Kitabı oku: «Midrasch», sayfa 9
9. Verschiedene Schriftsinne
Begriffe wie Peschat und DeraschPeschat und Derasch werden in der rabbinischen Literatur verwendet, eine Reflexion über die so genannten Schriftsinne wird aber erst in mittelalterlicher Zeit laut, also nach der eigentlichen rabbinischen Ära (vgl. vor allem Stembergers Beitrag Hermeneutik; Japhet, Pendulum).
Unter Peschat versteht man in rabbinischer Zeit nicht einfach den „Wortsinn“, sondern das „allgemein verbreitete und angenommene Verständnis einer Stelle […], also den von der jüdischen Tradition getragenen Sinn“ (Stemberger, Hermeneutik, S. 82; vgl. zur Entwicklung von Peschat auch Weiss Halivni, Peshat, z.B. S. 25–35). Um die Unterschiede zwischen Peschat und Derasch zu erläutern, wurden gelegentlich Vergleiche mit den hellenistischen Schulen Alexandrias und Pergamons (vgl. Boyarin, Analogy) bzw. den christlich dominierten Schulen Antiochias und Alexandrias angestellt. Die „Analogisten“ Alexandrias glaubten an eine feststehende Bedeutung eines Textes, während die „Anomalisten“ der Schule Pergamons den literarischen Text als „Wechselspiel von Verschiedenheiten“ erst mit Bedeutungen zu füllen verlangten. Für die späteren christlichen Schulen gilt, dass die Alexandriner stark auf eine allegorische Auslegung setzten, während die Antiochener eine „Leidenschaft für den Literalsinn“ (Visotzky, Jots, S. 262) entwickelten. Die Schulen unterscheiden sich jedoch nicht gänzlich, sondern teilten ein Repertoire an Auslegungsmethoden, ähnlich den rabbinischen Schulen. Den Antiochenern war es wichtig, dass der einfache Sinn der Schrift erhalten blieb, auch wenn zu ihm eine „Theoria“ aufgebaut werden konnte. Der Unterschied zur Allegorie bestand eben darin, dass dort der Text gänzlich aus seinem ursprünglichen Kontext herausgerissen und auf etwas anderes bezogen wurde. Boyarin zeigt die Unterschiede am Beispiel der Traktate Wa-jassa und Amaleq in der MekhJ auf. Die Konkurrenten sind R. Jehoschua und R. Elazar aus Modiin bzw. Eliezer. Während ersterer auf die Wortbedeutung insistiert, haben letztere allegorische Bedeutungen in den Text hineingetragen bzw. den Text in einem Notarikon aufgespalten.
|82|Wa-jassa 1 „Drei Tage waren sie in der Wüste unterwegs (und fanden kein Wasser)“ (Ex 15,22). R. Jehoschua sagt: Wörtlich. | R. Eliezer sagt: War denn nicht Wasser unter den Füßen der Israeliten? Die Erde schwimmt doch nur auf Wasser, wie es heißt: „der die Erde über den Wassern gegründet hat“ (Ps 136,6). Was lehrt also die Schrift mit: „Sie fanden kein Wasser?“ (Das war nur,) um sie zu ermüden. |
Amaleq 3 „[Der eine hieß Gerschom, weil Moses gesagt hatte: Gast bin ich] in fremdem Land“ (Ex 18,3): R. Jehoschua sagt: Es war für ihn wirklich ein fremdes Land. | R. Elazar von Modiin sagt: „In fremdem Land“. Moses sagte: Da die ganze Welt Götzen dient, wem soll da ich dienen? Dem, der sprach, und die Welt war. Denn als Moses zu Jitro sagte: Gib mir deine Tochter Zippora zur Frau, sagte ihm dieser: Nimm eine Bedingung, die ich dir sage, an, und ich gebe sie dir zur Frau. Er fragte: Was denn? Er antwortete ihm: Der erste Sohn, den du bekommst, soll dem Götzen gehören, alle weiteren sind für Gott. Und (Moses) nahm es an. Er sagte zu ihm: Schwöre es mir. Und er schwor es ihm, wie es heißt: „und beschwor Moses“ (Ex 2,21). Ala bedeutet immer „schwören“, wie es heißt: „Und Saul beschwor das Volk“ (1 Sam 14,24), und ebenso: „Lass dich beschwören, nimm zwei Talente“ (2 Kön 5,23). Deshalb wollte der Engel zuerst Moses töten. Sofort „ergriff Zippora einen Feuerstein […], da ließ er von ihm ab“ (Ex 4,25–26). |
Gerschom, der Sohn des Moses, befindet sich nach Jehoschua in einem wirklich ihm fremden Land, was keiner weiteren Auslegung bedarf. Für Elazar steckt hinter dem „fremden“ ein Hinweis auf den Götzendienst, den „Fremdkult“. Und er erklärt gleich auch die überaus dunkle Stelle in Ex 4,25–26, in der Zippora Gerschom beschneidet, als Reaktion auf die drohende Strafe an Moses, der einem unheiligen Pakt zustimmte. Zippora rettet mit dem Abtrennen der Vorhaut Gerschoms die Haut des Moses.
