zigarette anzünden.



Magenspülung. Puls. Noch eine Spritze.



»Jetzt können wir sie nur noch schlafen lassen. Messen Sie jede halbe Stunde ihren Puls.«



»Ja, Doktor.«



Er fuhr mit einem Fahrstuhl hinunter, der genauso aussah wie der im Hotel, und gab der Dame am Empfang Anweisungen, die sie sich notierte.



»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«



»Noch nicht.«

 



Er sah auf die schwarz-weiße Wanduhr. Halb fünf.



»Verbinden Sie mich bitte mit dem Kommissariat in der Rue de Berry.«



Dort standen Fahrräder vor der Tür, im Schein der Straßenlaterne. Drinnen spielten zwei junge Polizisten Karten, und ein Brigadier machte sich Kaffee auf einem Spirituskocher.



»Hallo? Kommissariat Rue de Berry … Doktor wie? … Doktor Frère? … Wie Bruder? … In Ordnung. Ich höre … Einen Augenblick.«



Der Brigadier nahm einen Bleistift und schrieb die Meldung auf einen Zettel.



»Ja … Ja … Ich füge hinzu, dass Sie Ihren Bericht noch schicken. Ist sie tot?«



Er legte auf und sagte zu den beiden anderen, die ihn fragend ansahen:



»Ein Gardénal im George-V.«



Für ihn bedeutete das bloß mehr Arbeit. Seufzend nahm er den Hörer ab:



»Zentrale! … Hier Kommissariat Rue de Berry … Bist du’s, Marchal? … Na, wie läuft’s bei euch? … Hier ist alles ruhig … Du meinst die Schlägerei? … Nein, wir haben sie nicht dabehalten. Einer von denen kennt einen Haufen Leute, verstehst du? Ich musste den Kommissar anrufen, und der hat gesagt, ich soll sie laufen lassen.«



Es ging um eine Schlägerei in einem Nachtlokal in der Rue de Ponthieu.



»Nun gut! Ich hab hier noch was. Ein Gardénal. Schreibst du mit? … Comtesse … Ja, eine Comtesse … Echt oder falsch, was weiß ich? Palmieri. P wie Paula, A wie Anton, L wie Ludwig, M wie … Ja, Palmieri. Hôtel George-V. Suite 332 … Doktor Frère … Das Amerikanische Krankenhaus in Neuilly … Ja, sie hat was gesagt. Sie wollte sterben, dann hat sie’s sich doch anders überlegt. Die alte Leier.«



Um halb sechs befragte Inspektor Justin vom 8. Arrondissement den Concierge des George-V, machte sich ein paar Notizen, sprach dann mit Jules, dem Kellner, und begab sich anschließend zum Krankenhaus in Neuilly, wo ihm mitgeteilt wurde, dass die Comtesse schlafe und außer Lebensgefahr sei.



Um acht Uhr morgens nieselte es immer noch, aber der Himmel war klar. Lucas, der etwas erkältet war, setzte sich an seinen Schreibtisch am Quai des Orfèvres, wo ihn die Meldungen der vergangenen Nacht erwarteten.



Dabei stieß er auf die in knappen Worten festgehaltene Schlägerei in der Rue de Ponthieu, las von einem guten Dutzend aufgegriffener Mädchen, von Betrunkenen, einer Messerstecherei in der Rue de Flandre und anderen, nicht unüblichen Zwischenfällen.



Außerdem informierten ihn sechs Zeilen über den Suizidversuch der Comtesse Palmieri, geborene La Salle.



Maigret, den die Sache mit der Tochter des Abgeordneten beunruhigte, kam um neun Uhr.



»Hat der Chef schon nach mir gefragt?«



»Nein, noch nicht.«



»Ist etwas Wichtiges dabei?«



Lucas zögerte kurz, entschied dann, dass ein Suizidversuch, selbst einer im George-V, kein wichtiges Ereignis war, und antwortete:



»Nein.«



Er ahnte nicht, dass er damit einen Fehler beging, der Maigret und der ganzen Kriminalpolizei noch das Leben schwer machen sollte.



