Kitabı oku: «Tetralogie des Erinnerns», sayfa 3
DER ERTRINKENDE
Immer wenn mein bewegliches, rotbraunes Holzkämmerchen voller Spiegel ein Stockwerk passiert und an einer Gittertür vorbeigleitet, macht das Schmiedewerk des Fahrzeugs einen lauten Klick. Auf und ab fahre ich, vom Keller zum Dachboden, und zu meinem Glück fehlt nur noch die vielknöpfige rote Livree und die flache Mütze des echten Liftboys. Ich bediene die Knöpfe, wie ich es ihn in dem anderen Aufzug des Hotels habe tun sehen, und verschwunden ist die grimmige Langeweile, die mich am Tisch der Eltern und ihrer Bekannten geplagt hat. Niemand sprach dort mit mir und das, was ich aufschnappte, rief die vergessenen Ängste wieder wach, die mich vor einem Jahr überfallen hatten, als Männer in braunen Hemden und mit roten Hakenkreuzbinden die Schaufensterscheiben unseres Geschäftes beschmierten. Die geflüsterten Namen und Schimpfwörter kamen mir bekannt vor, aber der Sinn des Gesprächs blieb im Dunkeln; sogar meine Mutter nahm mit roten Wangen daran teil und vergaß, daß ich dabeisaß. Niemand hielt mich zurück, als ich den großen, hohen Saal verließ, wo aus den schwatzenden Mündern der vielen Erwachsenen die Rauchschwaden wie Schlechtwetterwolken zur Decke stiegen, und Oberkellner mit flatternden Frackschwänzen Tabletts voll Kaffeetassen und Gläser mit grünen, roten und gelben Getränken auf der Hand tanzen ließen, ohne etwas zu verschütten.
An der großen, glatten, glänzenden Theke, hinter der sich Hunderte von numerierten Fächern mit Briefen, Zeitungen und Schlüsseln befinden, komme ich nicht unbemerkt vorbei. Der kahle dicke Mann in moosgrüner Uniform, der mir gleich bei unserer Ankunft die Hand gab und nach meinem Namen fragte, sagt in seinem drolligen Deutsch, daß ich mich nicht verirren soll.
Langsam schlendere ich durch die langen Korridore und betrachte die Bilder mit Hirschen, Hunden und Vögeln an den Wänden. In einem langen, unbekannten Gang, dessen Läufer schon ein wenig verschlissen aussieht, entdecke ich einen Lift mit einem genauso verschnörkelten Gitterwerk wie in dem Gang, wo unser Zimmer liegt. Dort durfte ich weder die Knöpfe drücken noch die beiden Türen schließen. Mutter fürchtete, ich könnte mir die Finger einklemmen, obwohl ich zu Hause mit unserem Aufzug sehr gut umgehen kann.
Die rumpelnde Fahrt vom Keller zum Dachboden und vom Dachboden in den Keller fesselt meine Aufmerksamkeit nicht lange, und als ich auf einen Knopf drücke um anzuhalten, bleibt mein Käfig zwischen zwei Stockwerken hängen. Weder das Zerren an der Innentür noch die Fingerübungen auf den Knöpfen setzen das Fahrzeug wieder in Bewegung. Was zunächst so lustig aussah, ist jetzt bedrohlich geworden. Ich fühle mich wie ein Gefangener und aus den Spiegeln sieht mich ein ängstliches Gesicht mit großen Augen an.
Wie eine Schlange beschleicht mich die Furcht, hier jämmerlich und einsam sterben zu müssen, denn trotz der Hilferufe und gellenden Schreie kommt niemand, um mich zu erlösen.
Ich schrecke hoch, als der Käfig metallisch zu rasseln beginnt. Über mir sehe ich die Schuhe und Beine meiner Eltern und die grünen Hosenbeine des Oberportiers. Meine Hose ist kalt und naß. Die Scham ist größer als die Angst vor Strafe, als die Eltern mich an den neugierigen Erwachsenen vorbei auf unser Zimmer bringen.
Am späten Morgen des nächsten Tages, als sich der hellblaue Nebel über den Weingärten verzieht, erkunden wir das Schwimmbad von Meran mit den langen Reihen von rosafarbenen Kabinen, den bunten Liegestühlen, den kleinen und grossen, tiefen und flachen Becken und dem Kinderspielplatz, der mich wie ein Magnet anzieht.
Nirgends steht ein Schild wie zu Hause, das den Juden den Zutritt verbietet, trotzdem stammelt Mutter verlegen, als sie vor dem Mann an der Kasse steht.