Bei den Rabbinen finden sich Typologische und allegorische Deutungentypologische und allegorische Deutungen. Dies gilt nicht nur für das Hohelied, das regelmäßig auf die Geschichte Israels mit Gott während des Aufenthalts in Ägypten |83|und des Exodus gedeutet wird (vgl. Stemberger, Midraschim zum Hohelied). So werden etwa in TanB Schemot 25 (8ab) die abstrakten Begriffe Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede typologisch mit Personen – Moses und Aaron – identifiziert. Der Vers wird dabei in Teile zerlegt:
„Liebe (chessed) und Treue/Wahrheit (emet) begegnen einander, Gerechtigkeit (tzedeq) und Friede (schalom) küssen sich“ (Ps 85,11).
„Gerechtigkeit (tzedeq)“ – das ist Moses, wie es heißt: „Er vollstreckte die Gerechtigkeit JHWHs“ (Dtn 33,21).
„Friede (schalom)“ – das ist Aaron, wie es heißt: „(Die Tora der Wahrheit/Treue kam aus seinem Mund, nichts Verkehrtes fand sich auf seinen Lippen,) in Frieden und Aufrichtigkeit ging er mit mir seinen Weg, (und viele hielt er davon ab, schuldig zu werden)“ (Mal 2,6).
„Liebe (chessed)“ – das ist Aaron, wie es heißt: „Für Levi sagte er: Levi hat deine Tummim erhalten, deine Urim (dein chassid)“ (Dtn 33,8).
„Und Treue/Wahrheit (Emet)“ – das ist Moses, wie es heißt: „Anders bei meinem Knecht Moses. Mein ganzes Haus ist ihm anvertraut (neʾeman hu)“ (Num 12,7).
„Liebe und Wahrheit/Treue begegnen einander“ (Ps 85,11) – „und er ging und traf ihn“ etc. (Ex 4,27).
„Gerechtigkeit und Friede küssen sich“ (Ps 85,11) – „und er ging und traf ihn (am Gottesberg) und küsste ihn“ (Ex 4,27).
In ShirR 4.12 werden die beiden Brüste der Geliebten zu Moses und Aaron, und in MidMish 31 wird die sprichwörtliche starke Frau von Spr 31 kurzerhand auf die Tora bezogen:
„Eine starke Frau, wer findet sie? Sie übertrifft alle Perlen an Wert“ (Spr 31,10) – das bezieht sich auf die Tora.
In BemR 12.17 wird das Stichwort „sechs“ aus Num 7,3 („Sie brachten JHWH als ihre Gabe: sechs Planwagen und zwölf Rinder“) allegorisch auf die sechs Tage der Schöpfung, die sechs Ordnungen der Mischna, die Erzmütter Sara, Rebekka, Rachel und Lea, Bilha und Zilpa, die sechs täglichen Gebote an den König und die sechs Stufen des Thrones von Salomo gedeutet. Allegorische Auslegung wird auch mit den so genannten Dorsche Reschumot bzw. Dorsche Chamurot verbunden, Gruppen von in der rabbinischen Literatur (vgl. Lauterbach, Allegorists) erwähnten Lehrern, über die man leider zu wenig weiß. Auch die langen Namenslisten in den Chronikbüchern werden auf allegorische Weise ausgelegt und mit anderen bekannten Personen der Bibel in Verbindung gebracht. Aber die Rabbinen tragen weniger als die Allegorie eines Philo philosophische Gedanken ein, vielmehr sollen etwa die Namen entsprechend ihrer Wortbedeutung aus dem Fundus der Bibel erläutert werden. Die Allegorie verlässt also den biblischen Kontext nicht. Sie bleibt gültiger Bezugsrahmen der Auslegung. Oder wie es Boyarin treffend ausdrückt:
|84|Für die Rabbinen des Midrasch ist die höchste Realität, außer Gott selbst, natürlich die Tora; das ist ein Text, keine abstrakte Idee. Kein Wunder, dass dann Lesen auf höchstem Niveau im Midrasch intertextuelles Lesen ist, die Verbindung der Texte zu dem ultimativen Text, und nicht Allegorese, die Verbindung von Texten zu abstrakten Ideen. (Boyarin, Intertextuality, S. 115–116)
Dazu nur ein Beispiel: In ShirR 1.5.1ShirR I.5.1 wird Hld 1,5 auf Israels Verhalten ausgelegt. Schwarz und schön sind Gegensätze, die u.a. im Blick auf die Väter und die Auszugsgeneration aufgelöst werden. Hier nur ein AusschnittHld 1,5:
„Schwarz bin ich und schön“: „Schwarz bin ich“ – in meinem Handeln. „Und schön bin ich“ – durch das Handeln meiner Väter.