Als die Klingel im Gang ertönte, verließ der Kommissar mit einigen Akten in der Hand sein Büro und begab sich mit den anderen Abteilungsleitern zum Chef. Man besprach die laufenden Fälle, aber da er ja noch nichts von ihr wusste, erwähnte Maigret die Comtesse Palmieri nicht.



Um zehn war er wieder in seinem Büro und begann, die Pfeife im Mund, mit einem Bericht über einen bewaffneten Raubüberfall, der sich drei Tage zuvor zugetragen hatte. Wegen der Baskenmütze, die am Tatort gefunden worden war, hoffte Maigret, schon bald die Schuldigen festnehmen zu können.



Zur selben Zeit saß ein gewisser John T. Arnold im Hôtel Scribe an den Grands Boulevards beim Frühstück und griff, noch in Pyjama und Morgenrock, zum Telefon.



»Hallo, Mademoiselle. Verbinden Sie mich bitte mit Colonel Ward im Hôtel George-V.«



»Sofort, Monsieur Arnold.«



Monsieur Arnold war nämlich ein Stammgast, der fast das ganze Jahr über im Scribe wohnte.



Die Telefonistin vom Scribe und die vom George-V kannten sich, ohne einander je gesehen zu haben, wie sich die meisten Telefonistinnen nun mal kennen.



»Hallo, Liebes, verbindest du mich mal mit Colonel Ward?«



»Für Arnold?«



Die beiden Männer telefonierten gewöhnlich mehrmals am Tag miteinander, und der Anruf um zehn Uhr morgens war schon Tradition.



»Er hat noch nicht nach seinem Frühstück geläutet. Soll ich trotzdem anrufen?«



»Warte kurz. Ich frage Monsieur Arnold.«



Sie stöpselte um.



»Monsieur Arnold? Der Colonel hat noch nicht nach seinem Frühstück geläutet. Soll ich ihn wecken lassen?«



»Hat er eine Nachricht für mich hinterlegt?«



»Man hat mir nichts ausgerichtet.«



»Es ist doch schon zehn …«



»Zehn nach zehn.«



»Dann rufen Sie an.«



Wieder wurde umgestöpselt.



»Du kannst ihn anrufen, Liebes. Ich hoffe, er schimpft nicht.«



Stille in der Leitung. In der Zwischenzeit konnte die Telefonistin vom Scribe drei Gespräche vermitteln, darunter eins nach Amsterdam.



»Hallo? Du denkst an meinen Colonel, Liebes?«



»Ich lasse es schon die ganze Zeit klingeln. Er antwortet nicht.«



Wenige Augenblicke später rief die Telefonistin vom Scribe erneut im George-V an.



»Hör mal, Liebes. Ich habe Monsieur Arnold gesagt, dass der Colonel nicht antwortet. Er behauptet, dass das nicht sein kann, dass der Colonel seinen Anruf um zehn Uhr erwartet und dass es dringend ist.«



»Ich probier’s noch mal.«



Nach einem weiteren vergeblichen Versuch:



»Warte kurz. Ich frage beim Concierge nach, ob er ausgegangen ist.«



Stille.



»Nein. Sein Schlüssel hängt nicht am Brett. Was soll ich machen?«



Oben in seiner Suite wurde John T. Arnold allmählich ungeduldig.



»Was ist, Mademoiselle? Haben Sie mein Gespräch vergessen?«



»Nein, Monsieur Arnold. Der Colonel antwortet nicht. Der Concierge hat ihn nicht weggehen sehen und sein Schlüssel hängt nicht am Brett.«



»Dann schicken Sie den Kellner, er soll mal klopfen.«



Inzwischen war es nicht mehr Jules, sondern ein Italiener namens Gino, der den Dienst im dritten Stock verrichtete, wo Colonel Wards Suite lag, fünf Türen neben der Suite der Comtesse.