Drinnen entdecken meine Eltern rasch Freunde aus dem hohen Hotelsaal, und die Gespräche werden fortgesetzt, als wären sie über Nacht nicht unterbrochen worden.
Der singende Ruf des Eisverkäufers: »Gelati, Gelati«, übertönt das aufgeregte Geplapper und weckt mich aus meinen Tagträumen auf dem Spielplatz.
Auf dem Rücksitz unseres dunkelblauen Adlers, Vaters makelloser Stolz, schaue ich schläfrig in die vorüberziehende gebirgige Landschaft hinaus. Auf langen geraden Wegstrecken, wenn das Auto ruhig brummt, schiebt er die weiße Reisemütze auf den Hinterkopf und singt aus voller Brust. Mutter fällt ein und die zweistimmigen Arien erklingen im Inneren des Autos freier und fröhlicher als daheim in unserem Musikzimmer.
Die Route entlang dem Gardasee vertreibt meinen Schlaf. In den gespenstischen, roh ausgehauenen Tunnels, in die wir immer wieder eintauchen, überläuft mich genüßliches Gruseln, und im grellweißen Sonnenlicht am Tunnelende kneife ich die Augen zu.
Wenn ich sie öffne, sieht die Landschaft immer wieder anders aus. Was bleibt, ist der tiefblaue See, die grau und rot geäderten Felsen und die weißen Dreiecke der kleinen Segelboote. Manchmal hält Vater bei einem Aussichtspunkt an, zeigt mir durchs Fernglas einen Marmorbruch, ein Dorf, einen Berg in der Ferne oder macht ein Foto.
Im Fernglas erkenne ich selten, was er mir zeigt, aber das sage ich ihm nicht, denn ich möchte nicht darauf verzichten, den schönen schwarzen Apparat in den Händen zu halten.
Riva ist unser Urlaubsziel. Nach dem Drehen am Rändelrad und ein wenig Hilfe beim Suchen des Bildes erkenne ich die meergrünen, blauen und rosa Häuser am Ufer, den Kai des kleinen Hafens, eine mit Flaggen geschmückte Fähre am Landungssteg, die Hotelterrassen mit den Markisen, die wie große Melonenschnitze über den Fenstern hängen, die Menschen an den weißen Tischen, die buntgestreiften Sonnenschirme und die an den Tauen dümpelnden Segelboote.
Kaum eine Stunde später gehören wir in Riva dazu und der Besitzer der Gelateria unserem Hotel gegenüber hat aus den tiefen Kühlzylindern mit den weißen spitzen Metalldeckeln drei bunte Eisbecher für uns gezaubert.
Die nächsten Wochen sind abwechselnd interessant und langweilig.
Auf den Spaziergängen nach Torbole entlang der Autostraße ist es drückend heiß. Voran Vater mit Spazierstock und weißer Mütze, in Knickerbockers und Polohemd. Mutter hinter mir, in leichten Schuhen, ruft ihm zu, seine Schritte ein wenig zu bremsen. Am Strand Badeanzüge mit breiten Streifen. Die Gummibademütze mit dem Band unter dem Kinn verwandelt Mutter in ein fremdartiges Wasserwesen.
Ich spiele mit Sand und Steinen. Manchmal werfen wir uns einen Gummiring zu, aber meistens muß ich mich selbst beschäftigen. Die anderen Kinder bleiben genauso wie ich bei den Eltern sitzen, und neidisch beobachte ich die Familien mit mehreren Kindern. Wie herrlich wäre ein Spielkamerad.
Vater geht spritzend und platschend ins Wasser und kommt als prustendes Seeungeheuer wieder heraus. Ein paar Meter weit wage ich mich mit ihm hinein, aber wenn das kalte Naß mir über die Taille steigt, kann auch seine ausgestreckte Hand mich nicht beruhigen.
Oft sitzen wir in der Sonne unter den Schirmen am Ufer und manchmal kommt ein Wind auf, der das dunkelbraune Haar meiner Mutter zerzaust. Sie steckt es mit Haarnadeln fest, die sie ständig verliert und die ich dann für sie suchen muß.
Am Kai ist viel los. Der Raddampfer, der mir von einem Ausflug auf dem See bekannt ist und dessen ächzendes Metallgestänge im offenen Kasten ich mehr genossen habe als die allerseits bewunderte Aussicht auf dem Deck, bringt bei jeder Ankunft Dutzende von Feriengästen, Dorfbewohnern und Soldaten mit. Die Touristen lassen sich schnatternd auf den Terrassen um uns herum nieder, die anderen verschwinden zwischen den Häusern.
