Kitabı oku: «Perlen ohne Glanz»
Gerd Willms
PERLEN OHNE GLANZ
Mit dem Herzen sieht man mehr
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
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Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Bild Pony: Mit Erlaubnis der Besitzerin verwendet
Coverbild „Wasserfall“ © Gerd Willms
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Widmung
Für meine Enkelin Eline

Dank
Herzlich danke ich meiner Tochter Melanie für ihre wertvollen Anregungen sowie dem Lektor Friedhelm Zühr und der Lektorin Daniela Lorenz für die Korrektur des Manuskripts.
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Danksagung
Ein »Pferde-Schweinchen«
Mit dem Herzen gesehen
Ein Präsidenten-Pferd
Unglück im Glück
Eine Perle ohne Glanz
Eine strahlende Frau
Ein guter Mann
Ein lieber »Großvater«
Verträumte Reitstunde
Strahlende Zukunft?
Ein dunkler Plan
Getrübtes Glück
Geblendete Gefühle
Ein dunkles Loch
Blinde Wut
Ein trüber Tag
Bedrückte Herzen
Neuer Glanz
Auftrag in der Schattenwelt
Liebes-Leuchten
Ein strahlendes Kind
Glänzende Aussichten
Ein glanzvolles Fest
Große Ausstrahlung
Ein freudiges »Ja«
Glänzende Augen
Pure Lebensfreude
EIN »PFERDE-SCHWEINCHEN«
Auf einem Bauernhof lebten drei verschiedene Pferde friedlich miteinander. So unterschiedlich sie auch waren, eines hatten sie gemeinsam: Sie wussten alle drei nicht, dass sich bald alles ändern würde. Boo war das größte und stärkste Pferd. Er hatte ein wunderschönes braunes Fell, das in der Sonne rötlich glänzte. Sein langer buschiger Schwanz reichte fast bis zum Boden. Auf seine volle Mähne konnte Boo besonders stolz sein. Das andere Pferd hieß Sina. Sie war die schönste der drei Pferde. Und sie war auch die schnellste von allen. Sina war eine Stute, trug ein schwarz-weiß geflecktes Fell und hatte lange schlanke Beine.
Bauer Erwin liebte den kräftigen Boo sehr. Zu allen Leuten sagte er: »Schaut doch mal diese Muskeln und dieses glänzende Fell an.«
Am liebsten erzählte er die Geschichte vom Traktor, den Boo aus dem Dreck gezogen hatte. »Mein Traktor blieb im nassen Boden stecken. Ich konnte nicht vorwärtsfahren und auch nicht rückwärts. ›So ein Mist‹, schimpfte ich. Was sollte ich bloß machen? Dann kam mir eine gute Idee: Ich legte Boo das Geschirr an und band ein dickes Seil an die beiden Zugriemen. Das andere Ende knüpfte ich an den Traktor. ›Los, Boo, zieh!‹, rief ich. Boo strengte sich an, seine Muskeln wurden immer dicker. Und siehe da: der Traktor bewegte sich. ›Bravo, Boo, mach weiter. Du schaffst es, zieh, zieh!‹ Boo strengte sich noch mehr an. Er stemmte seine starken Beine mit aller Kraft gegen den Boden. Aus seiner Nase strömte heiße Luft wie aus einem Dampfkessel, so sehr schnaufte er. Schritt um Schritt ging es langsam vorwärts. Und dann hatte Boo es geschafft: Der Traktor stand wieder auf festem Boden.«
Sina war ein Rennpferd. »Das ist meine Renn-Maus«, sagte Bauer Erwin stolz. »Sie war einmal das schnellste Pferd in der Gegend und hat schon viele Preise gewonnen.« Bauer Erwin liebte sein schnelles Pferd, den eleganten Körper und das schöne Fell. Wenn Boo und Sina in der Pferdekuppel um die Wette liefen, war Bauer Erwin immer für Sina.