Der Kellner rief den Concierge an:



»Er antwortet nicht, und die Tür ist abgeschlossen.«



Der Concierge wandte sich an seinen Assistenten:



»Schau mal nach.«



Nun klingelte der Assistent, klopfte und rief:



»Colonel Ward?«



Dann zog er einen Generalschlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür.



In der Suite waren die Läden geschlossen, auf einem Tisch im Salon brannte eine Lampe. Im Schlafzimmer war ebenfalls Licht, das Bett für die Nacht aufgeschlagen, der Pyjama ausgebreitet.



»Colonel Ward?«



Auf einem Stuhl türmte sich ein dunkler Kleiderberg, Socken lagen verstreut auf dem Teppich, daneben zwei Schuhe, die Sohle des einen zeigte nach oben.



»Colonel Ward!«



Die Tür zum Badezimmer war angelehnt. Der Assistent des Concierge klopfte erst an, stieß dann die Tür auf und sagte nur:



»Sch…«



Fast hätte er vom Schlafzimmer aus telefoniert, aber er wollte keinen Augenblick länger dableiben, schloss die Tür und rannte, ohne an den Fahrstuhl zu denken, die Treppe hinunter.



Drei Gäste umringten den Concierge, der gerade die Abflugzeiten der transatlantischen Linien studierte. Sein Assistent flüsterte ihm ins Ohr:



»Er ist tot.«



»Moment …«



Erst einen Augenblick später verstand der Concierge, was das Gehörte bedeutete.



»Was sagst du da?«



»Tot. In der Badewanne.«



Auf Englisch bat der Concierge die Gäste, ihn kurz zu entschuldigen. Er ging durch die Halle und beugte sich über den Empfangstresen.



»Ist Monsieur Gilles in seinem Büro?«



Jemand nickte. Also klopfte er an eine Tür links hinter dem Empfang.



»Entschuldigen Sie, Monsieur Gilles. Ich habe gerade René zum Colonel geschickt. Anscheinend liegt er tot in der Badewanne.«



Monsieur Gilles trug eine gestreifte Hose und ein Jackett aus schwarzem Cheviot. Er wandte sich an seine Sekretärin:



»Rufen Sie sofort Doktor Frère an. Um diese Zeit macht er vermutlich Hausbesuche. Versuchen Sie, ihn aufzutreiben.«



Monsieur Gilles wusste so einiges, von dem die Polizei noch keine Ahnung hatte. Monsieur Albert, der Concierge, ebenfalls.



»Was halten Sie davon, Albert?«



»Vermutlich dasselbe wie Sie.«



»Sie haben von der Sache mit der Comtesse gehört?«



Ein Nicken genügte.



»Ich gehe hoch.«



Da er das nicht allein tun mochte, nahm er einen der jungen Empfangsangestellten im Cut und mit gegeltem Haar mit. Im Vorbeigehen sagte er zum Concierge, der wieder an seinem Platz war:



»Holen Sie die Schwester. Schicken Sie sie gleich in die 347.«



Die Halle war jetzt nicht mehr leer wie in der Nacht. Die drei Amerikaner beratschlagten immer noch, welches Flugzeug sie nehmen sollten. Ein eben eingetroffenes Ehepaar füllte am Empfang den Meldezettel aus. Die Blumenverkäuferin und die Zeitungsverkäuferin waren auf ihrem Posten, und auch der Schalter für Theaterkarten war geöffnet. In den Sesseln warteten ein paar Leute, darunter die erste Verkäuferin eines großen Modehauses, die einen Kleiderkarton dabeihatte.



Oben in der 347 stand der Direktor auf der Schwelle zum Badezimmer und wandte den Blick vom dicken Körper des Colonels ab, der so merkwürdig in der Badewanne lag. Sein Kopf war unter Wasser, nur der Bauch ragte heraus.



»Ruf die …«



Er stockte, als im Schlafzimmer das Telefon klingelte, und stürzte zum Apparat.



»Monsieur Gilles?«



Es war die Telefonistin.