Eine andere Auslegung: „Schwarz bin ich und schön“: Es sprach die Gemeinde Israels: „Schwarz bin ich“ – in meiner eigenen Anschauung. „Und schön bin ich“ – im Angesicht meines Schöpfers, wie es heißt: „Seid ihr mir nicht gleich den Kindern der Kuschiten, Haus Israel?“ (Am 9,7). „Gleich den Kuschiten“ – in eurer Anschauung, aber „für mich (seid ihr) Haus Israel, Spruch des Herrn“ (ebd.).
„Schwarz bin ich“ – in Ägypten. „Und schön bin ich“ – in Ägypten. „Schwarz bin ich“ – in Ägypten – „Und sie lehnten sich gegen mich auf und wollten nicht auf mich hören“ (Ez 20,8Ez 20,8). „Und schön bin ich“ – in Ägypten – durch das Blut des Pesachlammes und durch das Blut der Beschneidung, wie es heißt: „Und ich ging an dir vorüber, und ich sah dich zappelnd in deinem Blut; und ich sagte dir: Durch dein Blut lebe!“ (Ez 16,6Ez 16,6) – das ist das Blut des Pesachlammes. „[Und ich sagte dir:] Durch dein Blut lebe!“ (ebd.) – das ist das Blut der Beschneidung.
Eine andere Auslegung: „Schwarz bin ich und schön“: „Schwarz bin ich“ – am Meer. „Und schön bin ich“ – am Meer. „Schwarz bin ich“ am Meer, wie es heißt: „[Unsere Väter in Ägypten begriffen deine Wunder nicht, / dachten nicht an deine reiche Huld] und trotzten dem Höchsten am Schilfmeer“ (Ps 106,7). „Und schön bin ich“ am Meer, wie es heißt: „Das ist mein Gott, ihn will ich preisen“ (Ex 15,2).
An mehreren Stellen wird der Begriff „Kuschit“ auf das Handeln einer oder mehrerer Personen bezogen (vgl. SifBem § 99; SifZ 12; bMoʿed Qatan 16b; PesR 26; MidTeh 7.18). So heißt es in PRE 53:
„Und Mirjam und Aaron sprachen über Moses wegen der kuschitischen Frau, die er genommen hatte“ (Num 12,2): War sie denn kuschitisch? Vielmehr: Wie so ein Kuschite sich durch seine Haut unterscheidet, so unterschied sich Zippora durch ihre guten Werke.
Rabbi Tanchum sagt: Auch Israel wird kuschitisch genannt, denn es heißt: „Seid ihr mir nicht gleich den Kindern der Kuschiten?“ (Amos 9,7).
Wie so ein Kuschite sich von allen Geschöpfen unterscheidet, so unterscheiden sich die Israeliten in ihren guten Werken von allen anderen Völkern der Welt. Daher werden sie Kuschiten genannt.
Eine Schriftstelle sagt: „Da hörte Eved Melech, der Kuschite“ (Jer 38,7). War es denn Eved, der Kuschite? War es nicht Baruch Sohn des Neria? Vielmehr: Wie so ein Kuschite sich durch seine Haut unterscheidet, so |85|Baruch Sohn des Neria. Er unterschied sich durch seine guten Werke von den übrigen Menschenkindern.
(Und ein anderer Schriftvers sagt:) „Und Joab sprach zu dem Kuschiten: Geh und berichte dem König“ (2 Sam 18,21). War er denn ein Kuschite? Er war doch ein Benjaminit? Vielmehr: Wie so ein Kuschite sich von allen Geschöpfen unterscheidet, so unterscheidet sich ein Benjaminit durch seine guten Werke und in seinen Wegen von allen Israeliten. (Übersetzung Börner-Klein, Pirqe de- Rabbi Elieser, S. [369–370])
An dieser Stelle ist im Übrigen auch zu vermerken, dass eine grobe und einseitige Definition von Allegorie in der Kirchenväterexegese in Unterscheidung zum textimmanenten Zugang der Rabbinen mit Vorsicht betrachtet werden muss. Diesbezüglich sind die einzelnen Quellen genauer auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu untersuchen.
