Kitabı oku: «Die chinesische Dame», sayfa 2
Frau Armbrust langte nach ihrem Lodenmantel: „Ich bring unseren Gast ins Hotel – und mach dann Feierabend. Ihr Vater hat gebeten, dass Sie ihn noch fertig telefonieren lassen. Ein dringendes Gespräch! Er kommt dann selbst raus, nicht wahr?“
Ob es wahr ist, musste sie doch selbst wissen, durchfuhr es Christian. Diese in Tirol weitverbreitete Floskel kam ihm angesichts seines Versprechens völlig absurd vor.
Frau Armbrust führte die chinesische Dame zur Tür, drehte sich noch mal zu Christian. In der Eile verfiel sie in Dialekt: „Der Herr Vata isch glei soweit!“
Beim Rausgehen traf ihn der Blick der Chinesin. Sie lächelte nicht, schaute ihn nur kurz an: freundlich, bestimmt, durchdringend. Lag es an der ungewöhnlich schlanken Gesichtsphysiognomie, dass Christian die Frau bekannt vorkam? Was machte sie bei Vater, wer war sie?
Durch das Fenster sah er, wie sie in ihrem eleganten Wollmantel aus der Bürovilla kam, nein, sie schritt nicht wie Sonja über den Hof, sie schwebte. Gingen Chinesinnen immer leichter, geschmeidiger, graziler; hatten sie alle in der Schule gelernt, wie man über einen Platz schwebt? Seine Augen hafteten an ihr, bis sie hinter dem Werkstor in Frau Armbrusts blauem Polo verschwand.
Plötzlich war es vollkommen ruhig im Büro. Er betrachtete die Industriegebäude, niemand schien mehr zu arbeiten. Wo blieb eigentlich Sonja mit seinem Bruder, was sahen sich die beiden überhaupt an?
Ihm stach an der Hallenwand gegenüber ein Plakat ins Auge: Ein männliches Modell posierte mit Tiroler Filzhut und Lodenmantel. Erotisch verspielt warf der junge Mann einen Teddybären in die Luft. Darunter stand: Selikowsky – only made in Austria!
Vor einem Jahr hatte Christian seinem Vater vorgeschlagen, neben der Folklore eine moderne Kollektion zu kreieren. Er bat junge Couturiers um Ideen für eine neue Modelinie. Viel Geld und Zeit wurden verbraten. Schließlich lehnte der Patriarch alle neuen Entwürfe kategorisch ab, einzig das jüngere Modell auf dem Plakat durfte Christian realisieren. Er empfand die Absage als Demütigung, sogar sein Bruder war damals auf seiner Seite, doch auch das half nicht.
Da hörte Christian ein Geräusch. Als ob leise eine schwere Tür geschlossen würde oder ein dumpfer Gegenstand umfiele. Er konnte aber keine Tür sehen, die geöffnet oder geschlossen wurde – weder hinter ihm die Empfangstür noch gegenüber der Zugang zu Vaters Büro. Offiziell war außer Vater niemand mehr auf der Etage. Das Geräusch kam am ehesten aus dem Zimmer neben Vaters Büro. Jetzt erst fiel ihm auf, dass an dieser Tür das Schild Konferenzraum durch eines mit Vice Lutz Selikowsky ersetzt worden war. Vice was? Vicepräsident? Vice versa? Miami Vice? War Lutz jetzt größenwahnsinnig geworden?
Sein Bruder hatte also den Raum neben seinem Vater bezogen. Offensichtlich wollte Vater seinen Ältesten in Griffweite haben. Wenn es nach dem Patriarchen ginge, hatte Lutz immer richtig entschieden: richtige Berufswahl, richtige Stadt, richtige Ehefrau. Lutz hatte vor zwei Jahren eine Mitarbeiterin aus der hauseigenen Buchhaltung geheiratet. Die Tochter eines Finanzbeamten. Vater hatte gejubelt, denn mit dieser Schwiegertochter hatte er einen direkten Draht zu den Steuerprüfern. Vor einem Jahr hatte sie Lutz Zwillinge geschenkt.
Christian aber wollte sich nicht instrumentalisieren lassen und wie Lutz eine Hochzeit im Trachtenkostüm mit Blaskapelle und halber Firmenbelegschaft feiern. Er hatte Sonja versprochen, in Wien zu heiraten. Eine stille Hochzeit. Sechs Personen. Höchstens. Danach hatten sie geplant, nach Italien zu reisen.
