Kitabı oku: «Die chinesische Dame», sayfa 3
Die Mutter zuckte die Schultern.
Verärgert hielt Lutz im Kauen inne: „Du hast in Papas privater Schublade gestirlt?“
Christian holte aus seiner Jackentasche das Buch über Schanghai aus den 1940igern heraus und legte es auf den Tisch. „Das habe ich in seiner Tischlade gefunden. Papa hat doch so gut wie nie Bücher gelesen. Schon gar keine Sachbücher. Warum hat er sich plötzlich für China interessiert?“
Unwillig betrachtete Mutter das Buch und seufzte.
„Vor allem für China im 2. Weltkrieg?“, setzte Christian nach.
Es fiel der alten Frau schwer zu reden, doch spürte sie Christians bohrenden Blick: „Alfred war in seiner Kindheit in Schanghai … fast acht Jahre lang.“
„Was hat er denn da gemacht?“
„Er war mit seim Vater Josef in China“, sie blickte zu Lutz, „eurem Großvater!“
„Und warum?“, fragte Christian erstaunt.
„1938 sind in Österreich doch die Nazis an die Macht kommen! Der Judenhass ist immer schlimmer gworden. Eure Großeltern habn sich kaum noch auf die Straßen traut … bis der Josef eines Tages von der Arbeit nach Haus kommen is und sei jüdische Frau verschwunden war. Einfach weg. Abgholt. Von der SS. Er hat alles versucht, um rauszufinden, wohin man sie verschleppt hat. Vergeblich. Irgendwann is dann ein Brief kommen: Verstorben an Lungenentzündung. Er war verzweifelt. Und weil sein Alfred – damals grad mal acht Jahr alt – für die Nazis ein Halbjude war, hat sich euer Großvater Hals über Kopf entschlossen, mit Alfred zu flüchten. Nach China. Von dort ist Alfred erst nach Kriegsende wieder zurückkehrt.“
„Und weshalb gerade China?“, wollte Christian wissen.
„Kein Land hat 1938 Juden mehr aufgnommen … alle Staaten habn sich hinter irgendwelchen bürokratischen Hürden versteckt. Nur in China warn die Regierenden so zerstritten, dass Flüchtlinge weder ein Visum noch einen Bürgen oder viel Geld braucht haben … Schanghai war der letzte Ausweg.“
„Komisch … Papa hat nie was erzählt davon.“
„Ja“, sie wurde leise und kämpfte gegen Tränen, „es muss furchtbar für ihn gwesen sein … denn 1946 ist euer Großvater in Schanghai an Lungenkrebs gestorben. Für euren Vater – der war da sechzehn – ein Albtraum: Erst wurde seine Mutter deportiert und ist nicht wieder kommen … und dann musste der Bub zuschauen, wie sein Vater elendig zugrunde gangen ist. Das hat Alfred nie richtig überwunden … der Name Josef hat ihn auch später noch jedes Mal zusammenzucken lassen. Über die Jahre in China hat er nie reden wollen. Mit niemand! Selbst mir hat er es nur ein einziges Mal erzählt. Kurz nach unserer Hochzeit.“
„Wie ist er überhaupt zurückgekommen?“
„Ein Onkel hat ihn über das Rote Kreuz gfunden.“
„Und warum hat er sich plötzlich wieder dafür interessiert?“
Mutter wirkte unsicher, sagte nichts.
Alle schwiegen.
Natürlich wusste Christian, dass er eine jüdische Großmutter hatte. Somit war auch sein Vater – irgendwie – Jude. Und damit auch Christian – zumindest ein bißchen. Trotzdem wurde über die jüdischen Wurzeln in der Familie nie geredet. Als Jugendlicher hatte Christian ein paarmal seinen Vater darauf angesprochen. Zwar hatte ihm Alfred von seiner jüdischen Großmutter erzählt, doch rasch auf ein anderes Thema abgelenkt. Vergangenheit und Religion hatten ihn nie interessiert. Christian konnte ja verstehen, dass Vater die Erinnerung an seine ermordete Mutter zu sehr gequält hat, um darüber zu sprechen. Ohnehin fühlte sich Vater nur als Unternehmer lebendig, als Kämpfer im Hier und Jetzt. Zu tief steckten in ihm Existenzängste. Christian kannte ihn fast nur in Sorge um die Firma, rund um die Uhr, auch am Tag des Herrn. Oft begleitete er zwar Christians katholische Mutter in die Kirche, aber nicht, weil ihm der Gottesdienst etwas bedeutete – vielmehr traf er nach der Messe wichtige Leute: den Bürgermeister, Unternehmerkollegen, hohe Beamte. Die Heilige Messe als Netzwerk-Zentrale. In Tirol absolut üblich. Immer schon. Immer noch.