Die weitere Entwicklung der Hermeneutik der Schriftsinne sei hier kurz skizziert (vgl. Stemberger, Hermeneutik, S. 110–134; Van Bekkum, Semantics, Part I): Im Mittelalter entwickelt sich eine Schärfung des Verständnisses von den Schriftsinnen, die in Auseinandersetzung mit den Karäern, im Aufkommen der Philologie oder im Zusammenhang mit der allgemein laut werdenden Berufung auf die „Vernunft“ (ratio) notwendig wird. Aber auch hier hat Peschat mehr Bedeutung als nur „Literalsinn“. Er kann etwa den historischen Sinn eines Textes erläutern oder „den Sinn eines Textes gemäß seinem literarischen Kontext oder gar in einer literaturtheoretischen Betrachtung umfassen“ (Liss, Peshat-Auslegung, S. 101). Jedenfalls wird er dem Derasch – als Ausdruck von übertragener und allegorischer Bedeutung – gegenübergestellt. Wegbereiter dafür sind Gelehrte wie Saadja Gaon (882–942) oder natürlich RaschiRaschi (Rabbi Schlomo Jitzchaqi aus Troyes, 1040–1105). Selbst bei Raschi bleiben die Unterscheidungen aber noch diffus (vgl. Grossman, Rashi). Er bemüht sich um Harmonie und Kompromiss, lässt die verschiedenen Deutungen nebeneinander stehen. Der Literalsinn wird jedenfalls nicht schlechter gestellt als der Derasch, manchmal sogar aufgewertet. Das bereits erwähnte biblische Bild vom zerschlagenen Felsen zeigt in der Tradition an, dass die Schriftauslegungen in gleicher Wertigkeit nebeneinander existieren. Bei Abraham Ibn EzraAbraham Ibn Ezra (1089–1164) ist von einem fünffachen Schriftsinn die Rede (in Kritik sowohl der gaonäisch kompakten Wissensschau als auch karäischer und christlicher – auf Allegorien aufbauender – Auslegung). Sein „fünfter Weg“ bemüht sich um Klärung grammatischer Fragen und um den Wortsinn, während ihm der „vierte“, der wesentlich jüdische Weg mit einer Betonung des Derasch, mangelhaft erscheint. Dabei betont auch Ibn Ezra die rabbinische Autorität in halachischen Fragen, da die mündliche Tora zum Bestandteil |86|jüdischer Überlieferung gehört. MaimonidesMaimonides (1138–1204) hebt Midrasch, Allegorie und Gleichnis hervor. Vergleiche wie die von der Perle, die unter der Schale den eigentlichen Wert darstellt, oder vom Silbernetz über den goldenen Äpfeln betonen die Allegorie. Doch finden sich bei ihm auch systematische Darlegungen der Halacha, religionsgeschichtliche Zugänge zur Bibel oder Gedanken zum Opferkult als einer bloß zeitbedingten göttlichen Konzession. Die von ihm ausgelöste Debatte über die allegorische Auslegung und viele Fragen, die später mit der Aufklärung gestellt werden, findet man somit zumindest im Ansatz bereits im Mittelalter. Noch Nachmanides (1194–1270) betont die gleiche Wichtigkeit von wörtlicher und allegorischer Auslegung. Er arbeitet auch mit Typologien. Wirkliche esoterische Deutung der Bibel auf die himmlischen Vorgänge findet man in der KabbalaKabbala, die bei Nachmanides ansetzt. Der Zohar, das auf Mosche de Leon zurückgehende zentrale Werk der Kabbala, kennt vier Schriftsinne als „Pardes“ (= Paradies), das als Akronym für Peschat, Remez (Allegorie), Derasch und Sod (mystische Deutung) gedeutet wird. Der Zohar propagiert den Aufstieg von der einfachen zur mystischen Interpretation, dargelegt im Bild der sich langsam entschleiernden Frau. Abulafia (1240-ca.1291) erörtert sieben Schriftsinne: Die ersten vier verwenden alle Völker: Das sind Wortsinn (Peschat) – für Frauen und Kinder –, Perusch (Gesetzeserklärungen in Talmud und Targum), Derusch (haggadische Auslegung), über diesen steht die Allegorie. Nur den Kabbalisten sind die drei letzten Auslegungsarten zugänglich: die Auswertung der Schreibarten, die Auslegung der Kombination der 22 Grundbuchstaben und der Weg der Prophetie, die in den Aussagen der Bibel die Namen Gottes erkennt. Darum behaupten die jüdischen Mystiker von sich, den eigentlichen Zugang zum Text zu besitzen, der ihnen eine geheime und machtvolle Botschaft eröffnet.