Atemlos schaue ich zu, als einmal eine schier endlose Reihe von Jungen, manche kaum größer als ich, mit dunklen Hemden und Käppis und einem roten Tuch um den Hals, singend die Laufplanke herunterkommt. Am Ufer stellen sie sich in Reih und Glied auf und marschieren singend zum Kai. Dort singen sie weiter, schlagen Trommeln und blasen auf kleinen Flöten. Die Kellner, Gäste und Einwohner eilen zu ihnen hinunter. Wir und die neuen Bekannten meiner Eltern bleiben sitzen, obwohl ich schrecklich gern auch hingegangen wäre. »Das ist die Balilla«, flüstert Vater mir ins Ohr und ich ahne, was das bedeutet.
Der große Oberkellner, Herr Fritz, mit straff zur Seite gekämmtem blondem Haar und großen Ohren, der immer im Frack herumläuft, auch wenn die anderen Kellner nur eine Weste tragen, zeigt mir manchmal die schönen Schiffe auf dem See, erkundigt sich nach meinem Zuhause, nach meinem Hund Senta und was ich später werden will, und bringt mir mit dem Eis oft einen Farbstift, einen Luftballon oder ein Blatt Papier zum Zeichnen. Er redet nicht viel, aber ich weiß, daß er mein Freund ist.
Es sind nur noch wenige Tage bis zum Ende des Urlaubs. Nach einer langen, mühsamen Kletterpartie zum Marmorbruch kehren wir, klebrig von Schweiß und Staub, auf die Terrasse zu unserem vertrauten Tisch zurück. Auch hier ist es schwül und feucht. Über dem See ballen sich graurosa Wolken zusammen, auf dem Kai ist mehr Gedränge und Lärm als sonst. Aus den offenen Fenstern schallen Radiostimmen auf deutsch und italienisch.
Männer stehen in kleinen Gruppen beisammen, hören den Lautsprechern zu und reden laut miteinander.
Ein Raddampfer legt an. Der Himmel färbt sich lila, weiße Sommerhüte fliegen über die Kieselsteine.
Ein Ehepaar mit zwei Jungen, der kleinere etwa sechs Jahre alt wie ich, der größere vielleicht acht, kommen von der Laufplanke geradewegs auf uns zu und setzen sich an den Tisch vor dem unseren. Beide Jungen haben weiße Hemden an. Eifersüchtig schaue ich zu, wie sie die riesigen Eisbecher, die Herr Fritz ihnen bringt, auslöffeln, und verspüre kein Mitleid, als ihre Mutter böse schimpft, weil sie ihre guten Sachen bekleckern.
Ihre und meine Eltern geraten ins Gespräch, und plötzlich scheint es, als redeten alle Erwachsenen auf der Terrasse miteinander und durcheinander. Ich sitze verloren und gelangweilt zwischen den aufgeregten großen Leuten, höre um mich herum die plappernden Stimmen, die schmetternden Lautsprecher, das Donnergrollen in der Ferne und schaue sehnsüchtig dem Spiel der beiden Jungen zu, die am Ende des Landungssteges ein kleines Boot an einer Schnur durchs Wasser ziehen.
Verlegenheit und Furcht vor dem großen Wasser fesseln mich an meinen Stuhl.
Windstöße rütteln an den Markisen und Sonnenschirmen. Boote mit gerefften Segeln tanzen knarrend an der Mole und zerren wie Hunde an ihren Leinen.
Gebannt beobachte ich die Versuche der Jungen, das losgerissene Spielzeugboot einzufangen.
Der Kleine steht weinend an der Stegkante, den Mund weit aufgerissen, aber sein Schrei ist nicht zu hören. Jetzt sehe ich nur noch seinen Bruder, der sich auf dem Bauch liegend tief hinunterbeugt, dann ist auch er verschwunden.
Niemand scheint etwas zu merken. Würgende Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich rufe um Hilfe, doch niemand beachtet mich.
Die Erwachsenen lauschen gespannt der metallenen Stimme aus dem Lautsprecher, die der pfeifende Wind in Fetzen davonweht.
Verzweifelt zeige ich auf den leeren Steg, doch keiner kümmert sich darum. Ich schreie sogar, werde aber wie ein lästiges Kind beiseitegeschoben, als ich an ihren Ärmeln ziehe. Ich renne zum Steg hinunter und sehe, wie der eine Junge im Wasser zappelt. Gleich daneben zwei Hände, die gerade noch über die Wasserfläche hinausragen.
Herr Fritz steht mit dem Rücken zum See und hört ebenfalls zu. Ich ziehe an seinen Rockschößen wie an einem Glockenstrang und fuchtele, fuchtele mit den Händen, stimmlos in den Alptraum schreiend.