Vorsichtig näherte sich Christian der Tür von Vaters Büro. Warum kam der alte Herr nicht endlich raus? Christian hatte mit ihm schließlich einen Termin. Vater hielt sich immer an Abmachungen. Warum ließ er ihn nun warten, warum telefonierte er so lange, wollte er ihn wegen seiner Verspätung demütigen?
Christian ging zur Toilette. Als er zurückkam, war die Tür zu Vaters Büro noch immer verschlossen. Genervt schaute er auf die Uhr und lauschte. Kein Telefonieren. Kein Geräusch. Nichts. Er sah sich um und fluchte leise: Diese Warterei war Schikane! Seine Familie schikanierte ihn immer, wie lächerlich! Da bemerkte er, wie am Ende des Flurs Sonja auftauchte. Vor ihr empfand er diese Schikane noch unerträglicher – er riss die Bürotür auf. Der wuchtige, braune Lederchefstuhl war leer. Christian machte ein paar Schritte in den dunkel möblierten Raum und entdeckte hinter dem Schreibtisch seinen Vater: auf dem Boden liegend, bewegungslos, mit Blut an der Schläfe. Seine dicke Brille lag neben ihm. Christian hockte sich hin, suchte Vaters Puls – kein Schlag. Er strich über seine Wange, berührte die Falte unter dem Auge, auf die er als kleiner Junge immer gesehen hatte, wenn Vater wütend war. Vaters Haut fühlte sich kühl an. Zu kühl. Christian schrie nach Hilfe, nach einem Arzt. Er hörte, wie Sonja an der Telefonanlage von Frau Armbrust hantierte. Panisch öffnete er Vaters Krawatte. Er legte seine Handballen zwischen Herz und Lunge, presste den Brustkorb seines Vaters nieder. Lange und kräftig. Nach zehn Stößen wollte er Vater beatmen, doch er zögerte, denn aus den Augenwinkeln bemerkte er Lutz an der Tür. Statt zu helfen, griff Lutz zu seinem Smartphone und begann zu plappern. Christian drückte weiter. Warum kam Lutz nicht näher, warum unterstützte er Christian nicht, warum telefonierte er? Christian verstand seinen Bruder nicht. Hatte ihn nie verstanden. Schweiß brach aus ihm heraus. Er presste und ließ los. Immer schneller, immer fester, immer verzweifelter.
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Schanghai der 1940iger
Der Strahl der Taschenlampe traf die Pupille. Neben Alfred Selikowsky kniete ein Notarzt. Er zog Alfreds Augenlied hoch. Die Pupille war weit und lichtstarr. Der Mann im Rotkreuzoverall knöpfte das hellblaue Hemd des Patriarchen auf, drückte ihm das Stethoskop an die Brust und horchte.
Christian bemerkte eine Träne auf Lutz’ Wange. Er konnte sich nicht erinnern, wann er seinen Bruder zum letzten Mal hatte weinen sehen. Immer noch stand Lutz mit dem Smartphone in der Hand an der Tür und starrte den Arzt an. Entschuldigend schüttelte der Mediziner den Kopf, er schloss Vaters Augen und zog ein Formular aus seinem Koffer: den vorläufigen Totenschein. Schweigend begann er ihn auszufüllen.
Christian lehnte am Fenster. Obwohl er immer ein angespanntes Verhältnis zu Vater hatte, saß die Traurigkeit wie ein Kloß in seinem Hals. Er wollte sich auf den Boden werfen, auf die Erde einschlagen, immer fester. Seinen Schmerz rausschreien. Losheulen. Er konnte es nicht. So viel hätte er mit Vater noch zu besprechen gehabt: die Hochzeit, seine Zukunft, seine Ideen, warum hatte er es nicht schon früher getan? Warum hatte er bloß so lange im Empfangsraum gewartet? Warum nicht früher die Tür aufgerissen? Wäre er weniger nett gewesen und hätte sich nicht an die „Der Herr Vata isch glei soweit“ – Anweisung von Frau Armbrust gehalten, hätte er früher die Rettung alarmieren können und Vater würde vielleicht noch leben. Vielleicht, hätte, wäre. Trotzdem fühlte er sich schuldig.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er Sonja im Vorraum, er ging zu ihr. Sanft strich sie über sein Haar, drückte ihn an sich. Ihre Wärme fühlend, schoss ihm ein afrikanisches Gedicht durch den Kopf, es hatte ihn tief beeindruckt. Die Therapeutin hatte es im Warteraum an der Wand hängen: Als Gott die Menschen schuf, pflügten die Frauen zuerst die Erde. Sie sind es, die essen bereiten, die sich um kleine Jungs kümmern, um junge Männer, um Gebrechliche und Sterbende. Und schließlich kümmern sie sich sogar um die Toten. Sie sind immer da. Aber man sieht sie nicht.