10. Der Mensch vor Gott
Im Rahmen rabbinischer Hermeneutik ist zumindest ansatzweise auch auf den wichtigen Zusammenhang von Menschenbild und GottesbeziehungMenschenbild und Gottesbeziehung hinzuweisen. Die rabbinische Kultur versteht sich als eine Lern- und Lehrgemeinschaft, deren zentrale Beschäftigung um die Tora (im umfassenden Sinn) kreist. Studium und Lehre eröffnen den Weg zu GottStudium und Lehre eröffnen den Weg zu Gott über dessen Kundgabe der Tora. Sie ist auf vielfache und schillernde Weise Bindeglied zum Transzendenten. Zum einen ist sie – als Werk des Himmels (bEruvin 13a) – eine Buchstaben- und Zeichenfolge, die nicht verändert oder ergänzt werden darf, ohne Schaden zuzufügen, zum anderen aber ist sie in |87|ihrer Bedeutungsfülle durch Auslegung auszuschöpfen. Während den Völkern nur die „äußere Hülle“ des Textes verfügbar ist, wurde Israel am Sinai auch die Tiefendimension der Bedeutung(en) sozusagen mitgeliefert. Diese Sonderbeziehung zwischen Israel und Gott verlangt auch ihren Preis. Für die Gabe der Tora, so heißt es an verschiedenen Stellen, habe Gott Bürgen gefordert. In ShirR 1.4.1 wird über die Bürgschaft der KinderBürgschaft der Kinder folgende Variante geboten:
R. Meir sagte: In der Stunde, als die Israeliten vor dem Berg Sinai standen, um die Tora zu empfangen, sagte der Heilige, gepriesen sei er, zu ihnen: Ich gebe euch die Tora nur unter der Bedingung, dass ihr mir gute Bürgen bringt, damit ihr sie bewahrt, dann gebe ich sie euch.
Hieran schließt sich eine längere Passage über die Väter (mit Gleichnis) und über die Propheten, die jeweils als ungeeignet für die Bürgschaft angesehen werden. Danach heißt es:
Sie sagten: Hier, unsere Kinder sind unsere Bürgen! Der Heilige, gepriesen sei er, sagte: Das sind wirklich gute Bürgen. Um ihretwillen werde ich sie euch geben, wie es heißt: „Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge begründest du Stärke“ (Ps 8,3). Und es gibt keine Stärke außer der Tora, wie es heißt: „Der Herr gebe Stärke seinem Volk“ (Ps 29,11). In der Stunde, wo das Geliehene fällig wird und es nicht bezahlt wird, von wem wird es eingefordert, wenn nicht vom Bürgen. Das meint, was geschrieben steht: „Du hast die Tora deines Gottes vergessen; deshalb vergesse auch ich deine Kinder“ (Hos 4,6).
Es sagte R. Acha: „Auch ich“, wenn man so sagen darf, selbst ich werde unter das Vergessen gezählt. Wer wird in der Tora sagen: Preist JHWH, der gepriesen wird? Nicht die Säuglinge? Wegen eurer Schwächlichkeit in Bezug auf die Tora habe ich von euren Kindern eingefordert, wie es heißt: „Wegen nichts (verstanden als: Nichtbeachtung der Tora) habe ich eure Kinder geschlagen [Erziehung haben sie nicht angenommen]“ (Jer 2,30).
Wenn man so sagen darf, „auch ich“ werde unter das Vergessen gezählt. Wer wird sagen: Preist JHWH, der gepriesen wird?
Deshalb muss ein Mensch seinen Sohn in die Tora einführen und ihn erziehen in der Lehre, damit du lange lebst in der Welt, wie es heißt: „Denn durch mich werden die Tage deines Lebens zunehmen“ (Spr 9,11).
Der Midrasch verknüpft verschiedene Motive und Überlieferungen. Ps 8 wird an verschiedenen rabbinischen Stellen (tSota 6,4–5; MekhJ Schira 1//MekhSh 15.1; Tan Beschallach 11) auf eine wundersame Gottesschau der Säuglinge und KinderGottesschau der Säuglinge und Kinder am Schilfmeer gedeutet und hier an den Sinai „projiziert“. Das Stichwort Vergessen bezieht sich auf die Kinder (Hos 4,6) ebenso wie letztlich auf Gott selbst. Gottes „Selbsterkenntnis“, die R. Acha schildert, zeigt seine Abhängigkeit von Israel. Wenn Israel die Tora vergisst oder vergessen macht, wird auch Gott mit ihr vergessen. Daher wird eindringlich die Verpflichtung zur Weitergabe der Lehre und damit auch der Erinnerung an Gott betont.