Ein paarmal schon hatte Christian das Bedürfnis verspürt, mit Vater über dessen religiöse Haltung zu reden, doch er wusste, wie schnell Alfred das Thema abbügeln würde – und ließ es sein. Jetzt erst wurde Christian bewusst, wie vorsichtig und diplomatisch er mit Vater umgegangen war.
Sie sind zu nett, Herr Selikowsky!
Christian bereute es, Vater nicht hartnäckiger nach seiner Kindheit befragt zu haben, nun würde es noch schwieriger werden, etwas darüber zu erfahren. Vielleicht war es sogar unmöglich.
„Es könnte auch eine Frage des Alters sein“, unterbrach Sonja vorsichtig das peinliche Schweigen, „vielleicht wollte euer Vater seine eigene Geschichte ergründen … und wissen, wer sein Vater wirklich war.“
Dankbar nickte die Mutter und zwang sich zu einem Lächeln. „Vielleicht.“
Christian fiel die letzte Begegnung mit seinem Vater ein. Vor einem halben Jahr. Sie hatten über Flugzeuge gesprochen. Ob es besser sei, mit einem Airbus oder einer Boeing zu fliegen. Insbesondere die Langstrecke. Oberflächlich betrachtet ein Vater-Sohn-Gespräch über technische Details. In Wirklichkeit aber glaubte Christian damals, in Vaters Augen eine Sehnsucht erkannt zu haben. Eine Sehnsucht nach Ferne, die Christian nur allzu vertraut war. Jene Sehnsucht, die Christian von zu Hause weg nach Wien getrieben hatte und von der er lange überzeugt war, dass sie bei seinem Vater – wenn überhaupt – nur in seiner Jugend vorhanden gewesen war.
„Vater war in diesem Jahr schon einmal in China“, setzte Christian nach, „was könnte er denn da gemacht haben?“
„Wie kommst’n drauf?“ Energisch schüttelte die Mutter den Kopf.
„Und in drei Tagen wollte er wieder nach Schanghai!“
„Da hat er eine Reise nach Frankfurt vorghabt, das weiß ich genau!“
„Ja?“
„Ja!“
Skeptisch sah Christian seine Mutter an. Fahrig sprang Lutz auf und holte sich aus dem Kühlschrank ein Bier.
„Bevor Papa die Firmenleitung endgültig an Lutz übergeben wollt“, sagte die Mutter, „hat er sich vorgnommen, mit dem deutschen Vertriebspartner einen neuen Zwei-Jahresvertrag abzuschließen. Damit Lutz es leichter hat!“
Christian war hin- und hergerissen. Er wollte Mutter nicht kränken, hatte ein schlechtes Gewissen: Ohne sein Versprechen hätte er die Sache jetzt auf sich beruhen lassen, aber er musste immerzu an seinen Albtraum und an die Therapeutin denken. Zögernd schob er das Schanghai-Flugticket rüber. Als die Mutter das Datum und Vaters Namen las, schaute sie Christian konsterniert an. Sagte kein Wort. Sah zu Boden. Lange. Sehr lange. Dann stand sie auf und hinkte zur Tür.
„Vater hatte kurz vor seinem Zusammenbruch Besuch von einer chinesischen Dame“, rief er Mutter nach und verspürte einen starken Widerwillen, jetzt weiter nachzuhaken. Sein Blick raste zwischen Lutz und Mutter hin und her: „Entschuldigt, aber wer von euch beiden kann mir sagen, was diese Frau von Papa wollte? Wer ist diese Chinesin überhaupt?“
„Eine Geschäftspartnerin“, zischte Lutz, „was sonst? Sie war im Büro und nicht auf einer Tretbootfahrt!“
Die Mutter hielt inne. Und warf die Tür hinter sich zu. Erbost sah Lutz seinen Bruder an: „Was soll das? Mama hat’s doch schon schwer genug!“
„Versteh doch“, meinte Christian, „ich will nur die Wahrheit wissen: Was ist bei dem Treffen mit der Chinesin passiert? Warum hat Vater seine Pillen nicht genommen, obwohl sie griffbereit in seiner Tischlade gelegen sind?“
„Vielleicht hat sie Papa ja genommen. Und ist trotzdem gestorben!“ Wortlos erhob sich Lutz und folgte der Mutter.
Sonjas verärgerter Blick traf Christian von der Seite: Musste das jetzt sein?