Sein Vater musste alleine sterben. Christians Augen wurden feucht. Er hörte einen weiteren Wagen mit Martinshorn näher kommen. Kurz darauf schob sich ein dicker, uniformierter Polizist an ihm vorbei: „Griasch di Krischtian!“
Er kannte Bernd Weirather seit seiner Kindheit. Der Mann mit dem teigigen Gesicht, der Vollglatze und dem gepflegten, weißen Schnurrbart nickte Christian freundlich zu und eilte ins Büro seines Vaters. Ein junger Kollege folgte ihm.
„Um Gottes wülln, da Fredi“, hörte Christian den alten Polizisten sagen. Er machte ein paar Schritte zur Tür und beobachtete, wie Weirather mit dem Notarzt sprach.
„Isch gar a Herzkasperl?“, fragte Weirather vorsichtig und musterte den Toten. Er wirkte nervös; bei Alfred Selikowsky handelte es sich um den reichsten Mann in der Region, er hatte sichtlich Angst, etwas falsch zu machen.
Der Mann im roten Overall unterzeichnete den vorläufigen Totenschein und sagte leise: „Verdacht auf Herzversagen bei terminaler Herzinsuffizienz.“
Bei einem natürlichen Tod reichte vermutlich ein kurzes Protokoll – Christian konnte sehen, wie Weirather aufatmete. Paralysiert stand er hinter den Männern. Er konnte es nicht fassen: Erst vor ein paar Monaten hatte Mutter ihm am Telefon erzählt, dass Vater ein neues Medikament verschrieben bekommen hatte. Und es exzellent vertrug. Sogar Jagen und Reiten konnte er wieder. Vaters Blut- und EKG-Werte waren wie vor 10 Jahren. Und jetzt plötzlich ein Infarkt?
Christian beugte sich zu den beiden Männern und flüsterte: „Herzinfarkt kann doch durch alles Mögliche verursacht werden! Woher stammt denn die Wunde an der Schläfe?“
Der alte Polizist überlegte einen Moment und hob den Zeigefinger: „Schau her, Bua!“ Schnaufend rückte er mit seinem jungen Kollegen die Leiche zur Seite, warf beinahe eine Teeschale und einen Teller mit chinesischen Glückskeksen um und setzte sich auf Vaters Stuhl. Er gab vor, zusammenzubrechen, ließ sich vom Sessel fallen, streifte mit dem Schädel vorsichtig an der scharfen Regalkante an und sah erwartungsvoll zum Notarzt: „So war’sch doch, Herr Dokta, nit wahr?“
Der Arzt untersuchte ein zweites Mal die Wunde an der Schläfe. „Auf jeden Fall ziemlich oberflächlich.“ Er zupfte mit einer Pinzette an der Blutkruste und nickte: „Sehr unwahrscheinlich, dass die Abschürfung letal war.“
Weirather zückte sein Handy und erstattete Meldung bei seinem Vorgesetzten; für ihn schien der Fall erledigt.
Sprachlos stand Christian am Fenster. Er verstand Vaters Tod nicht. Überhaupt nicht. Da bemerkte er in der dunklen Holzvertäfelung eine Tür, Christian hatte sie noch nie zuvor bewusst wahrgenommen. Er drückte die Klinke runter. Unversperrt. Sie führte ins Büro des Vice. Christian sah sich im Zimmer von Lutz um: Sein Bruder hatte sich eine neue Ausstattung gegönnt. Glas und Metall. Alles vom Feinsten. Was Christian allerdings erstaunte: In Lutz’ Büro gab es drei Türen; eine zum Empfangsraum, eine zu Vaters Büro, eine direkt zum Flur, von dem Christian nun unbemerkt ins Treppenhaus gelangte.
Vorhin, beim Warten auf Vater, hatte Christian Geräusche aus dem Büro von Lutz gehört: Hatte jemand Lutz’ Zimmer als Durchgang zu Vaters Büro benützt und war auf diese Weise unbemerkt zu Alfred gelangt?
Bevor Christian darüber nachdenken konnte, hörte er aus dem Flur ein Schluchzen. Seine Mutter! Er ging auf sie zu. In der einen Hand hielt sie ein gehäkeltes Stofftaschentuch, in der anderen einen Stock. Lutz stützte sie. Die kleine Frau hatte nach ihrem fünfzigsten Geburtstag jedes Jahr ein Kilo zugelegt, was von ihrem schweren, grünen Lodenmantel ein wenig kaschiert wurde. Sie trug ein rosafarbenes Dirndlkleid, ihre weißen Haare hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Wie ein Schutzschild schirmte eine Hornbrille mit dicken Gläsern ihre Augen ab.