|88|In der Variante in MidTeh 8.4 wird die Aufgabe der Kinder noch eindringlicher geschildert. Ihre Zustimmung zu jedem einzelnen Gebot des Dekalogs ist bedeutsam. Hier nur ein Ausschnitt:
Sofort brachten sie ihre Babies, die noch im Mutterleib waren, und die an den Brüsten ihrer Mütter hingen. Der Mutterleib stand wie ein [durchsichtiger] Kristall, und sie blickten auf den Heiligen, gepriesen sei er, aus ihrem Mutterleib und redeten mit ihm. Es sprach der Heilige, gepriesen sei er, zu ihnen: Ihr seid die Bürgen für eure Väter, denn wenn ich euch die Tora gebe, sollt ihr sie aufrechterhalten. Und wenn nicht, werdet ihr für sie in Haftung genommen? Sie antworteten ihm: Ja! Er sagte zu ihnen: „Ich bin JHWH, dein Gott“ (Ex 3,2). Sie antworteten ihm: Ja! Er sagte zu ihnen: „Du sollst keine anderen Götter haben“ (Ex 20,3). Sie sagten zu ihm: Ja! Auf jedes einzelne Dekaloggebot antworteten sie auf Ja Ja! Und auf Nein Nein! Er antwortete ihnen: Aus eurem Mund gebe ich die Tora, wie es heißt: „Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge begründest du Stärke“ (Ps 8,3). Und es gibt keine Stärke außer der Tora, wie es heißt: „Der Herr gebe Stärke seinem Volk“ (Ps 29,11).
Die Rabbinen sehen Gott und Tora in einer engen Verbindung, in einem dialektischen Verhältnis von Identität und gleichzeitiger Differenz. Die Tora ermöglicht es, sich Gott zu nähernDie Tora ermöglicht es, sich Gott zu nähern. Die Fremdheit, deutlich empfunden nach der Erfahrung von Tempelzerstörung und den folgenden verheerenden politischen Ereignissen, wird nun mithilfe des Midrasch intellektuell überwunden.
Nach der Tempelzerstörung wurde der Text der Tora für die Rabbinen das primäre Zeichen einer fortdauernden Existenz der Bundesbeziehung zwischen Gott und Israel, und die Aktivität des Torastudiums – Midrasch – wurde so zum bedeutendsten Mittel, um diese Beziehung zu erhalten und weiterzuführen. Auf diese Weise verstanden war das Ziel des Midrasch nicht so sehr, die Bedeutung der Schrift zu ergründen, als ihren Text im wörtlichen Sinn zu gebrauchen. Midrasch wurde eine Art Konversation, die die Rabbinen erfanden, um Gott zu ermöglichen, zwischen den Zeilen der Schrift heraus zu ihnen zu sprechen, in den textlichen Spalten und Brüchen, welche die Exegese entdeckt. Die Vermehrung der Auslegungen im Midrasch war gewissermaßen ein Weg, diese Konversation weiterzuführen. (Stern, Midrash and Theory, S. 31)
Die Beschäftigung mit der Schrift ist jedoch keine reine Kopfsache. Das Verhalten der Menschen im Allgemeinen, und das der Lehrer und Gelehrten im Besonderen, ist häufiger Bestandteil rabbinischer Auslegung. Die Tora ist auch Mittel, um die gefährlichen Bedrohungen des Lebens zu meistern, auch die mit dem Stichwort „böser Trieb“„böser Trieb“ (jetzer ha-ra) gekennzeichnete Disposition des Menschen zu beherrschen (vgl. Rosen-Zvi, Demonic Desires). In einigen Texten tritt der böse Trieb als ein gegen die Tora und das Leben nach der Tora gerichteter innerer Widersacher auf. So will er etwa den aus dem Buch Rut bekannten Boaz dazu verleiten, in der Nacht auf der |89|Tenne mit Rut zu schlafen. Er aber kämpft erfolgreich dagegen an (SifBem § 88 zu Num 11,6–7). Das entscheidende Mittel gegen den bösen Trieb ist das Studium. In SifDev § 45 illustriert man dies mit einem drastischen Gleichnis:
„Diese meine Worte [sollt ihr auf euer Herz legen]“ (Dtn 11,18) – dies belehrt uns, dass die Worte der Tora ein Lebenselixier sind. Maschal von einem König, der auf seinen Sohn zornig war, ihn mit einem gewaltigen Schlag traf und seine Wunde dann verband. Er sagte zu ihm: Mein Sohn, solange dieser Verband auf deiner Wunde bleibt, kannst du essen, was du möchtest, und trinken, was du möchtest, in heißem oder kaltem Wasser baden, und es wird dir nicht schaden. Aber wenn du ihn abnimmst, wird sie sofort eitern. So sagte der Heilige, gepriesen sei er, zu Israel: Ich habe den bösen Trieb erschaffen, und es gibt nichts Schlimmeres als ihn, doch: „Wenn du recht tust, darfst du aufblicken“ (Gen 4,7). Beschäftigt euch mit den Worten der Tora und er wird nicht über euch herrschen. Aber wenn ihr euch von den Worten der Tora fernhaltet, wird er Herrschaft über euch erlangen, wie es heißt: „Die Sünde lauert (als Dämon) an der Tür, auf dich hat er es abgesehen“ (Gen 4,7) – sein Geben und Nehmen bezieht sich nur auf dich. Aber wenn du willst, kannst du über ihn herrschen, wie es heißt: „Doch du werde Herr über ihn“ (ebd.). „Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen, [hat er Durst, gib ihm zu trinken. So sammelst du] glühende Kohlen [auf sein Haupt, und JHWH wird es dir vergelten]“ (Spr 25,21–22).