Er sieht, was ich sehe, wirft wortlos den Frack ab und springt in den schäumenden See.
Er kämpft mit dem Wasser, zieht den älteren Jungen ans Ufer und sucht an der Stelle, wo die Händen des jüngeren untergegangen sind.
Meine Eltern und die anderen Erwachsenen erwachen aus ihrer Trance, drängen sich an den Rand des Wassers und rufen ihm Anweisungen zu.
Als ich durch einen Wald von Beinen Herrn Fritz erblicke, der triefend, mit zerknautschter, schlaffer Hemdbrust hinter dem Kleinen kniet und seine Arme wie Flügel hochreißt und an den Körper drückt, um ihn wieder zum Leben zu erwecken, bricht der Damm meiner Tränen.
Allmählich verflüchtigt sich der böse Traum. Die Metallstimme aus dem Lautsprecher schweigt, das Pfeifen des Windes läßt nach, das Krakeelen der Erwachsenen verstummt.
Vor mich hinstarrend, hin und wieder aufschluchzend, sitze ich zwischen den Eltern. Lebt er oder ist das schon der Tod? Immer wieder sehe ich vor mir sein bläulich-weißes Gesicht und Herrn Fritz, der seine Arme wie Pumpenschwengel auf und ab bewegt.
Der Applaus meiner Eltern und der anderen Gäste schreckt mich hoch. Herr Fritz kommt auf uns zu, in tadellosem Anzug ohne Knitterfalten. Die Hemdbrust ist steif und sauber, das Haar wieder glattgekämmt mit scharf gezogenem Scheitel. Er bleibt vor mir stehen, beugt sich vor, streicht mir über den Kopf und sagt: »Der Junge lebt, er hat Glück gehabt«, und zu meinen Eltern: »Die Nazis haben Dollfuß erschossen.«
Tage eher als vorgesehen, am frühen Morgen, als Nebelschwaden über dem See treiben und der Sonnenschirm an unserem weißen Tischchen traurig tropft, treten wir die Heimreise an. Auf dem Rücksitz des Adlers betrachte ich fröstelnd die Nacken meiner Eltern. Sie kommen mir gebeugt vor. Aus ihrem Mund kommt kein Lied wie auf der Herfahrt. Nirgends ist es warm und sicher.
MARIA UND LENA
»Schau lieber nicht hin«, sagt Maria und nimmt mir die Sicht auf dem Käfig, indem sie ihre Hüfte an die von Mutter drängt.
Wenn ich mich auf die Zehen stelle und den Hals recke, kann ich durch den ovalen Spalt zwischen ihnen trotzdem sehen, was passiert ist. Ein kleines Häufchen gelber Federn mit steif hochgezogenen Füßchen liegt mitten im Futter auf der Bodenplatte hinter den gelben Kupferstäben des Vogelbauers.
Ich bringe kein Wort heraus, Tränen kitzeln auf meinen Wangen, als gehörten sie nicht mir.
Dann öffnet sich der Schirm ihrer Körper und ich sehe, daß die Porzellanschälchen mit Wasser und Vogelfutter, die ich täglich füllen und saubermachen darf, unberührt sind. Was Kranksein bedeutet, weiß ich sehr gut, aber daß der Tod nie mehr geheilt werden kann, erklärt mir jetzt Maria mit feuchten Augen. Mutter streichelt meine Haare. Ihre Augen und Nase sind rot und ihre Trostworte klingen stark erkältet.
Maria wischt meine Trauer fort mit dem Versprechen, Hänsel an einem schönen Ort unter einem Lindenbaum zu beerdigen, wie es sich gehört. In der Nähstube sucht sie nach schwarzen Samtresten und Wolle, Mutter findet eine schöne große Zigarrenkiste, die noch nach Holz und Tabak riecht, und ich zeichne den schönsten Vogel auf meinen Malblock, um ihn Hänsel als Gefährten mitzugeben. Sein Samtbett steht auf dem weißmarmornen Küchentisch und behutsam bettet Maria das gelbe Körperchen, zusammen mit meiner Zeichnung, hinein.
Senta, meine schwarze Schäferhündin, darf heute nicht mit und begreift auch warum, als ich es ihr vor ihrem Korb im Gang hockend erkläre.
Maria hat für den ernsten Gang einen dünnen dunklen Mantel über ihr Dirndlkleid angezogen; der große Hut mit den roten Kirschen sieht vornehm aus über den weichen braunen Haaren, die ich manchmal flechten darf. Ihre rechte Hand halte ich ganz fest, in der linken trägt sie das Kistchen vor sich her.