Als sie einen Schritt in Vaters Büro machte, verstummten alle. Niemand wollte etwas Falsches sagen. Schließlich wandte sich Mutter mit heiserer Stimme zum Notarzt: „Des kann do nit sein … vor zwei Stunden hat mich Alfred no angrufen … hat gsagt, dass er sich nit wohl fühlt … sein Puls war so niedrig … ich hab ihn gfragt, ob er auch all seine Medikamente gnommen hat …“
„Und?“ fragte der Arzt.
„Er hat ja gesagt.“ Die blasse Frau zitterte. „Angfleht hab ich ihn, dass er sofort den Arzt holn soll, wenn’s ihm nit glei besser geht.“ Ihr Schluchzen wurde heftiger. „Warum hat er’s nit tan? Warum?“
Christian beobachtete, wie Mutter ihren Kopf an Lutz’ Schulter lehnte, seine Hand umklammerte. Lutz hatte immer das bessere Verhältnis zu ihr. Vielleicht weil er auf den ersten Blick verletzlicher wirkte. Schon in der Schule hatte sich Lutz schwerer getan. Um eine Seite Vokabeln zu lernen, musste Christian das Blatt nur dreimal durchlesen, während sich sein älterer Bruder stundenlang abmühte. Lutz quälte sich von einem Jahrgang zum nächsten, erhielt jedes Jahr Abmahnungen und musste eine Klasse wiederholen. Oft traf ihn die Wut des Vaters: „Schau dir doch den Christian an, der kann’s ja auch!“
„Aber der ist doch …“, hatte Lutz zu protestieren versucht.
„Musst dich halt mehr anstrengen!“
Dann heulte Lutz, Mutter tröstete ihn und versuchte zu vermitteln; sie wollte Lutz vor der bösen Welt und den Ansprüchen ihres Ehemannes schützen. Doch Vater ließ keinen Zweifel aufkommen: Der intelligentere Sohn sollte die Firma übernehmen. Lutz war für ihn bloß ein guter Handwerker, höchstens Buchhalter. Worunter Lutz elendig gelitten hatte. Erst als Christian sich entschieden hatte, in Wien Architektur zu studieren, und Lutz in Innsbruck die Handelsschule absolvierte, änderte Vater seine Haltung. Widerwillig nahm er zur Kenntnis, dass Lutz vielleicht nicht der bessere, aber sicherlich der reibungslosere Nachfolger war. Seitdem entwickelte Lutz noch mehr Ehrgeiz. Mutter aber fühlte sich in ihrem ausgleichenden Verhalten bestätigt, sie hatte ihre Liebe richtig investiert.
Der Arzt wandte sich zu Christian, nahm ihn zur Seite und flüsterte: „Hatte Ihr Vater schon einmal einen Infarkt?“
Christian nickte.
„Wenn er seine Blutdruck senkenden Medikamente nicht pünktlich oder in ausreichender Menge genommen hat, wäre das eine Erklärung für den neuerlichen Infarkt.“
„Siehscht Krischtian“, versuchte Weirather zu kalmieren, „isch alles mit natürlichen Dingen zuagangen.“
Christian fühlte sich unwohl, es entsprach nicht seinem Naturell, unbequeme Fragen zu stellen. Doch er dachte an sein Versprechen, ging neben Alfreds Kopf in die Hocke und zeigte auf Vaters Wange: zarte Spuren eines roten Streifens. „Und das?“
Keuchend beugte sich Weirather zu ihm: „Bluat … vielleicht, von da Schläfn.“
Mit dem Zeigefinger tippte Christian auf Vaters Wange und verschmierte ein wenig Rot: „Eher Lippenstift!“
„Wenscht Zweifel hascht, bitte … dokumentier ich’s halt!“, erwiderte Weirather. Er zückte eine Digitalkamera und fotografierte den Toten von allen Seiten.