Christians Herz pochte. Gedanken, Bilder und Fragen tobten in seinem Kopf: Warum mauerte Lutz? Weshalb entzog sich Mutter der Diskussion? Was hat Vater in China gemacht? Die Umstände von Vaters Tod, das Verhalten seiner Familie und der Besuch der chinesischen Dame nährten in Christian einen Verdacht: Weder er noch die Polizei hatten verstanden, was tatsächlich geschehen war. Es war subtiler, tiefer, rätselhafter. Am meisten aber erschütterte ihn, wie wenig er wusste, was seinen Vater wirklich bewegt hatte.
˘ ˘ ˘
Der Kannibale
Er ließ sich zur Wachstube fahren. Eine grelle Neonlampe erhellte den Eingang. Christian musste an der Tür läuten, eine Videokamera filmte ihn. Als er seinen Namen nannte, hörte er aus dem Lautsprecher ein unwilliges Murren.
Die Tür sprang auf.
Hinter dem weißen Tresen saß Bernd Weirather, er hatte einen Plastikteller mit Chop Suey vor sich. Auch in Innsbruck gab es inzwischen viele chinesischen Lokale, die billig und nahezu rund um die Uhr ihre Dienste anboten. Mit Stäbchen schob sich der alte Mann behände Gemüse und Reis in den Mund. Ein Bernhardiner rannte verspielt auf Christian zu, als hätte er schon ewig Besuch erwartet. Der Hund roch nach Moder und hatte langes, fettiges Haar. Er sprang hoch, versuchte Christians Finger zu lecken. Im letzten Moment konnte Christian seine Hand zurückziehen.
„Mahlzeit. Ich möchte bittschön einen Antrag stellen. Ich will, dass Vater auf der Gerichtsmedizin untersucht wird!“
„Dei Vata isch scho freigebn“, raunte Weirather.
„Freigegeben?“
„Zur Bstattung!“
„Trotzdem!“
Der Polizist unterbrach die Fingerakrobatik und legte die Stäbchen zur Seite. Seine Backenknochen malten. „Ich versteh ja, dass di des alls ziemli mitnimmt … aber bitte Krischtian, sei jetzt vernünftig!“
„Ich besteh auf eine Obduktion!“
„Geht nit.“
„Warum?“
„Hab’s ja scho gsagt: die Leich isch freigeben!“
„Na und!“
„Krischtian, du kennst di nit aus! Nach aner Freigab isch a Untersuchung so guat wie unmögli.“
„Glaub ich nicht.“
„Da müasstn scho dringende Verdachtsmomente vorliegn. Oda neue Beweise!“
„Gibt’s.“
„Was denn?“
„Vater hat kurz vor seinem Ableben von einer ominösen Chinesin Besuch bekommen. Auf seiner Wange war Lippenstift. Wenige Stunden nach Vaters Tod reist die Chinesin ab. Und niemand aus der Familie will oder kann mir sagen, was die Chinesin wirklich von Vater wollte – das stinkt doch!“
„Sei mir nit bös. Selbst wenn’s so war: Der Besuch aner fremdn Dame und Lippenstift an der Wangen … das stinkt nit nach an Kriminal, des riacht höchstens nach aner Affär! Kloar, dass dir des niemand sagn wüll. Oder wüllst du deina Mama zusätzlich weh tuan?“
„Ich will, dass Vater untersucht wird!“
„Krischtian, wenn die Leich freigebn isch, reichn Vermutungen nit. Glaub mir, ich mach die Hakn hier seit vierzg Jahr!“ Christian fühlte, wie Wut in ihm aufstieg. Ungeheure Wut. Normalerweise wäre er nun gegangen, hätte aufgegeben oder in seiner diplomatischen Art versucht, mit einem Vorgesetzten Weirathers zu reden. Doch er wollte jetzt nicht nett sein.