Wir gehen am schäumenden, wilden Wasser der Murg entlang zum Kurhauspark, meiden aber die großen Wandmalereien der Trinkhalle, die wir beide scheußlich und gruselig finden.
Alte Leute mit Stöcken, die den Michaelsberg, den Hügel hinter dem Gebäude mit dem heißen Quellwasser, Schritt für Schritt hinaufsteigen, gehen an uns vorbei.
Zweimal werden wir neugierig angesprochen von Damen mit runzligen Gesichtern und schwarzen Bändchen mit goldenen Anhängern um den Hals. Maria erklärt ihnen, was wir tun, und ernst nickend lassen sie uns weitergehen.
Außer Atem schauen wir uns oben auf dem Hügel um. Maria zeigt auf unser Haus, weit unten im Tal, und meint, daß Mutter jetzt sicher Ausschau hält. Mit ihrem Taschentuch, das nach Kölnisch Wasser riecht, wischt sie mir die Stirn ab.
Auf der Kuppe des Michaelsberges, unter den alten Linden suchen wir unauffällig nach einem schönen Platz. Mit meiner Sandschippe, die Maria aus der Manteltasche zieht, graben wir abwechselnd ein Loch unter einem Strauch an einem Platz, den niemand kennt.
Hänsels Sarg paßt genau hinein, und als das Holz unter der Erde verschwindet, wird mir bewußt, daß ich meinen Vogel nie wiedersehen werde. Tränen füllen mir die Augen und durch die Tränen hindurch sehe ich, daß auch Marias Augen naß sind.
Sie legt zwei Holzstöckchen als Kreuz auf das Erdhäufchen, nimmt dann meinen Kopf in die Hände, an denen noch Erde klebt, drückt mir einen Kuß auf die Stirn und sagt leise: »Gott beschütze dich, Gerdl.«
Ihre Worte machen mich unsäglich traurig, ohne daß ich genau weiß, warum. Schweres Schluchzen drückt mir auf die Brust und sitzt in meiner Kehle, und als zu Hause meine Stimme heiser klingt, fragt Mutter, ob ich mich dort oben auf dem Hügel erkältet hätte.
Die Tage, die nun folgen, sind graue Regenwolken, aus denen halbverstandene Sätze tröpfeln. Maria muß zur »Gestapo«, bei ihren Eltern haben die Braunen vor der Tür gestanden. Bei Tisch erzählt sie von bösen Männern, die sie verspottet und ihr gedroht haben. Mit einem Kloß im Hals liest sie uns den Brief ihres Vaters vor, in dem er sie bittet, nach Hause zu kommen. Maria möchte lieber dableiben. Mutter zerknüllt ein naßgeweintes Taschentuch in der Hand. Vater ahnt Gefahr und stottert hin und wieder. Marias Angst zittert in mir nach. Ich schlage die Arme um ihren Hals, um sie festzuhalten.
Ganz, ganz oft wird sie an mich denken, an meine Eltern und an Senta. Sie wird mir viele Briefe schicken, verspricht sie flüsternd, bald wird der böse Spuk vorbei sein.
Zwei große rostbraune Mädlerkoffer mit hölzernen Beschlägen und Kupferschlössern stehen am nächsten Morgen im Gang, als ich unbemerkt mein Bett verlasse. Barfüßig und noch im Nachthemd betaste ich die Unheilsdinger und fühle, wie schwer sie sind. Wider besseres Wissen hoffe ich, daß die Koffer nicht ins Auto passen oder daß Maria es sich überlegt und lachend sagt: »Ich bleibe hier.« Durch meinen Kopf summt es: »O bleib bei mir und geh nicht fort!«
Die Sommersonne scheint, als Maria neben Vater im Auto sitzt. Die Koffer auf dem Rücksitz. Obendrauf ihr dünner dunkler Mantel und der Kirschenhut. Unter Tränen lächelt sie mir zu, und ich winke und winke und winke, bis sie in meinem Meer von Traurigkeit ertrinkt.
Ohne Maria ist unser Haus leer und unfreundlich. Die großen dunklen Möbel schauen streng, der Flügel glänzt schwarz und abweisend.