Aufgewühlt schaute sich Christian im Raum um: „Wo sind denn überhaupt Vaters Herzmedikamente?“
Der Arzt, Lutz und Christian suchten Tisch, Regal und Boden ab. Vergeblich. Christian betrachtete die beiden Teetassen auf dem Schreibtisch: Nur in der von Vaters Besucherin befand sich noch ein wenig grüner Tee. Und am oberen Tassenrand entdeckte er zarte Reste eines Lippenstifts. Dasselbe Rot wie auf Vaters Wange. Kaum war Weirather mit dem Fotografieren fertig, nickte der Notarzt zwei Männern in schwarzen Anzügen zu, die schon an der Tür warteten. Sie hoben die Leiche in einen blechernen Sarg. Als die Bestatter den Toten aus dem Büro trugen, wurde Christian bewusst, dass er die wachen Augen seines Vaters nie wieder sehen würde. Nie mehr seine tiefe Stimme hören. Nie mehr seinen Zorn erleben. Nie mehr sich über sein versöhnliches Schmunzeln freuen. Nie mehr sein Lachen erleben. Nie mehr.
Der Arzt, Lutz und Mutter waren den Bestattern gefolgt. Christian fiel auf, wie merkwürdig aufgeräumt Vaters Büro aussah, plötzlich kam ein bizarres Gefühl in ihm hoch: Er hatte den Eindruck, Vater hatte es eilig gehabt – als wäre alles Weitere für ihn nur noch Bürde gewesen, als wollte er nur schnell weg, irgendwohin.
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Die Familie stand im Hof und beobachtete, wie die Bestatter den Sarg in den schwarzen Combi schoben. Christian roch den Schweiß der Männer, hörte das Quietschen des Metallsargs auf den Schienen der Ladefläche, das Zuklappen der Wagentür, das Starten, vorbei.
Die Mutter hielt sich an Lutz fest und ließ sich von ihm zu seinem Volvo führen. Christian zückte sein Handy, wollte ein Taxi rufen, da sah er vor dem Tor des Firmengeländes einen blauen Polo mit einer Person am Steuer. Er bat Sonja, im Empfangsraum zu warten. Rasch ging er auf den Polo zu. Er klopfte an der Beifahrertür und setzte sich zu Frau Armbrust. Mit Tränen in den Augen starrte sie dem Leichenwagen hinterher. Christian musterte sie fragend.
„Lutz hat mich angerufen und es mir gesagt“, rang sie um Worte, „aber ich hab’s nicht geschafft, ins Büro zu gehen … konnte einfach nicht! Wir haben über 30 Jahre zusammen gearbeitet … warum muss das gerade ihm passieren?“ Sie trocknete die Tränen mit einem Stofftuch, es war durchnässt. „Ich hätte nicht Feierabend machen dürfen … bevor ich gegangen bin, hab ich ihn gefragt, ob er noch was braucht … aber er hat mich nur gebeten, die chinesische Besucherin ins Hotel zu fahren. Er wollte nicht, dass ich noch mal zurückkomme, nicht wahr!“
Warum sagt sie diese Floskel, fragte sich Christian und setzte nach: „Frau Armbrust, ich war schon immer beeindruckt, wie fürsorglich Sie Vater betreut haben. Er hat mir ein paarmal stolz erzählt, dass er mit Ihnen die beste Assistentin der Welt hat …“
Der Hauch eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.
„… die ihn sogar auf das Einnehmen seiner Herz-Medikamente aufmerksam macht.“
Verunsichert schaute sie zu Christian – und wieder weg.
„Es ist kein Geheimnis“, sagte er, „und bis auf meine Mutter wissen es in der Firma fast alle: Sie haben sich um Vater mehr als nur beruflich gekümmert.“
Ihre Tränen versiegten, einen Moment zögerte sie, dann widerstand sie seinem Blick: „Ja, wir haben uns gut verstanden, nicht wahr. Er hat mich oft auf Geschäftsreisen mitgenommen. Doch vor etwa einem Jahr haben wir uns privat getrennt. Ich habe seither einen neuen Lebenspartner und meine Beziehung zu Ihrem Vater war nur noch professioneller Natur. Früher habe ich mich auch um seine Medikamente gekümmert, das stimmt, doch seit einem Jahr hat das Herr Selikowsky wieder selbst getan!“
„Er hatte doch immer seine Medikamente dabei, oder?“
„Ja, in seiner Schreibtischlade. Aber die hat er versperrt, die war für alle tabu!“
„Hatten Sie einen Schlüssel dafür?“
„Nein.“
„Was wollte denn die Chinesin von Vater?“
„Irgendwelche Geschäfte. Herr Selikowsky mochte mit niemandem darüber reden. Auch mit mir nicht.“
„Wie haben sich die Besuche auf Vater ausgewirkt? Ist Ihnen da eine Veränderung aufgefallen?“
Sie machte eine indifferente Kopfbewegung.