Er griff nach Weirathers Stäbchen und klopfte auf die Theke. Tok, tok, tok, Sekunden, Minuten, eine gefühlte Viertelstunde – bis Weirather den Kopf schüttelte: „Ich versicha dir: der korrekte Ablauf isch einghaltn wordn. Mach’s nit schlimma, als es isch. Geh nach Haus und schlaf mal drüba. Bitte!“
Tok, tok, tok, immer schneller schlugen die Stäbchen auf den Kunststoff, Christian schaute durch den Mann hindurch, Weirather hielt es nicht mehr aus, hatte Hunger. „Krischtian!“ Angestrengt atmete er durch. „Ich hab selbst mitghört, wie der Notarzt noch mal beim Hausarzt von deim Papa angrufn hat.“ Weirather beugte sich über das chinesische Gemüse. „Du weischt doch, vor 13 Monat hat dei Vata ein’ Herzinfarkt ghabt. Ohne dieses Beta-Zeug war sein Herz nit mehr im Takt. Der hat einfach sei Medizin vergessn … da hat die Pumpen halt ausgesetzt. Tut mir wirkli leid. Aber da kann kana was dafür. Echt nit!“
Die Stäbchen fielen auf die Theke. Weirather hatte den Eindruck, er habe Christian überzeugt. Vorsichtig griff er nach den Esswerkzeugen und zwang sich zu einem Lächeln: „Tschuldigung, mei Essn wird kalt … mei erschtes warmes heut!“
„Siehst, deswegen geht mir die Provinz so auf’n Wecker!“
„Bitte?“
„Aussitzen und wegschauen!“
„Wegschauen?“ Ein müdes Lächeln huschte über das faltige Gesicht des Polizisten. „Kan Schimma hascht du! Waßt du, warum ich den ganzn Tag no nix gessn hab? Ich komm grad vom Patschakofel. Da obn hat auf aner Hüttn a Frau gwohnt. 83 Jahr alt. Mit ihrm Hund. Immer alles in Ordnung. Heut ruft mi der Briefträger an und sagt, dass ihr Postkastel schon ewig lang nit mehr ausgleert worden isch. Fahr ich hin und läut an. Nix. Brich ich die Tür auf. Ein Wahnsinnsgstank. Liegt sie am Bodn. Tot. Sicha scho fünf Wochn. Aber ihr Bernhardina watschelt quietschfidel danebn herum. Hat der sich nämlich an ihrn Eingeweidn delektiert … verstehscht jetzt, warum ich heut noch nix gessn hab?“
„Wie heißt der zuständige Staatsanwalt?“
Weirather ließ die Stäbchen in den Reis sinken, die Frage verdarb ihm endgültig den Appetit. Er deutete auf den Bernhardiner: „Brauchst nit an Hund? Würd zu dir passn. Kannscht glei mitnehmen.“
Winselnd sprang der Bernhardiner an Christian hoch. Sofort zog er seine Hand zurück, aber es war schon zu spät. Überall auf Christians Fingern klebte der Speichel des Menschenfressers.
˘ ˘ ˘
Die Mutter hatte ihnen das kleine Gästezimmer im 1. Stock zugewiesen, früher war es Christians Kinderzimmer. Er lag neben Sonja auf einem antiquierten Holzbett, das bei der kleinsten Bewegung quietschte. Lebendigkeit blieb auf diese Weise niemandem verborgen. Obwohl es schon sehr spät war, versuchte Christian vom Handy aus in Innsbruck den zuständigen Staatsanwalt zu erreichen; aus Fernsehkrimis wusste er, dass in jeder Landeshauptstadt mindestens ein Staatsanwalt die ganze Nacht Bereitschaft hatte. Doch Christian wurde von einem Beamten zum nächsten verwiesen.
Sonja zog ein lose gebundenes Manuskript aus dem Rucksack und schlug es auf:
PHILOSOPHISCHE INTERPRETATIONEN DER BEGRIFFE „HIMMEL & HÖLLE“ IN DEN WELTRELIGIONEN.
Diplomarbeit von Sonja Baldur
Fach Philosophie
Sie hatte sich vorgenommen, in den nächsten Wochen die Arbeit zu vollenden. Es fehlte nur mehr ein Kapitel über die Paradiesvorstellungen. Sonja hatte Mühe, sich zu konzentrieren, weil Christian immer leise fluchte, wenn er weiterverbunden wurde oder aus der Leitung flog.
Schließlich entschuldigte sich eine Sekretärin und meinte, der zuständige Staatsanwalt sei heute Nacht nicht mehr zu erreichen, Christian solle doch sein Begehr an die Staatsanwaltschaft faxen. Genervt ließ er sich auf das Bett fallen.
„Vater war trotz seines Alters aufmerksam und wach“, ärgerte er sich, „ich kann mir nicht vorstellen, dass er so ein wichtiges Medikament einfach vergessen hat!“
„Verrennst du dich da nicht?“, fragte sie und griff nach seiner Hand. Die Streicheleinheit sollte ihn beruhigen, aber er wollte jetzt nicht beruhigt werden. Ihre Reaktion machte ihn wütend: Warum interessierte sie sich nicht wirklich für die Dinge, die ihn im Innersten bewegten? Sanft zog sie ihn näher, strich ihm über die Brust, öffnete sein Hemd. Er sträubte sich. Sie knabberte an seiner Brustwarze, küsste ihn auf die Wangen, die Augen, den Mund – sie konnte es so gut: Seine Zweifel durch Berührung vertreiben, ihn vom Abgrund wegziehen, ihn aus dunklen Welten holen. Immer und gerade dann, wenn er sich unverstanden fühlte. Spielend löste sie Begierde aus. Er wusste nicht genau, was es war, doch die Art ihrer Berührungen ließ ihn alles vergessen. Sie überzog ihn mit einem warmen Strom gegen sein latentes Unbehagen – das erst am nächsten Morgen wieder zurückkehrte.