Der schwere grüne Staubsaugertopf, den ich hinter Mutter hertrage, brummt und jault. Das rote Tuch um ihren Kopf kann nicht verhindern, daß ihr immer wieder eine Locke ins erhitzte Gesicht fällt, die sie mit dem Handrücken wegzuwischen versucht. Sie sagt nicht viel beim Reinemachen und das bleibt auch später in der Küche so. Sentas Schwanz hängt traurig herab, sogar wenn sie zum Einkaufen mitkommen darf. Meine kleine graue Großmutter mit dem wackelnden Kneifer, dem langen schwarzen Kleid und dem gehäkelten Umschlagtuch sitzt täglich viele Stunden an der neuen Tretnähmaschine und flickt oder ändert die Kleidung, die ich anprobieren muß, obwohl die Stecknadeln darin mich pieksen. Seit Marias Abreise wohnt sie ständig bei uns, sie hat ihr Zimmer in Dunkelgrün und Braun tapezieren lassen. Die Ecke, in der ihr großes Bett aus Mahagoniholz steht, gleicht einer Erdhöhle. Der frische Geruch von Kölnisch Wasser und Feldblumen ist verflogen und hat dem von Baldriantropfen und Kampferspiritus Platz gemacht.
Morgens und am späten Nachmittag sehe ich zuweilen, wie Oma Gebete aus einem Buch aufsagt. Dabei steht sie vor der blinden Ostwand, nickt mit den Kopf, schaukelt den Oberkörper hin und her und antwortet nicht, wenn ich etwas frage oder sage.
Wenn es regnet und ich mich zu Hause langweile, lasse ich meine aufziehbare Eisenbahn durch ihr Zimmer tuckern oder baue eine Hütte aus zwei Stühlen und ihrer braunen Kamelhaardecke. Dann erzählt sie von ihrer Jugend im Elsaß, ihrer Lehrzeit als Modistin in Straßburg, von Onkel Edward aus Metz mit dem feuchten grauen Schnurrbart und der Melone, der bei Verdun so tapfer gewesen ist, von ihren noch lebenden Brüdern und Schwestern im sicheren Frankreich und von ihrem Geburtsdorf bei Kehl, das ich von langweiligen Sonntagsbesuchen her kenne.
An Samstagen betet sie länger als gewöhnlich und trägt das vornehme schwarze Kleid mit weißem Spitzenkragen und Jabot. Zur Synagoge geht sie nicht mehr, denn auf die Straße, wo viele Nazis herumlaufen, wagt sie sich nicht mehr hinaus.
Seit ihrer Ankunft haben sich die Freitagabende verändert. Auf einem glänzenden, weißen Damasttischtuch stehen die silbernen Leuchter, die noch Mutters Vater gehört haben. Das Rosenthal-Service mit dem Goldrand, bislang im Büffet vergraben, glänzt wie neu unter der großen seidenen Hängelampe. Großmutter segnet die Kerzen, murmelt ein Gebet und hält die Hände vor die Flammen, als wolle sie sie wärmen. Auf Vaters Kopf der schwarze Bowler, auf meinem die Schirmmütze aus Wolle, mit der ich mich unbehaglich fühle. Wir alle sind festlich gekleidet. Vater singt, als wir vor unseren Tellern stehen, und zu dem Stückchen Mohnbrot mit Salz und einem Schluck Wein aus dem alten verbeulten Silberbecher muß ich unverständliche hebräische Wörter nachsprechen.
Nach der Hühnersuppe bringt Mutter eine Schüssel mit einem großen Karpfen in braunem, manchmal grünem Gelee aus der Küche. Ich mag das Gericht nicht, aber aus Höflichkeit gegenüber Großmutter, die stolz auf ihr Werk ist, muß ich davon kosten.
Onkel Jacob, Omas Lieblingsbruder, der Sabbatgast an unserem Tisch, ißt manchmal einen halben Fisch. Er ist arm und klagt ständig über Rheumatismus und zu wenig Geld. Manchmal spricht er das Dankgebet und zieht es solange hin, bis die Eltern und ich vor Langeweile gähnen.
Wenn er unruhig und gehetzt meinem Vater überläßt, den Tisch aufzuheben, und nervös den Deckel seiner dicken Taschenuhr auf- und zuklappt, weiß ich nur zu gut, was nach dem Essen kommt. Das Zauberwort Bayreuth erlegt allen Schweigen auf. Onkel Jacob und Vater schleppen schwere Sessel vor den Radioschrank, auf dem das neue Blaupunkt-Superhet-Gerät steht und alsbald dröhnen die Walküren, die Meistersinger oder Elsa von Brabant durchs Eßzimmer. Mit einer Hand hinter der Ohrmuschel, um keinen Ton zu versäumen, sitzt Onkel dicht vor dem Lautsprecher, und die Geräusche beim Abräumen des Tisches, beim Öffnen einer Tür oder ein geflüstertes Wort zischt er wütend nieder. Wagner, die Bronzeplakette auf dem Flügel, ist unser Hausgott.