„Mir ist, als hätte ich die Dame schon mal wo gesehen … aber wo?“ Frau Armbrust wich seinem Blick aus: „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen.“
„Was mich verwundert: Warum spricht die Chinesin fast perfekt Deutsch?“
„Habe ich sie auch gefragt. Sie hat zwei Jahre in Hannover studiert.“
„Und wo ist sie jetzt?“
„Im Hotel Tirolerhof. Da habe ich sie jedenfalls hingebracht.“ „Wie oft hat sie Vater schon besucht?“
„Vielleicht zwei-, dreimal.“ Frau Armbrust kämpfte neuerlich gegen Tränen.
„Glauben Sie, dass die chinesische Dame etwas mit Vaters Tod zu tun hat?“
Sie zuckte die Schultern und verlor ihren Kampf. Christian reichte ihr ein Taschentuch.
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Das Rot des Sonnenuntergangs spiegelte sich im Schellack der dunklen Wandvertäfelung. Christian setzte sich an den Schreibtisch von Vater und versuchte, seine schwere Holzschublade zu öffnen. Versperrt.
„Ich fühl mich hier nicht wohl. Lass uns bitte gehen“, sagte Sonja. Sie lehnte an der Tür und kramte in ihren Taschen. Christians Blick fiel auf die Teetassen, aus denen offensichtlich Vater und seine chinesische Besucherin getrunken hatten. Der Teller, auf dem zuvor die chinesischen Glückskekse gelegen hatten, war leer. Nur ein paar Krümel befanden sich noch darauf. Hatte die Kekse jemand aufgegessen? Oder etwa verschwinden lassen?
Mit aller Kraft zog Christian noch mal an der Schublade. Sie bewegte sich nicht. Keinen Millimeter.
„Was willst du noch hier?“, fragte Sonja und entdeckte in ihrer Anoraktasche eine Packung Schokopastillen.
„Ich suche einen Schlüssel: groß, plump, Messing!“
„Groß, plump, Messing“, wiederholte Sonja und half suchen, doch sie fanden den Schlüssel nicht. Die Pastillen kauend wandte sich Sonja zur Tür und wollte gehen. Er spürte: Es wäre jetzt angenehmer, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber er musste immer wieder an sein Versprechen denken, an seine Albtraumserie, die vielleicht nur eine Warnung gewesen war, ein Schuss vor den Bug. Sollte er die Lade aufbrechen? Oder die Polizei bitten, sie zu öffnen? So wie Weirather ihn zuvor behandelt hatte, würde der alte Bulle die Angelegenheit nur neuerlich mit ein paar beschönigenden Sätzen abtun. Erst wenn Christian einen handfesten Beweis hatte, dass mit Vaters Tod etwas nicht stimmte, konnte er mit polizeilicher Hilfe rechnen.
Er schob die Teetassen zur Seite, griff zu einem schweren Bronze-Brieföffner und brach die Tischlade mit Gewalt auf. Darin eine Packung Betablocker und eine Schachtel ACE-Hemmer. Christian öffnete beide – in jeder waren noch Blister mit einigen Pillen. Er war verblüfft: Vater hatte also ausreichend Medizin gehabt! Hatte ihn jemand daran gehindert, sie einzunehmen?
Christian verschloss die Packungen und schob sie zurück. Daneben lag Vaters Pass. Und ein abgegriffenes Sachbuch über das Schanghai der 1940iger Jahre. An einige Seiten hatte jemand kleine, gelbe Haftnotizen geklebt. Auf jeder erkannte Christian die Schrift des Vaters: A7, J2, L5. Möglicherweise Quadrantenzahlen, die Orten auf dem Stadtplan von Schanghai entsprachen. Was wollte Vater damit?
Nun wurde Sonja doch neugierig und kam näher. Christian war das plötzlich unangenehm: „Wo bist du eigentlich mit Lutz gewesen?“
„Er hat mir die Werksgebäude erklärt.“
„So lange?“
Sie schüttelte den Kopf, öffnete ihr Haar und steckte sich eine weitere Schokopastille in den Mund: „Einen Stock tiefer hat er mir ein Video über die Firmengeschichte gezeigt.“ „War er die ganze Zeit dabei?“
„Die ersten paar Minuten. Warum fragst du?“
Christian antwortete nicht. Er musste an das komische Geräusch aus dem Büro von Lutz denken und an die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern – die Idee, sein Bruder könnte etwas mit Vaters Tod zu tun haben, schreckte ihn. Aber noch wichtiger erschien ihm jetzt, Gewissheit zu erlangen – was war tatsächlich passiert?