Vor lauter Freude an seinen beiden großen Pferden vergaß Bauer Erwin manchmal, dass er ja noch ein drittes Pferd besaß. Es war eine Stute: nicht groß, nicht stark, nicht schnell. Ein schönes Fell hatte sie auch nicht – »zu zottelig« für Bauer Erwins Geschmack. Es war grauschwarz, meist etwas schmuddelig, denn nach dem Regen klebten ihre langen Haare zusammen. Bauer Erwin fand, dass sie dann wie ein Schwein aussah, das sich gerade im Dreck gesuhlt hatte. Dieses kleine »Pferde-Schweinchen« – so nannte er es manchmal – hieß Lia.
Als ein Besucher Bauer Erwin fragte, was er eigentlich mit dem Pony mache, erzählte er, wie Lia zu ihm gekommen war. So als wollte er sich entschuldigen, dass er überhaupt ein so nutzloses Pferd auf seinem Hof hielt. »Ja«, sagte er und kratzte sich am Kopf, »das kleine Pferde-Schweinchen habe ich aus Mitleid gekauft. Ein Bauer aus dem Nachbardorf wollte Lia nach Frankreich verkaufen. Da tat sie mir leid, und ohne zu überlegen, bot ich ein bisschen mehr Geld als der Mann aus Frankreich. Lia lebt nun schon ein ganzes Jahr bei mir.« Er schaute auf den Boden und machte ein trauriges Gesicht. »Ich weiß das so genau, weil meine Frau vor einem Jahr starb.« Ohne dass der Besucher weiter fragte, erklärte er: »Sie tut ja keinem was, und das bisschen Futter habe ich schon noch übrig für sie. Ach ja«, lenkte er die Aufmerksamkeit schnell wieder auf seine beiden anderen Pferde, »Sina kann auch hoch springen, und Boo – auf dem kann man auch reiten.«
Bauer Erwin behandelte Lia gut, aber stolz war er nicht auf sie. Stolz war er nur auf Boo und auf Sina. Sie waren seine Lieblinge.
MIT DEM HERZEN GESEHEN
Bauer Erwin war vor Kurzem sechzig Jahre geworden. Seine Frau hatte ihn »verlassen«. So hatte es sich angefühlt, als sie starb. Weil er keine Kinder hatte, lebte er allein auf dem Bauernhof und musste viel arbeiten. Wenn er in den Spiegel schaute, sah er einen Mann, der sich in den letzten Monaten verändert hatte. Seine kurz geschnittenen Haare waren grauer geworden, seine Nase länger und seine hellbraunen Augen trüber. Seine Stirn schien ihm runzliger und seine Falten im Gesicht tiefer.
Eines Tages setzte er sich in sein Auto und fuhr ins Dorf. Er sah nicht glücklich aus. Zuerst ging er in einen Holzladen und kaufte ein großes Brett. Dann schlenderte er in ein Farbengeschäft und kaufte verschiedene Farben und zwei Pinsel. Alles packte er in sein Auto und fuhr nach Hause. Das Brett, die Farbe und die beiden Pinsel brachte er in sein Arbeitszimmer und legte alles in eine Ecke. Er räumte seinen Arbeitstisch frei, legte das Brett darauf und setzte sich auf den Stuhl. Dabei stieß er laut die Luft aus, als hätte er etwas Schweres abgelegt, und saß erst mal ein paar Sekunden mit gekrümmtem Rücken da. Dann richtete er sich auf, holte tief Luft und kramte in der Schublade herum. Endlich fand er, was er suchte: ein Lineal. Er nahm einen Bleistift und fing an zu zeichnen.
Zuerst zog er mehrere gerade Linien über das Brett, dann malte er Buchstaben über die Linien. Zuerst ein »P«, dann ein »f«, ein »e«, ein »r«, ein »d« und wieder ein »e«: Pferde. Als er den Rest schrieb, wurde er etwas ruhiger. Aber die Buchstaben ließen erkennen, dass seine Hand gezitterte hatte. Und die Tropfen auf dem Brett zeigten, wie traurig er war. Er fummelte ein dreckiges Taschentuch aus seiner rechten Hosentasche hervor und wischte die Tränen vom Brett.