Bereits um sechs Uhr früh schreckte Christian hoch, zu viele Fragen quälten ihn. Als er von unten Geräusche hörte, ging Christian in die Küche. Er bemerkte, wie Lutz sich an einem billigen Plastik-Vollautomaten einen Espresso machte. Daneben stand eine Technika. Christian hatte die Edel-Espresso-Maschine Vater zum Sechzigsten geschenkt. Glänzendes Chrom. Manometer. Elegant geschwungener Siebträger. Wie eine stolze Prinzessin thronte die Maschine auf der Küchenanrichte. Unbenutzt. Stromlos. Mutter trank keinen Kaffee, Vater und Lutz hatten offensichtlich den Plastikautomaten vorgezogen, wollten lieber nur ein Knöpfchen drücken, anstatt frische Bohnen zu mahlen, in den Siebträger zu pressen, das Manometer zu beobachten und die Tropfen des Elixiers zu zählen, bis die duftende Crema den schwarzen See bedeckte. Vater und Lutz hatten die schnelle Befüllung dem genüsslichen Ritual vorgezogen. Enttäuscht blickte Christian seinen Bruder an, während er die Technika ansteckte.
„Wegen einer Tasse muss man das Monstrum wieder putzen“, hielt Lutz entgegen. „Zeit ist Geld.“
„Na klar … je schneller du lebst, umso schneller bist du fertig, hm?“
Mit einem raschen Handgriff schüttete Lutz sich Wodka in den Espresso und ignorierte den Kommentar.
„Du weißt doch, wer diese Chinesin ist?“, setzte Christian nach. „Eine Fondsmanagerin, glaub ich.“
„Glaubst du? Was hat Vater mit ihr besprochen?“
Lutz zuckte die Schultern, die Stimmung zwischen den beiden war gereizt.
„Papa hat sich nicht in alle Karten schauen lassen. Auch von mir nicht“, sagte Lutz. „Von Vaters Plan, in drei Tagen nach Schanghai zu reisen, habe ich nichts gewusst!“
Christian nahm ihm das nicht ab. Überhaupt hatte Christian den Eindruck, alle wüssten über Vater mehr als er. Lutz aber wollte jetzt lieber über den Ablauf des Begräbnisses sprechen: Welches Orchester, wie viele Blumengestecke, was für ein Restaurant für den Leichenschmaus.
„Ich will, dass Vater von der Gerichtsmedizin untersucht wird!“, unterbrach ihn Christian.
Verärgert taxierte Lutz seinen Bruder: „Völlig übertrieben, Papa in die Klinik nach Innsbruck fahren zu lassen.“ Christian sagte nichts. Was natürlich einem Vorwurf gleichkam. „Wozu?“, reagierte Lutz aufgebracht, „eine Untersuchung macht ihn auch nicht wieder lebendig. Wichtiger wär, wenn sich jetzt alle um’s Begräbnis und die Firma kümmern würden. Da gibt’s nämlich genug zu tun!“
Als Christian nicht antwortete, wurde Lutz zornig: „Papa war ein toller Unternehmer. Ein guter Vater. Ein liebevoller Ehemann!“ Seine Wangen glühten. „Er hat immer alles für die Familie getan. Und sich nie teure Privatvergnügen gegönnt. Er war das beste Familienoberhaupt der Welt. Immer gerecht. Bis zu seinem Tod!“
Plötzlich stand die Mutter an der Tür. Mit Tränen in den Augen nickte sie. Doch je mehr seine Familie versuchte, die Ungereimtheiten kleinzureden, umso sicherer wurde Christian: Er musste auf einer gerichtsmedizinischen Untersuchung bestehen. Unbedingt!
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Nach dem Frühstück riss Christian die Tür des Bauernhauses auf und lief den Berg runter. Obwohl bereits Mitte März, war der Schnee unter seinen Füßen hart, es hatte mindestens fünf Grad unter Null. Christian fror trotz seiner dicken Daunenjacke, er sah seinen Atem, rannte vorbei an der Bäckerei, über die Stadteinfahrt, bis ins Zentrum von Innsbruck.