Einige Tage, nachdem mein Vater eine Geschäftsreise angetreten hat, wird Großmutter bettlägerig.
Doktor Roos, der alte Hausarzt mit einem Kopf wie ein glänzendes Osterei, einer goldenen Brille auf der Nase und großen roten Händen, mit denen er mir einmal wehgetan hat, als er sie mir in seinem Sprechzimmer auf den Bauch drückte, bleibt sehr lang bei ihr. Als er fortgeht, kneift er mich fest in die Wange und sagt, daß ich Oma nicht stören darf.
Meine Hoffnung auf gemütliche Tage mit Mutter schwindet, als ich merke, daß Großmutter sie ständig benötigt. Bald möchte sie hoch aufgerichtet sitzen, bald flach liegen, oder sie will Wasser, Suppe oder Kaffee aus einer Schnabeltasse, und die klappernde weiße Bettschüssel muß dauernd gebracht oder hinausgetragen werden.
Ich helfe beim Abstauben, bekomme aber böse Worte gesagt, wenn ich etwas falsch mache. Mutter ist traurig und bekümmert, ich fühle mich hilflos und bin widerspenstig.
In ihrem rosa Bettjäckchen thront Großmutter in den dicken Daunenkissen, die vor dem geflammten, hölzernen Kopfteil ihres Bettes aufgeschichtet sind. Die Haare, die Mutter morgens kämmt und bürstet, hängen offen herab. Sie häkelt ein neues Bettjäckchen, als erwarte sie, noch viel Zeit im Bett verbringen zu müssen. Oft und viel höre ich sie klagen, obwohl es ihr sichtlich besser geht.
Selten verläßt sie das Bett und streitet mit dem Doktor, als er sie zum Aufstehen ermutigt. Ich spiele wieder auf dem Teppich in ihrem Zimmer mit der Eisenbahn, dem Märklin-Baukasten und einer neuen Mickymaus, die mit den Armen schlenkert und läuft, wenn ich sie mit einem Schlüssel im Rücken aufziehe. Hebt man sie hoch, dann trappeln die schwarzen Füßchen, sie schüttelt den Kopf und rattert schneller als die Nähmaschine. Nimmt man sie in die Hände, so ist es, als sei sie lebendig und wollte davonlaufen.
Oma schläft unter ihrem Federbett wie Rotkäppchens Großmutter.
Auf der Hügellandschaft ihrer Bettdecke lasse ich meine Mickymaus frei. Omas Augen öffnen sich rund vor Erstaunen, ihr gebißloser Babymund versucht etwas zu sagen, und plötzlich kräht sie wie ein heiserer Hahn, weicht zurück und schlägt wild nach meinem Spielzeugtier. Sie kreischt Mutters Namen, und in meiner Verwirrung, Angst und Bosheit packe ich das zappelnde Ding und setze es ihr auf den Kopf. Nach und nach verheddert es sich in den grauen Haarlocken, während ihr Geschrei unvermindert anhält.
Meine Welt stürzt zusammen als Mutter die zuckende Mickymaus mit einer Schere aus dem grauen Gewirr befreien muß. Atemlos zischt Großmutter, ich sei ein »Mamser«, ein Teufel, und schwört, ich werde meiner Strafe nicht entkommen. Mutter steht das Weinen näher als das Lachen. Sie versucht zu beschwichtigen, träufelt Baldrian in ein Glas Wasser und schickt mich aus dem Zimmer.
Verdrossen vor Kummer und Schmerz über die harte Strafe, die Vater mir verpaßt hat, hungrig und mit pochenden Schläfen liege ich abends in meinem Bett. Seine brüllende Stimme schallt aus dem Eßzimmer und Mutter weint und schreit, daß sie allein, ohne Maria, die Belastung nicht länger ertragen könne.
Ein paar Tage später eilen wir vom Einkaufen nach Hause. Lena, Mutters neue Hilfe, soll sich heute vorstellen. Ich brenne vor Ungeduld und Neugier, sie zu sehen. Die Haustür zum Treppenhaus steht einen Spalt offen. Schon von unten höre ich Senta aufgeregt bellen.
Über die glatten Steinstufen renne ich vor Mutter zu unserer Wohnung im ersten Stock, halte aber an, als ich durch die Lücken des Treppengeländers sehe, wie Lena mit großen schwarzen Schnürstiefeln auf den Boden stampft, um den Hund einzuschüchtern.