Nach einer halben Stunde stand er auf. Er hustete und hustete. Davon wurde er sehr müde und musste sich erst einmal ausruhen. Er ging in die Küche, füllte ein Glas mit Wasser, steckte eine große Tablette in den Mund und trank das Glas leer. Dann schlurfte er ins Wohnzimmer und legte sich auf die Couch. »Ach ja, ich bin alt geworden«, sagte er und schlief ein.
Nach einer Stunde wurde Bauer Erwin wieder wach. Er streckte sich, setzte sich grade hin und machte einen geraden Rücken. Dann ließ er die Arme kreisen, einmal rückwärts, einmal vorwärts, und wackelte ein bisschen mit dem Kopf hin und her. Er atmete schwer und stand langsam auf. »Na, siehst, es geht ja wieder!«, sagte er zu sich selbst.
Dann holte er die Farben und die Pinsel, setzte sich an den Tisch und malte die Buchstaben aus. Als er fertig war, bohrte er an jedem Ende des Brettes ein Loch und zog eine dicke Schnur durch. Vorsichtig nahm er das Brett, ging zur Straße und band es ans Tor. Dann schleppte er sich mit schweren Schritten auf die andere Straßenseite und schaute zurück. Ja, es war gelungen, alle Leute, die vorbeikamen, konnten lesen:
PFERDE ZU VERKAUFEN
Gebückt tippelte er mit kurzen Schritten wieder zurück. »Es ist besser so«, sagte er leise und zog seine Hose hoch.
Schon zwei Tage später kam der erste Käufer: ein dicker Mann aus dem Nachbardorf, den Erwin gut kannte. Er hieß Klaus. »Ich brauche ein starkes Pferd«, sagte er. »Ich arbeite im Wald und manchmal komme ich mit meinen Maschinen nicht nah genug an die gefällten Baumstämme ran. Ein starkes Pferd würde mir helfen, die Stämme aus dem Gebüsch zu ziehen. Ich weiß, dein Boo ist nicht mehr der Jüngste, aber er muss ja auch nicht jeden Tag arbeiten. Ich werde ihn gut behandeln.«
Bauer Erwin dachte: Vielleicht kommt noch ein besseres Angebot, ich warte noch ein bisschen, bevor ich zusage.
»Vielen Dank«, sagte er freundlich, »ich werde mich in den nächsten Tagen bei dir melden.« Er schrieb die Telefonnummer auf und verabschiedete den dicken Klaus.
Zwei Tage später stöckelte eine freundliche Frau auf hohen Absätzen auf den Hof von Bauer Erwin. »Ich heiße Sandra Heilmann«, stellte sie sich vor. »Sie werden sicher schon von mir gehört haben, ich gewann vor zwei Jahren den ersten Preis im Kunstreiten.« Bevor Bauer Erwin eine Frage stellen konnte, erklärte sie: »Ich will das Pferd dem Kinderheim schenken.« Dann machte sie ein mitleidvolles Gesicht und sprach mit weinerlicher Stimme: »Die armen Kinder im Heim tun mir so leid, ich will ihnen eine Freude bereiten.« Sie wartete ab, wie Bauer Erwin reagierte.
Der war ganz erstaunt und sagte: »Das ist aber sehr lieb von Ihnen, so viel Geld für die Kinder auszugeben.« Er zeigte ihr Sina, denn nur die kam infrage, dachte er sich.
Sandra Heilmann stellte befriedigt fest, dass Bauer Erwin ihr die Geschichte glaubte. »Ich werde den Kindern natürlich auch Reitunterricht geben«, fügte sie noch an, um Bauer Erwin zu überzeugen, dass sie die richtige Käuferin für die schöne und schnelle Sina war.