Die Sonne ging unter, das dunkle Holz der Wände fraß die letzten Lichtstrahlen. Er schaltete die Schreibtischlampe an. Im hinteren Teil der Lade fand Christian Unterlagen zu einem chinesischen Sprachkurs für Fortgeschrittene, ein chinesisch-deutsches Wörterbuch sowie zahlreiche Restaurant- und Hotelrechnungen aus Schanghai – ausgestellt auf Alfred Selikowsky. Vater hatte also Schanghai im letzten Jahr besucht. Mehrmals. Christian fragte sich, wer aller davon wusste. War Vater nur bei ihm so schweigsam, weil er für Vater immer als schwarzes Schaf gegolten hatte und wegen seiner künstlerischen Ambitionen von allen belächelt wurde? Nie mehr würde er mit Vater darüber reden können. Christian kämpfte gegen Tränen.
„Und dann?“, fragte er Sonja.
„Ist Lutz gegangen. Er hat gesagt, er muss noch dringend telefonieren … wegen irgendeines Golfturniers.“
Nur zu gut hatte Christian miterlebt, wie sehr Lutz die Veranstaltungen des Tiroler Geldadels liebte; er ließ sich gerne auf Charity-Events blicken und versuchte auf Golfturnieren im Schatten der Alpen zu glänzen. Ein paarmal hatte ihn Lutz zu solchen Veranstaltungen mitgeschleppt, doch Christian fühlte sich in dem geltungssüchtigen Umfeld nie wohl.
„Und er kam nicht zurück, bis der Notarztwagen aufgetaucht ist?“
Sie nickte und steckte ihre Haare wieder hoch. Unter den Teetassen entdeckte Christian das Kuvert einer Innsbrucker Reiseagentur; er schob Tassen und Keksteller zur Seite und öffnete es. „Lass uns jetzt endlich gehen, bitte!“, flehte Sonja und schritt zur Tür.
„Gleich.“
Christian zog aus dem Kuvert ein Flugticket. Ausgestellt auf Vaters Namen. Abflug in drei Tagen. Flugziel: Schanghai.
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Das Licht des Vollmondes erhellte die Straße. Christian bat den Taxifahrer, das Hotel Tirolerhof anzusteuern. Erst danach wollte er mit Sonja zum Haus seiner Eltern gebracht werden. Der Tirolerhof war ein kleines, aber nobles Hotel. Vielleicht 20 Zimmer.
An der Rezeption fragte er nach der chinesischen Dame. Abgereist. Vor drei Stunden. Wohin, konnte oder wollte ihm die Frau an der Rezeption nicht sagen. Sie erinnerte sich nur, dass die Chinesin von einer Mitarbeiterin der Firma Selikowsky begleitet wurde, die auch die Rechnung beglichen hatte – vermutlich Frau Armbrust.
Christian ging zurück zum Taxi. Warum war die chinesische Besucherin so schnell verschwunden? Oder war es normal, dass Geschäftspartner noch am selben Abend nach China zurückreisen?
Mit Sonja erreichte er kurz darauf das zweistöckige Bauernhaus seiner Eltern, idyllisch gelegen an einem Hang des Patscherkofels. Wuchtige Mauern, tiefe Fensterfluchten, großzügige Holzbalkone und ein mit Schindeln gedecktes Satteldach verrieten Wohlstand. Christians Vater hatte das Gebäude liebevoll renovieren lassen. Nur in einem Raum brannte noch Licht. Die Haustür war nicht abgeschlossen. Als Christian mit Sonja den Flur betrat, hörte er seinen Bruder telefonieren. Lutz saß in der Stube neben dem Kachelofen und starrte auf sein Notebook, während er sein Smartphone am Ohr hielt und alle paar Sekunden ein mäßig interessiertes „Ja“ oder „Ja, mach ich“ murrte.
Christian hatte den Eindruck: Seit Lutz verheiratet war, stand sein Bruder noch stärker unter Druck; Lutz’ Ehefrau war nach der Geburt der Zwillinge zu Hause geblieben. Sie dirigierte ihren Mann via Handy wie einen Bediensteten: Nahezu jede Stunde rief sie auf seinem Smartphone an und gab ihm neue Anweisungen; wann er nach Hause kommen solle, was er mitbringen müsse, was noch zu organisieren sei.
Sonja setzte sich an den Couchtisch.
„Wo ist denn Mama?“, fragte Christian.
Lutz deutete nach oben.