Der mattgrüne Betonbau sah aus wie eine Kaserne aus den 1970ern. Der Portier nannte Christian Zimmer 26. In den breiten Fluren stand vor jeder Tür ein Schirmständer. Neben dem Schild Nr. 27 – Kriminalpolizeilicher Journaldienst lehnte ein edles Mountainbike mit Spikebereifung. Der Besitzer schien auch in der Polizeidirektion niemandem zu trauen, er hatte das Rad mit einem massiven Stahlschloss an ein Heizungsrohr gesperrt.
Christian klopfte. An einem alten Schreibtisch saß eine junge Sekretärin. Über ihrem Arbeitsplatz hing das Porträt des Tiroler Landeshauptmannes, der offensichtlich über ihr Tun wachte. Christian bat sie, den diensthabenden Kripobeamten sprechen zu dürfen.
Die Frau bedeutete ihm, auf einem der sieben abgewetzten Holzstühle Platz zu nehmen; sie standen an der Wand wie stumme Soldaten, die auf Entlassung hofften. Die junge Frau verschwand.
Das Zimmer verfügte nur über ein kleines Fenster, die Neonröhre spiegelte sich in sieben Schwarz-Weiß-Fotos von den Zillertaler Alpen. Warum hingen in öffentlichen Gebäuden so oft Bilder von Bergmassiven fragte sich Christian. Wollte man sich erhöhen, etwas Gewaltiges vorgeben, auf Gipfel verweisen? Dabei verhindern Berge die Sicht auf die Weite, engen den Horizont ein, machen den Betrachter klein. Vielleicht sollte der Besucher voller Demut den Beamten gegenübertreten. Christian hörte, wie im Nebenzimmer gesprochen und telefoniert wurde. Schließlich kam die junge Frau zurück: „Sie können jetzt rein, der Herr Oberinspektor erwartet Sie.“
In dem mit modernen, hellgrauen Büromöbeln ausgestatteten Zimmer streckte ihm ein Mann die Hand entgegen, Christian schätzte ihn auf Ende Vierzig, er hatte schütteres Haar. Eine schmale Lesebrille auf seiner kantigen Nase leitete den Blick zu hellgrünen Augen.
„Grüß Gott. Oberinspektor Klaus Trummer mein Name. Was verschafft mir die Ehre?“
Christian erzählte von seinem Vater. Nach jedem Satz nickte Trummer. Nebenbei tippte er etwas in den Computer. Auf der Anrichte hinter dem Beamten bemerkte Christian eine schwarze Vollvisiermütze mit Augenschlitzen, dicke Sporthandschuhe und einen orangefarbenen Fahrradhelm mit Leuchte.
„Erst mal mein aufrichtiges Beileid“, sagte der Spikebiker, der offensichtlich das winterliche Risiko durch massive Sicherheitsausstattung zu vermindern suchte. „Ich kann gut verstehen, dass Ihnen so ein schwerer Verlust zu schaffen macht. Was aber veranlasst Sie zu glauben, Ihrem Herrn Vater sei tatsächlich etwas angetan worden?“
„Vor mir hat mein Vater Besuch von einer chinesischen Dame gehabt. Er ist mit ihr längere Zeit allein gewesen. Weder mein Bruder noch Vaters Assistentin können mir sagen, was die Frau wirklich bei ihm gewollt hatte. Und als ich eine halbe Stunde später den Raum betreten hab, war er tot!“
Trummer sagte lange nichts, nahm einen Stift zur Hand und machte sich Notizen. Ein klobiger Ehering zierte die rechte Hand des Polizisten.
„Eigenartig ist vor allem“, unterbrach Christian das Schweigen, „nur wenige Stunden später hat die chinesische Dame bereits Österreich verlassen.“ Er beugte sich zu dem Kripomann: „Ich bitte Sie inständig, diese Frau zu befragen! Es gibt doch so etwas wie ein Rechtshilfeabkommen. Sicher auch mit China, oder?“
„Herr Selikowsky“, der Beamte nahm seine Lesebrille von der Nase, „ich kann Ihre Sorge vollkommen nachvollziehen! Glauben Sie, Ihr Vater hatte Feinde?“
Christian registrierte, wie Trummer jede kleinste Regung von ihm aufsog. Er wusste, dass er normalerweise auf den ersten Blick sympathisch wirkte. In Vaters Firma galt er als netter Kerl, den sich jede alte Dame als Schwiegersohn wünscht. Doch Christian war sicher: Sein Aussehen half ihm bei Trummer kein bisschen. Im Gegenteil. Dieser Mann misstraute netten Menschen.