Bauer Erwin war froh, wenn sein schnelles Pferd Sina in ihrem Alter noch ein gutes Werk tun konnte und beschloss im Stillen, sie an Sandra Heilmann zu verkaufen. Aber er wollte noch ein paar Tage abwarten. Wer weiß, sagte er sich, vielleicht kommt jemand, dem ich meine Renn-Maus noch lieber gebe.
Weil Frau Heilmann von armen Kindern gesprochen hatte, fiel ihm eine alte hässliche Geschichte ein, die er vor Jahren im Radio gehört hatte. Es ging um einen Unfall mit einem Pferd und einem Kind. Er hatte sich aber nie genauer damit beschäftigt.
Der Namen Sandra Heilmann sagte ihm nichts, aber er wollte der Frau gegenüber auch nicht unhöflich sein. Es würde ihm sicher später einfallen, um welche Kunstreiterin es sich handelte.
Nun blieb nur noch sein Pferde-Schweinchen übrig, für das sich niemand interessierte. Bauer Erwin sagte sich: Ich verstehe die Leute. Wer will schon so ein kleines nutzloses Pferd haben? Wenn es wenigstens ein bisschen schöner aussehen würde! Aber so, na ja, ich würde das Pony auch nicht kaufen. Aber ich werd es schon los, der Schlachter nimmt es gern.
Er ging zur Koppel und rief seine Gäule zu sich. Wie immer kümmerte er sich vor allem um den starken Boo und die schnelle Sina. So schöne Pferde, dachte er und gab ihnen etwas Hafer und streichelte sie am Kopf. Lia bekam auch etwas hingeworfen, aber sie liebevoll zu streicheln oder ihr einen Klaps zu geben – auf die Idee war er noch nicht gekommen.
Bauer Erwin hatte Lia eigentlich noch nie richtig angeschaut. Sie war einfach da, fast wie eine Sache, die man eben hat. Immer hatte er nur Augen für seine beiden anderen Pferde gehabt. Heute änderte sich das.
Lia schaute ihn von der Seite an. Er sah ihre runden braunen Augen, die so treuherzig dreinschauten. Fast könnte man meinen, sie sei traurig. Meist waren ihre Augen von ihren Stirnfransen verdeckt. Dann bemerkte er auch ihre kleinen süßen Ohren, die sie ihm entgegenstreckte, als wollte sie hören, was er ihr zu sagen hatte. Hatte sie ihn schon immer so angeschaut?
Warum habe ich Lia so lange übersehen?, fragte er sich jetzt. Sie ist doch so herzig! Und bestimmt kann sie etwas, was die anderen beiden Pferde nicht können. Das müsste man herausfinden, dachte er. Aber dann verdrängte er seine Gedanken wieder, denn es war ja alles zu spät. Er musste sie abgeben, egal wohin. Und in den letzten Tagen noch zarte Gefühle für sie zu entwickeln, das wollte er nicht.
»Es tut mir leid, es ist zu spät, ich mag einfach nicht mehr«, sagte er laut zu Lia und kraulte zum ersten Mal ihre buschige Mähne. Er hatte in diesem Moment das Gefühl, Lia habe schon lange darauf gewartet und wolle ihm sagen: »Du hast mich immer übersehen, aber ich habe dich stets bewundert, weil du so gut zu uns Vierbeinern bist.«
EIN PRÄSIDENTEN-PFERD
Am zweiten Sonntag im Mai bog ein großes Auto auf seinen Hof. Gleich darauf folgten ein zweites und ein drittes. Langsam rollte das große Auto bis kurz vor die Haustür. Die beiden anderen blieben kurz nach der Einfahrt stehen. Bauer Erwin zog sich schnell die schönste Jacke über und ging nach draußen. Das sind ganz reiche Leute, dachte er, zum Glück habe ich mein starkes Pferd Boo und die schnelle Sina noch nicht verkauft. Jetzt kriege ich viel Geld.
Zuerst öffnete sich die linke Tür des grossen Wagens. Ein sportlicher Mann mit Pistole im Gurt stieg aus: »Sind Sie Bauer Erwin?«, fragte er, ohne zu grüßen.