Christian schritt die Treppe hoch, kam an den Schlafräumen vorbei und stieß überall auf Vater: An der Wand hing ein Glasbild mit dem Sand einer Wanderdüne aus Arcachon, wo Christian als Dreizehnjähriger mit Vater den Urlaub verbracht hatte; in einer Vitrine hatte Vater eine H0-Dampflokomotive mit historischen Waggons aufgereiht, die er Christian im Alter von Acht geschenkt hatte; auf einem rustikalen Sekretär stand ein buntes Kamel aus Ton, das Christian mit Fünf für Vaters Geburtstag modelliert hatte. Lange betrachtete Christian die Objekte; plötzlich bekamen sie eine andere Bedeutung, wurden zu Beweisen einer Vater-Sohn-Beziehung, die er oft als problematisch empfunden hatte. Aber vielleicht hatte Vater auf diese Art versucht, gemeinsame Momente zu bewahren – oder redete sich Christian das jetzt nur ein, weil er durch Vaters Tod so aufgewühlt war?
Er klopfte an die Tür des elterlichen Schlafzimmers. Keine Antwort. Zaghaft trat er ein. Mutter lag mit voller Kleidung auf dem Ehebett und weinte. Als sie Christian bemerkte, riss sie sich zusammen, wischte die Tränen weg. Er setzte sich zu ihr, griff zärtlich nach ihrer Hand. Eine Weile schwiegen beide.
„Bischt’d allein kommen?“, fragte sie schließlich.
„Sonja sitzt unten.“
„Is sie aus Wien?“
Christian nickte.
„Dann isch dei Gascht sicha hungrig!“
Einen hungrigen Gast im eigenen Haus konnte sie nicht ertragen. Sie ging sich ihr Gesicht waschen, wechselte vom Dirndl zu einer schwarzen, hochgeschlossenen Bluse und schwarzem Rock und begann, in der Küche eine Brettljause zu richten. Christian wollte helfen, doch sie lehnte ab und bat alle, sich an den rustikalen Küchentisch zu setzen. In die Mitte stellte sie mehrere Teller mit Schweinernem, Wurst und Käse. Sie hinkte zwischen Tisch und Kühlschrank hin und her. Auch Lutz hatte nun einen schwarzen Pullover und eine dunkle Hose angezogen. Lange fiel kein Wort.
Von draußen war der raue Wind zu hören.
Lustlos am Schweinernen kauend, ohne aufzusehen, fragte Lutz: „Christian, willst du Mama nicht den Grund für deinen überraschenden Besuch erzählen?“
Ein unangenehmes Schweigen erfüllte den Raum. Dann griff Christian zu Sonjas Hand und sagte feierlich: „Mama, wir wollen heiraten!“
Kurz bemerkte er in Mutters Gesicht eine tiefe Ratlosigkeit – auf Ansagen dieser Art war es immer Vater, der zuerst reagierte. Wichtige Entscheidungen überließ sie gerne ihm. Nicht nur wichtige. Für so vieles hatte sie Verständnis. Für Vaters Abwesenheit, für seine Zornausbrüche, für sein Schweigen; aber auch für die Schwächen von Lutz und für die Zurückgezogenheit Christians. Für fast alles. Und fast jeden. Außer für sich selbst. Als kleiner Junge hatte Christian seine Mutter abgöttisch geliebt, viel mehr als den strengen Vater. In der Pubertät dagegen empfand er sie oft als mühsam. Und je älter er geworden war, umso komplizierter hatte sich seine Beziehung zu ihr entwickelt. Manchmal konnte er ihre grenzenlose Diplomatie nicht ertragen, weil er nie wusste, was sie wirklich wollte, wofür sie stand, welche Wahrheit ihre eigene war. Oft tat sie ihm leid, doch tiefes Mitleid fiel ihm schwer, schließlich hatte sie alle Freiheiten der Welt. Dachte er jedenfalls.
Mutter rang sich ein Lächeln ab, schien sich über die Hochzeit zu freuen: „Gratulier Euch! Aber jetzt müss’ma erst einmal die Beerdigung organisieren.“
Im Laufe des Essens drängte sie Christian, die Heirat wegen Vaters Tod auf keinen Fall abzusagen. Sie behauptete, die Hochzeit wäre sicherlich in Vaters Sinne gewesen. Geradezu liebevoll bemühte sie sich um Sonja.
Es war Christian jetzt unangenehm, doch er musste ein paar Fragen stellen, die ganze Zeit kreisten seine Gedanken darum: „Mama, noch was Wichtiges … in der Schreibtischschublade vom Papa sind ausreichend Betablocker und ACE-Hemmer gewesen. Warum nur hat er die Medikamente heute nicht genommen?“