„Weiß ich nicht, aber ich möchte einen Antrag stellen“, setzte Christian nach, „ich will, dass mein Vater obduziert wird!“ „Ja … natürlich“, Trummer sah Christian verständnisvoll an, „erlauben Sie mir vielleicht noch eine Frage.“ Er las einige Zeilen am Flachbildschirm und fuhr sich neuerlich durch sein schütteres Haar: „In dem Protokoll von Kollege Weirather steht, dass Sie als Erster den Toten gefunden haben, richtig?“
Christian nickte.
„Sie waren also zur Zeit, als Ihr Vater starb, der Einzige in der Firmenvilla? Nur ihr Vater. Und Sie. Auch richtig?“ „Ja … nein … ich weiß es nicht … mein Bruder hat meiner Verlobten das Werk gezeigt. Aber nur kurz … dann hat er ihr einen Film vorgespielt. Über die Werksgeschichte. Und ist verschwunden. Sagt sie.“
„Sagt sie?“
Erneut nickte Christian.
„Wie lange kennen Sie denn ihre Verlobte schon?“
„Vier Jahre. Wir wollen demnächst heiraten.“
„Herzlichen Glückwunsch!“
„Danke.“ Christian war verdutzt. „Nur … was hat das mit der chinesischen Dame zu tun?“
Trummer lächelte und setzte seine Lesebrille wieder auf. „Ich möchte bloß den präzisen Ablauf kurz vor dem Tod Ihres Vaters rekonstruieren.“
Aufgekratzt beugte sich Christian näher zu dem Beamten: „Unlogisch ist vor allem: Mein Vater hatte ausreichend Medikamente zur Verfügung. Trotzdem hat er seine Pillen nicht genommen!“
„Woher wissen Sie das?“
„Sonst würde er ja noch leben, oder?“
„Nein, woher wissen Sie, dass er ausreichend Medikamente zur Verfügung hatte?“
„Ich hab nachgeschaut. In seiner Schreibtischlade lagen ACE-Hemmer und Betablocker.“
Der Kripomann runzelte die Stirn und blickte auf den Flachbildschirm: „Herr Selikowsky, was ich mich frage: Warum haben Sie denn überhaupt nichts vom Todeseintritt Ihres Vaters mitbekommen? Sie hatten ja einen realen Abstand von nur zwei bis drei Metern.“
„Da war die Bürotür dazwischen. Ziemlich dick.“
„Laut dem Bericht von Kollege Weirather ist Ihr Vater zusammengebrochen. Und vom Stuhl gefallen. Er hatte sogar eine Verletzung an der Schläfe!“
Christian zuckte die Schultern.
„Haben Sie nichts gehört? Kein Stöhnen, kein Röcheln, keinen Aufschrei?“
„Nur ein dumpfes Geräusch. Kurz darauf bin ich rein.“
„Wie kurz?“
„Weiß nicht … hab nicht auf die Uhr geschaut. Aber wie ich rein bin, war’s schon zu spät … ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie die Chinesin befragen könnten. Was wollte sie von Vater? Was hat sie bei ihm gemacht?“
Wie schon so oft, nickte der Beamte: „Ich kümmere mich darum. Aber sagen Sie mal, wer erbt eigentlich jetzt die Firma Selikowsky?“
Christian zuckte die Schultern: „Ich nehme an, meine Mutter, mein Bruder und ich.“
„Hat Ihr Vater ein Testament verfasst?“
„Keine Ahnung.“ Christian hatte nie nachgefragt, es war ihm im Moment auch nicht wichtig.
„Eine kleine Bitte habe ich noch … haben Sie einen Ausweis dabei?“
Verunsichert blickte Christian den Polizisten an.
„Reine Formalie.“ Trummer lächelte.
Christian zückte unwillig seinen Führerschein. Der Kriminalbeamte schrieb die Daten ab, legte seine Lesebrille zur Seite und begleitete Christian zur Tür. Trummers Schuhe quietschten erbärmlich; trotz des winterlichen Wetters trug er nagelneue Rennradschuhe.
„Ach ja … und ich möchte Sie bitten, die nächsten 24 Stunden Innsbruck nicht zu verlassen“, sagte er und streckte ihm die Hand hin, „könnte sein, dass ich noch ein paar Fragen habe!“
Christian hatte vor kurzem in einer Reportage gelesen, dass die Bewegungsfreiheit ein Grundrecht war. Nur bei einem Anfangsverdacht darf sie eingeschränkt werden. Verdächtigte ihn Trummer, etwas mit Vaters Tod zu tun zu haben? Absurd! Würde der Mann mit dem Spikebike überhaupt Christians Hinweise ernst nehmen und die chinesische Dame befragen?