»Ja, der bin ich, was kann ich für Sie tun?«
»Guten Tag, erst mal. Mein Chef möchte Sie sprechen.«
Jetzt erst öffnete sich die hintere rechte Tür des Wagens. Bauer Erwin war sehr aufgeregt, er merkte gar nicht, dass seine Hose flatterte. Als er sah, wer da auf seinen Hof gefahren war, wusste er nicht, was er tun sollte. »Gu… Gu… Guten Tag, Herr Präsident«, stotterte er. Zuerst ging er einen Schritt auf den Präsidenten zu, dann fiel ihm ein, dass er vielleicht doch lieber stehen bleiben sollte. Also trat er wieder einen Schritt zurück.
»Guten Tag, Herr Erwin«, grüßte ihn der Präsident so freundlich, als hätte er einen alten Bekannten getroffen.
Bauer Erwin wurde jetzt locker und fing an zu plappern wie ein Marktverkäufer: »Ich nehme an, Sie wollen ein starkes Pferd kaufen, da sind Sie bei mir genau richtig.« Dann dachte er an Sina und fügte schnell an: »Natürlich kann ich Ihnen auch ein schnelles Pferd verkaufen, Herr Präsident. Sagen Sie einfach, welches Pferd Sie wollen, Ihnen verkaufe ich es ganz bestimmt.«
Der Präsident hob den Arm, wie er es immer tat, wenn er wollte, dass die anderen ihm zuhörten. Bauer Erwin verstand und sagte sich: Vielleicht sollte ich einfach mal den Mund halten und hören, was der Präsident wirklich von mir will.
»Herr Erwin«, ergriff der Präsident nun das Wort. »Wie heißen Sie eigentlich mit Nachnamen?«
»Bauer – nein, natürlich nicht Bauer – das ist ja mein Beruf, ich heiße Hanke, Erwin Hanke.«
»Gut, Herr Hanke, ich bin heute zu Ihnen gekommen, weil ich ein Pferd von Ihnen kaufen will.«
Sofort holte Bauer Erwin Luft, um seine beiden Rösser, das starke und das schnelle, anzupreisen, aber der Präsident hob wieder seine Hand. Bauer Erwin machte den Mund wieder zu und kratzte sich vor Verlegenheit am Bauch.
»Herr Erwin, nein, Hanke sagten Sie, Herr Hanke, ich suche ein kleines ruhiges Pferd für meine kleine kranke Tochter. Haben Sie so ein Pferd?«
Bauer Erwin hörte erst mal kurz auf zu atmen, so überrascht war er. »Ja, ja, natürlich, aber …«
Wieder hob der Präsident seine Hand und Bauer Erwin schwieg. »Zeigen Sie mir das Pferd«, bat der Präsident. Er schaute seinen Leibwächter an und machte eine kaum sichtbare Kopfbewegung.
Der Mann mit der Pistole ging auf Bauer Erwin zu und bat ihn, nun sofort loszugehen. »Der Präsident hat wenig Zeit, wissen Sie«, tuschelte er ihm leise ins Ohr.
Bauer Erwin verstand, er war ja nicht dumm, und trottete sofort los. Dabei stolperte er über seine eigenen Füße und wäre auf dem Boden gelandet, wenn der Leibwächter ihn nicht aufgefangen hätte. Erst jetzt bemerkte er, dass er mit seinen alten kaputten Latschen vor dem Präsidenten gestanden hatte. Die beiden großen Zehen guckten vorn heraus. Und die Zehennägel hatte er auch schon lange nicht mehr geschnitten! Seine Wangen wurden heiß und rot, so sehr schämte er sich.