»Ich habe Doktor Frère erreicht, bei einem Patienten in der Rue François-I

er

. In ein paar Minuten ist er hier.«



Der junge Mann vom Empfang fragte:



»Wen soll ich rufen?«



Natürlich die Polizei. Bei einem derartigen Vorfall ist das unumgänglich. Monsieur Gilles kannte den Kommissar des Viertels, aber die beiden Männer mochten sich nicht sonderlich. Außerdem fehlte es den hiesigen Beamten am nötigen Fingerspitzengefühl für eine Ermittlung in einem Hotel wie dem George-V.



»Ruf die Kriminalpolizei an.«



»Wen?«



»Den Direktor.«



Obwohl sie einander schon öfter bei Diners begegnet waren, hatten sie nie länger miteinander geredet. Aber es genügte, dass sie sich kannten.



»Hallo? Ist dort der Direktor der Kriminalpolizei? … Entschuldigen Sie bitte die Störung, Monsieur Benoit … Hier Gilles, der Direktor vom George-V … Hallo! Eben ist hier … Ich meine, ich habe eben entdeckt …«



Er wusste nicht, wie er es sagen sollte.



»Es handelt sich leider um eine bedeutende, international bekannte Persönlichkeit. Colonel Ward … Ja, David Ward. Ein Angestellter hat ihn tot in der Badewanne gefunden … Nein, mehr weiß ich nicht. Ich wollte Sie gleich anrufen. Der Arzt wird jeden Augenblick hier sein. Ich gehe davon aus, dass Sie …«



… die Sache diskret behandeln, selbstverständlich. Er wollte auf keinen Fall, dass das Hotel von Journalisten und Fotografen belagert wurde.



»Nein. Natürlich nicht. Ich verspreche Ihnen, es wird nichts angerührt. Ich werde selbst in der Suite warten. Ah, da kommt gerade Doktor Frère. Wollen Sie ihn sprechen?«



Der Arzt, der noch nicht wusste, warum er gerufen worden war, nahm den Hörer entgegen.



»Doktor Frère am Apparat. Hallo! … Ja … Ich war bei einem Patienten und bin gerade eingetroffen … Was sagen Sie? … Nein, mein Patient war er nicht, aber ich kenne ihn. Ich habe ihn behandelt, als er mal eine leichte Grippe hatte … Wie? … Nein, im Gegenteil, sehr robust, trotz seines Lebenswandels. Entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe den Toten noch nicht gesehen … Verstanden … Ja … Ja … Ich habe verstanden … Bis später. Möchten Sie den Hoteldirektor noch einmal sprechen? … Nein?«



Er legte auf und fragte: »Wo ist er?«



»In der Badewanne.«



»Der Leiter der Kriminalpolizei bittet darum, nichts anzufassen, bis er jemanden herschickt.«



Monsieur Gilles wandte sich an den jungen Angestellten vom Empfang:



»Du kannst wieder runtergehen. Versucht, die Leute von der Kriminalpolizei abzupassen, und bringt sie unauffällig hoch. Und bitte kein Wort darüber in der Halle. Verstanden?«



»Ja, Herr Direktor.«



Es klingelte in Maigrets Büro.



»Kommen Sie kurz zu mir?«

 



Es war das dritte Mal, dass der Kommissar bei der Abfassung seines Berichts über den Raubüberfall gestört wurde. Er zündete seine erloschene Pfeife wieder an und ging durch den Flur zum Chef.



»Kommen Sie herein, Maigret. Nehmen Sie Platz.«



Allmählich mischten sich Sonnenstrahlen in den Regen und einer ließ das bronzene Tintenfass des Chefs aufleuchten.



»Kennen Sie Colonel Ward?«



»Sein Name stand öfter in der Zeitung. Das ist doch der mit den drei, vier Frauen?«



»Er wurde tot in seiner Badewanne gefunden, im George-V.«



Maigret zuckte nicht mit der Wimper, in Gedanken noch ganz bei seinem Raubüberfall.