Sie bemerkt uns erst, als wir neben ihr stehen. Hinter der weißen Wohnungstür mit den kleinen Scheiben taucht jetzt leise winselnd die Hundeschnauze auf.
Noch bevor Lena uns begrüßt und sich vorstellt, zetert sie, daß wir den Hund festhalten müssen, wenn wir die Tür öffnen.
Nervös steckt Mutter den Schlüssel ins Schloß und schickt Senta mit strengen Worten zu ihrem Korb. Mißtrauisch und wachsam beobachtet sie von dort aus unsere neue Hilfskraft.
Als ich Lenas große lila Hand schütteln muß, fühle ich tiefe Verbundenheit mit meinem Hund. Die große, derbe Frau mit der spitzen Nase und den hellen Augen ist mir unheimlich. Das graubraune Haar ist mit Haarnadeln zu einem dicken Knoten im Nacken aufgesteckt, und ich kann die Augen von den Haaren auf ihrem Kinn kaum abwenden. Wie ich spüre, ist auch Mutter erschrocken und läßt zu, daß Lena sofort zu arbeiten beginnt. Sie holt eine große braune Schürze aus ihrem geflochtenen Koffer hervor und nach wenigen Worten wischt und bohnert sie, als sei es ihr Haus.
Mutter kocht, sie läßt sich nicht vom Herd verdrängen. Als wir um den Tisch sitzen, murmelt Vater leise, er sei froh, daß »das Mensch« lieber allein in der Küche ißt. Von nun an wird in unserem Haus viel geflüstert, denn Lena horcht an den Türen. Ich kann kaum glauben, daß Erwachsene so etwas tun, bis ich mit eigenen Augen sehe, wie sie im Flur davonrennt, als Vater mit einem Ruck die Tür öffnet.
In der Küche fallen harte Worte, das Geflüster hält an. Die Woche über verläßt Großmutter selten ihr Zimmer und drückt sich dann schweigend an Lena vorbei.
Allmählich wird Oma mir wieder gut. Auf den Stühlen an ihrem Bett oder neben der Nähmaschine, die sie zuweilen wieder schnurren läßt, schütten wir alle unser Herz bei ihr aus. Als spuke ein Drache im Haus, dem Vater als einziger Widerpart bieten kann.
Als auf dem Markt hinter der Stiftskirche dicke Bäuerinnen mit Körben voll länglicher, blauer Zwetschgen stehen, weiß ich, daß Mutter einen Kuchen backen wird. Auf rechteckigen Backblechen legt sie entsteinte und halbierte Zwetschgen wie Dachziegel in vielen Reihen nebeneinander auf den Teig, streut Zucker und Zimt darüber und gibt dünne Sahne dazu. Sie macht das geschickt und mit großem Vergnügen.
Der Kuchen ist noch warm und saftig, als wir die ersten Stücke kosten dürfen. Lena sieht beinahe freundlich aus, als sie sich eine doppelte Portion in den Mund stopft.
Mit Augen, die größer sind als der Magen, bitte ich um noch ein Stück und höre von Mutter, daß wir morgen, am Freitagabend, Gäste haben. Besonders schöne Stücke ohne Kruste legt sie auf eine große Platte und stellt sie in der Speisekammer neben der Küche sorgsam beiseite.
Schon im Gang verdüstert sich Onkel Jacobs Gesicht, als er hört, daß Mutters mollige Schwester und ihr Freund Harry, der Schauspieler mit dem Monokel, sowie Onkel Albert, ein entfernter Verwandter von Vater, heute abend zum Essen kommen. Er befürchtet und ich hoffe, daß Wagner diesmal nach dem Essen keine Chance hat.
Vater gibt sich andächtiger als sonst und singt die Gebete wie Arien. Still warte ich an dem festlich gedeckten Tisch auf den Zwetschgenkuchen. Den Karpfen im grünen Mantel rühre ich heute nicht an, denn auch Tante läßt ihr Stück stehen.
Mit überkippender Stimme ruft Mutter aus der Küche nach mir. Keiner Übeltat bewußt außer meinem Widerwillen gegen den Fisch, gehe ich zu ihr und sehe sie mit den Tränen kämpfend vor der Platte mit den Kuchenstücken stehen. Es ist kein Berg mehr, nur noch ein Hügel, und ich stehe da als Angeklagter. Erst nach einem heiligen Eid glaubt mir Mutter. Ihr Kreuzverhör erstreckt sich auch auf Vater. Er weiß von nichts und regt sich auf. Oma ist über jeden Verdacht erhaben. So bleibt nur Lena als Verdächtige übrig, aber sie kommt erst wieder am Montag morgen.