Der Präsident war begeistert von dem kleinen schwarzen Pferd. »Genau das richtige Pferd für meine kranke Tochter«, rief er seinem Leibwächter zu. »Sie liebt schwarze Pferde über alles. Wie heißt es denn?«
»Lia.«
»Und wie alt ist Lia?«
»Noch nicht alt, vielleicht drei Jahre.«
»Wie viel wollen Sie denn für Lia haben?«
Bauer Erwin überlegte rasch, was er jetzt sagen sollte. Der Präsident konnte sicher ein bisschen mehr zahlen als andere. Aber wenn er einen zu hohen Preis verlangte, würde der Präsident vielleicht nein sagen. Er war ja froh, Lia überhaupt loszuwerden. Dann nannte er eine Summe, die ein bisschen höher war, als die, die der Schlachthof ihm geben würde.
»Waaaas …?«, sagte der Präsident, als er die Summe hörte.
Bauer Erwin setze wieder zum Reden an, um ein bisschen weniger zu verlangen, aber der Präsident hatte seinen Arm nach oben bewegt und Bauer Erwin hatte inzwischen verstanden, dass er jetzt zuhören sollte, anstatt zu reden.
Der Präsident wandte sich an seine Begleiter mit der Pistole und machte eine winkende Handbewegung. Der griff sofort an den Gürtel und kramte ein ledernes Etui heraus. »Geben Sie ihm das Doppelte«, befahl er.
Bauer Erwin hatte vergessen, seinen Mund zuzumachen. Und jetzt riss er ihn noch weiter auf, so überrascht war er.
»Das Pferd wird morgen abgeholt«, sagte der Präsident. Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung Auto. Er gab Bauer Erwin die Hand, bedankte sich und redete davon, wie glücklich seine Tochter sein würde und dass er hoffe, dass das Pferd ihr helfen werde, wieder gesund zu werden.
Aber von all dem bekam Bauer Erwin nicht mehr viel mit. Erst, als die Autos vom Hof brausten, kam er wieder zu sich. Habe ich dem Präsidenten eigentlich danke gesagt?, fragt er sich.
Noch ziemlich verwirrt eilte er in seine Küche, füllte ein Glas mit Wasser, warf eine Tablette in den Mund und trank mit großen Schlucken alles aus. So was!, dachte er, nein, so was hatte er noch nie erlebt.
Lia! Ja, Lia durfte weiterleben. Er musste sie nicht schlachten lassen. Sie war nun ein »Präsidenten-Pferdchen«, kein Schweine-Pferdchen mehr. Und so eine schöne Aufgabe, dachte er sich. Lia darf der Präsidententochter helfen, wieder gesund zu werden.
Bauer Erwin schüttelte nachdenklich den Kopf und kratzte sich am Bauch. »Schade eigentlich, dass ich das nicht miterleben darf«, sagte er leise.
UNGLÜCK IM GLÜCK
Als Lia am nächsten Tag abgeholt wurde, wurde Bauer Erwin sehr traurig. Ich habe mein kleines Pferde-Schweinchen doch lieber gehabt, als ich dachte. Und er bekam jetzt ein schlechtes Gewissen. Ich hätte ihr wirklich ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken sollen.
Als das Auto mit dem Pferdeanhänger vom Hof gefahren war, setzte er sich auf einen Stuhl und ließ seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. An einem Bild blieb er hängen: Boo und Sina rannten mal wieder um die Wette. Sina leichtfüßig und schnell wie ein Reh. Boo dagegen stampfte mit seinen starken Füßen auf den Boden, er kam aber nicht so recht in Schwung. Und die kleine Lia? Ihre kurzen Beine bewegten sich zwar sehr schnell, was auch ganz putzig aussah, aber weil sie so kleine Schritte machte, kam sie einfach nicht voran und blieb weit zurück.
Bauer Erwin stand ruckartig auf, wischte sich mit dem Ärmel über seine Augen und sagte hart zu sich selbst: »Schluss jetzt, was vorbei ist, ist vorbei.«
Bald verließen auch Boo und Sina den Hof: Boo kam zum dicken Klaus und würde ihm helfen, Stämme aus dem Wald zu schleppen. Er hatte ja genug Kraft dafür. Sina würde die Kinder im Heim glücklich machen.