Gelehrsamkeit soll in der PraxisPraxis wirksam sein.
„[Wenn ihr genau achtet auf dieses ganze Gebot,] auf das ich euch [heute] verpflichte,] und es tut, [wenn ihr den Herrn, euren Gott, liebt, auf allen seinen Wegen geht und euch an ihm festhaltet]“ (Dtn 11,22). Warum sagt die Schrift das, wo es doch schon heißt: „Wenn ihr genau achtet“? Ich könnte meinen, dass, wenn jemand die Worte der Tora bewahrt hat, er es dabei belassen kann und sie nicht tun muss. Dagegen sagt die Schrift: „und es tut/um es zu tun“ – die Entsprechung/Antwort ist, es zu tun. Wenn jemand nur Tora lernt, hat er ein Gebot erfüllt; wenn er lernt und bewahrt, was er gelernt hat, hat er zwei Gebote erfüllt; wenn er lernt, bewahrt und befolgt, keiner könnte höheren Rang erwerben. (SifDev § 48)
Dem Bewahren der Worte soll das Tun als entsprechende „Antwort“ folgen. Die Bedeutung des Tuns darf jedoch nicht in einem exklusiven Sinne verstanden werden, so als wäre das Ziel der Lehre ausschließlich das richtige Verhalten. So diskutiert man durchaus des Öfteren über den Vorrang des Studiums vor dem Tun.
Was ist größer, Studium oder Tun (talmud oder maʿase)?
R. Tarfon sagte: Groß ist das Tun.
R. Aqiva sagte: Groß ist das Studium.
Sie alle antworteten und sagten: Groß ist das Studium, denn das Studium führt zum Tun. (SifDev § 41)
Das Studium soll zur Praxis führen, aber nicht als Mittel zum Zweck dienen:
|90|Du könntest sagen: Ich will Tora lernen, um ein Gelehrter genannt zu werden, um im Lehrhaus zu sitzen, um die Tage des ewigen Lebens zu verlängern. Dagegen lehrt die Schrift: „um der Liebe (zu Gott) willen“! – Lerne auf jeden Fall und schlussendlich mag die Ehre kommen.
Die Bedeutung des Studiums und damit auch der Auslegung von Schrift, also des Midrasch, ist hinlänglich deutlich geworden. Ein anderes Element, das in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, ist die zunehmende Wichtigkeit des GlaubenGlaubens im Rahmen rabbinischen Denkens. Hier wieder nur ein Beispiel, aus MekhJ Beschallach 4 zu Ex 14,15. Neben anderen Beweggründen für die Befreiung des Volkes aus Ägypten wird immer wieder auf den Glauben rekurriert.
Die Weisen sagen: Um seines Namens willen handelte er an ihnen. Es heißt ja: „Nur um meinetwillen handle ich jetzt, [denn sonst würde mein Name entweiht]“ (Jes 48,11). Was lehrt die Schrift mit: „der das Wasser vor ihnen zerteilte“? Warum? „Um sich einen ewigen Namen zu verschaffen“ (Jes 63,12).
Rabbi sagt: Der Glaube, mit dem sie an mich glaubten, verdient es, dass ich ihnen das Meer spalte. Es heißt ja: „Sie sollen umkehren und vor Pi-Hahirot […] ihr Lager aufschlagen“ (Ex 14,2).
Rabbi Elazar ben Azarja sagt: Wegen des Verdienstes ihres Vaters Abraham spalte ich ihnen das Meer. Es heißt ja: „Denn er dachte an sein heiliges Wort und an Abraham, seinen Knecht. Er führte sein Volk heraus in Freude“ (Ps 145,42–43).
Rabbi Elazar, der Mann aus Kefar Tota, sagt: Wegen des Verdienstes der Stämme spalte ich ihnen das Meer. Es heißt ja: „Wegen seiner Stämme durchbohrst du (den Kopf seiner Krieger […]. Du bahnst mit deinen Rossen den Weg durch das Meer)“ usw. (Hab 3,14–15). Und wie heißt es? „Der das Schilfmeer zerschnitt in zwei Teile“ (Ps 136,13).