»Ich glaube, es wäre das Beste, wenn Sie sich darum kümmern. Der Arzt, mit dem ich gerade gesprochen habe, ist mehr oder weniger zuständig für das Hotel, er meint, dass der Colonel kerngesund war und seines Wissens nie Herzbeschwerden hatte. Die Presse wird sich brennend für den Fall interessieren, nicht nur die französische, auch die internationale …«



Maigret verabscheute solche Geschichten um bekannte Persönlichkeiten, die man nur mit Samthandschuhen anfassen durfte.



»Ich fahre hin«, sagte er.



Der Bericht musste warten. Mit mürrischer Miene öffnete der Kommissar die Tür zum Inspektorenbüro und überlegte, wen er mitnehmen sollte. Janvier war da, aber ebenfalls mit dem Raubüberfall befasst.



»Geh in mein Büro und versuch, meinen Bericht weiterzuschreiben. Du, Lapointe …«



Erfreut hob der junge Lapointe den Kopf.



»Setz deinen Hut auf. Du kommst mit mir.«



Dann sagte er zu Lucas:



»Falls jemand nach mir fragt, ich bin im George-V.«



»Wegen dieser Vergiftung?«



Das war ihm herausgerutscht. Lucas errötete.



»Was für eine Vergiftung?«



Lucas stotterte:



»Die Comtesse …«



»Welche Comtesse?«



»Heute früh gab es eine Meldung über einen Suizidversuch im George-V, eine Comtesse mit italienischem Namen. Ich habe Ihnen nichts davon gesagt, weil …«



»Wo ist der Rapport?«



Lucas wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch und zog ein Formular heraus.



»Sie ist nicht tot. Deswegen …«



Maigret überflog die wenigen Zeilen.



»Ist sie befragt worden?«



»Ich weiß nicht. Jemand vom 8. Arrondissement war im Krankenhaus in Neuilly. Ich weiß nicht, ob sie ansprechbar war.«



Maigret ahnte nicht, dass die Comtesse Palmieri und Colonel David Ward in der vergangenen Nacht kurz vor zwei vor dem George-V aus einem Taxi gestiegen waren und der Concierge sich nicht darüber gewundert hatte, dass sie zusammen ihre Schlüssel abholten.



Auch der Etagenkellner Jules war nicht überrascht gewesen, als er, nachdem man in Suite 332 nach ihm geklingelt hatte, den Colonel bei der Comtesse angetroffen hatte.



»Wie immer, Jules«, hatte sie gesagt.



Also eine Flasche Krug 1947 und eine noch original verkorkte Flasche Johnnie Walker. Der Colonel trank keinen Whisky, den er nicht selbst entkorkt hatte.



Lucas hatte mit einer Rüge gerechnet, aber viel tiefer traf ihn Maigrets überraschter Blick, als hätte der nie mit einer solchen Fehleinschätzung seines ältesten Mitarbeiters gerechnet.



»Komm, Lapointe.«



Im Flur begegneten sie einem kleinen Gauner, den Maigret vorgeladen hatte.



»Komm heute Nachmittag wieder!«



»Wann genau, Chef?«



»Wann du willst.«



»Nehmen wir einen Wagen?«, fragte Lapointe.



Sie nahmen einen. Lapointe setzte sich ans Steuer. Der Wagenmeister vom George-V hatte bereits Anweisungen erhalten.



»Sie können den Wagen hierlassen. Ich mache das schon.«



Alle hatten Anweisungen erhalten. Bei jedem Schritt, den sie taten, öffnete sich den beiden Polizisten eine Tür, und im Handumdrehen waren sie in der 347, wo der Direktor, telefonisch von ihrer Ankunft unterrichtet, sie bereits erwartete.



Maigret hatte nicht oft im George-V ermittelt, aber zwei-, dreimal war er schon gerufen worden, und er kannte Monsieur Gilles, dem er jetzt die Hand gab. Doktor Frère stand im Salon neben einem kleinen Tisch, auf dem er seine schwarze Tasche abgestellt hatte. Er war ein vornehmer, sehr ruhiger Mann, zu dessen Patienten namhafte Persönlichkeiten zählten und der fast genauso viele Geheimnisse kannte wie Maigret. Allerdings bewegte er sich in einer Welt, zu der die Polizei nur selten Z