»Ja, ja«, seufzte Bauer Erwin traurig, »so ist das Leben. Aber ich habe wirklich keine Kraft mehr für all die Arbeit auf dem Bauernhof.«
Nach zwei Wochen verkaufte er den ganzen Hof.
Bauer Erwin hatte nun viel Geld auf der Bank. Er nahm sich ein Zimmer im Hotel und wollte sich erst mal gründlich ausruhen. Und überlegen, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Irgendwann musste er auch eine Wohnung für sich finden, ewig im Hotel leben wollte er nicht.
Abends dachte er: Ich bin ein reicher Mann. Morgens dachte er: Ich bin ein armer Mann. Vormittags dachte er: Ich bin ein glücklicher Mann, weil ich nicht mehr arbeiten muss. Und nachmittags dachte er: Ich bin ein unglücklicher Mann, weil ich keine Beschäftigung mehr habe. Was soll ich bloß den lieben langen Tag machen ohne Arbeit und ohne meine Pferde?
Jeden Tag kauft er sich eine Zeitung. Zeit zum Lesen hatte er ja jetzt. An einem Vormittag saß er zusammengesunken auf seinem Bett und blätterte in der Tageszeitung. Einfach mal durchblättern, dachte er, lesen kann ich später. Plötzlich richtete er sich auf und zog das Blatt näher ans Gesicht: »Neues Wohnheim für Senioren«, las er laut vor. »In ruhiger Umgebung, mit schönem Blick auf den See«, stand da. Mehr musste er nicht wissen. Er ging an die Rezeption und ließ die Nummer wählen.
»Ja, natürlich haben wir noch eine Wohnung frei, wir haben ja gerade erst eröffnet«, sagte eine freundliche Frauenstimme.
Zwei Stunden später lenkte Bauer Erwin – er war ja eigentlich kein Bauer mehr – seinen Wagen auf den Hof der schönen Anlage. Wie gepflegt alles war. Und die großartige Aussicht! Die Chefin des Hauses begrüßte ihn freundlich und zeigte ihm mehrere kleine Wohnungen. Es roch nach frischem Anstrich. Erwin durfte sich ein Appartement aussuchen. Es sollte nicht zu klein sein, aber auch nicht zu groß; nicht zu dunkel, aber auch nicht zu hell. Die Wohnung sollte ruhig sein, aber nicht zu ruhig; etwas höher liegen, aber auch nicht zu hoch. Er wollte auf das Wasser schauen können, aber auch auf den Wald und die Wiesen. Erwin brauchte mehr als eine Stunde bis er alles bedacht hatte und sich entscheiden konnte. Schlussendlich nahm er die Wohnung im zweiten Stock. Von hier aus konnte er nach rechts auf den See schauen, wenn er es wollte, aber auch links auf die Wiesen und den kleinen Wald, wenn ihm danach war.
Als er sich entschieden hatte, ging er glücklich zur Hausleitung und unterschrieb den Mietvertrag. So eine gute Wahl, dachte er. Ich habe genau die richtige Wohnung für mich gefunden. »Darf ich noch mal schnell nach oben gehen und sie anschauen?«, fragte er die Chefin, als alles geregelt war.
»Ja, selbstverständlich, sie gehört ja jetzt Ihnen und Sie haben ja schon den Schlüssel in der Tasche.«
Erwin ging voller Erwartung die Treppen hoch. In seine eigene Wohnung! Hoffentlich habe ich nichts übersehen, fing er an zu zweifeln, ob er wirklich richtig entschieden hatte. Er hätte auch den Lift nehmen können, aber das wollte er nicht. »Wer Treppen steigt, bleibt fit«, sagte er sich nun fast übermütig.
Er öffnete seine Wohnungstür, ging sofort zum Fenster und öffnete es. Doch, er hatte vorhin etwas übersehen: Links, unweit des kleinen Wäldchens, beleuchtete die Sonne jetzt ein großes rotes Hausdach, das vorher im Schatten gelegen hatte. Arme Leute sind das nicht, dachte er und schloss das Fenster.