„Was ist das jetzt? Eine polizeiliche Anordnung, an die ich mich halten muss?“, wollte Christian wissen.
„Eine freundliche Bitte. An die Sie sich sicher halten werden, weil Sie ein Gentleman sind und der Polizei gerne helfen, oder?“ Trummer grinste. Sein Händedruck war fest, seine Handflächen warm, unangenehm warm. Beim Rausgehen schlug Christian kalter Wind entgegen.
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Er kämpfte sich durch das verschneite Innsbruck. Schon von draußen hörte Christian den Menschenfresser. Es war kein Bellen, sondern ein Kläffen. Als surrend die Tür zum Wachzimmer aufsprang, stellte sich Christian so, dass der Menschenfresser an ihm vorbeikonnte. Und weg war er. Weirather hatte eine Pizza vor sich, kaute an Spinat und Mozarella: „Bischt narrisch … jetzt isch des Viech furt!“
Christian zuckte grinsend die Schultern: „Tut mir echt leid.“
„Egal. Tierheim isch eh voll. Sonst wollt’ ihn sowieso kaner.“
Christian wurde sofort ernst: „Du, wir kennen uns ja, seit ich ein Bub bin. Ich brauch jetzt wirklich deine …“
„Du hascht gwonna“, unterbrach ihn Weirather. „Bitte?“
„Ich hab ebn mit’m Trummer telefoniert. Ihr müsst’s das Begräbnis bittschön verschiebn, die Leich wird doch obduziert. Dann wiss ma endgültig, wie dei Vater gstorben isch.“
„Wann gibt’s die Ergebnisse?“
„Heute, morgen, übermorgen, ka Ahnung.“
„Und warum jetzt auf einmal?“, fragte Christian.
Weirather kaute an seiner Pizza, ignorierte Christian, als wollte er sich für die neuerliche Unterbrechung beim Essen revanchieren. Erst als Weirather den letzten Bissen verdrückt hatte, sagte er: „Kennscht du die Gschicht von dem amerikanischn Politika, der in die 1970ger radikal gegn die Schwuln vorgangn isch und strengste Strafn durchgsetzt hat?“
Christian schüttelte den Kopf.
„Am End hat sich rausgstellt: Er war selbst homosexuell!“
„Und?“
„Schau mal“, sagte Weirather und griff zu seinem Schweizer Taschenmesser, aus dem er einen Plastik-Zahnstocher herausfädelte, um damit die Spinatreste aus seinen Zahnzwischenräumen zu fischen. „Wenn ma so penetrant jemand verdächtigt wie du, macht ma si erscht amol selbst verdächtig! Jeder Bulle hat das im Psychologieunterricht glernt: Am meistn regn sich d’Leut über Sachn auf, mit denen sie selbst a Problem habn!“
„Das heißt also“, ärgerte sich Christian, „die Polizei bekämpft nicht diejenigen, die das Übel verursachen. Sondern diejenigen, die darauf aufmerksam machen!“
Weirather räumte sein Taschenmesser weg und steckte sich einen Kaugummi in den Mund.
„Wird jetzt wenigstens auch die chinesische Dame befragt?“ „Chinesische Dame? Wer ist das?“ Weirather grinste süffisant. „Name? Wohnort? Adresse?“ Er schüttelte den Kopf. „Hab ich dir scho mal gsagt, dass du ka Ahnung von Polizeiarbeit hascht? Nachreise geht gar nit. Wir könna nur a Rechtshilfeverfahrn beantragn. Dann wird die Lady von eim chinesischn Kollegn befragt. Kann aba dauern … habn wir noch nie gmacht.“
„Wunderbar!“
Weirather hielt im Kauen inne: „Du muascht a den Trummer verstehn. Der macht sein Job seit zwanzg Jahr. Und wenn sich’s – wider aller Wahrscheinlichkeit – tatsächlich um an Mord handelt, isch der Täta zu über neunzg Prozent innerhalb der Familie z’findn.“
„Das ist doch Blödsinn.“
„Des isch Kriminalschtatistik!“
Bedächtig faltete Weirather den leeren Pizzakarton. Christian hörte vor der Tür ein Geräusch. Er öffnete einen Spalt: Der Menschenfresser stand winselnd am Eingang. Treuherzige Augen starrten Christian an. Er ließ den Hund rein und raunte: „Danke für den Generalverdacht.“
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.