Rabbi Schemaja sagt: Der Glaube, mit dem ihr Vater Abraham glaubte, verdient es, dass ich ihnen das Meer spalte. Es heißt ja: „Er glaubte dem Herrn, und der Herr rechnete es ihm als Gerechtigkeit an“ (Gen 15,6).
Avtaljon sagt: Der Glaube, mit dem sie an mich glaubten, verdient es, dass ich ihnen das Meer spalte. Es heißt ja: „Da glaubte das Volk“ (Ex 4,31).
Schimon, der Mann aus Qitron, sagt: Durch das Verdienst der Gebeine Josefs spalte ich ihnen das Meer. Es heißt ja: „Er ließ sein Gewand in ihrer Hand und floh“ (Gen 39,12). Und es heißt: „Das Meer sah es und floh“ (Ps 114,3). (Übersetzung nach Stemberger, Mekhilta, S. 125)
Neben dem Glauben wird auch die IntentionIntention als wichtige Komponente des Handelns zusehends wichtiger, wie vor allem Joshua Levinson (Post-Classical Narratology) herausgestrichen hat. Der Handelnde tritt als selbstreflexive und selbst-bewusste Person in den Blick.
Ein entscheidendes Element der rabbinischen Theologie ist das GebetGebet, das (neben Lehre und Liebeswerken) zu den Elementen |91|zählt, die nach der Tempelzerstörung die Verbindung zu Gott aufrecht halten. Wie bereits festgehalten wurde, reflektieren rabbinische Quellen mehrfach über die Funktion und Bedeutung einer besonderen und direkten Gottesbeziehung, über die Prophetie, über die Möglichkeit der Gottesbegegnung durch mystische „Himmelsreisen“, über magische Riten, Astrologie, Träume, die Bedeutung der einzelnen Buchstaben als wirkmächtig etc. Auch wenn die rationale Schrifthermeneutik besondere Bedeutung erlangt, so lässt sich rabbinisches Denken nicht darauf reduzieren.
Rabbinische Gruppierungen dürfen nicht als exklusive Klasse missverstanden werden und sind auch keine gesellschaftliche Elite. Aber es besteht natürlich ein Machtdiskurs in der Frage, wer Gottes Botschaft und Wirken von der Schöpfung (bzw. sogar durch die präexistente Tora noch früher) bis zu der erwarteten kommenden Welt besser und richtiger zu deuten und danach zu handeln versteht, nicht zuletzt deshalb, weil himmlische und irdische Welt in enger Verbindung stehen. In MidTeh 12.4 wird kurz und bündig die Rolle der rabbinischen Exegeten und ihre Entscheidungsfindung auf den Punkt gebrachtMTeh 12.4:
Mit jedem Wort, das der Heilige, gepriesen sei er, zu Moses sprach, gab er ihm 49 Argumente, eine Sache für rein zu erklären und 49 für unrein. Als Moses fragte: Herr der Welt! Wie können wir die wahre Bedeutung des Wortes erkennen?, antwortete Gott: „Der Mehrheit beugen“ (Ex 23,2). Die Mehrheit erklärt sie für unrein; die Mehrheit erklärt sie für rein.
Diese Haltung ist Ergebnis längerer Debatte und spiegelt die radikale Haltung eines – von Gott sanktionierten – Verständnisses einer Tora wider, die Gottes direkter Kontrolle und damit auch der (prophetischen oder mystischen) Privatoffenbarung entzogen ist. So bekommt auch das GottesbildGottesbild ein rabbinisches Gepräge. Dazu gehören nicht nur die vielen Beschreibungen von Gott und seinem Handeln, sondern auch die zahlreichen in der rabbinischen Literatur präsenten Gottesreden.
Wenngleich Lernen und Lehren sich in der Gruppe der Rabbinen abspielt, die jedoch prinzipiell allen Knaben ohne soziale Unterschiede offenstehen soll – das Lernen von Mädchen wird diskutiert, im Prinzip aber nicht gefördert –, so soll diese Lehre aber auch durch öffentliche Vorträge und Auslegungen im Bereich etwa der Synagoge ein breiteres – auch weibliches Publikum – finden. Der Lernende ist als Lehrender damit auch Bindeglied zum VolkBindeglied zum Volk. In ShirR 4.11.1 wird ein Vergleich zwischen einer Braut und einem Gelehrten hergestellt. So soll ein rabbinischer Gelehrter wie die Braut, die 24 Schmuckstücke trägt, natürlich mit den 24 Büchern der Schrift vertraut sein, wie die Braut bescheiden und ohne Makel |92|sein. R. Elazar oder R. Jose hätten gefordert, dass die Auslegung der Tora geschmackvoll wie Honig sein soll und gut anzuhören, qualitativ so hochwertig wie Feinmehl.
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