Kitabı oku: «Meine Jugend in Erfurt unter Hitler 1933–1945», sayfa 4
Der 9. November 1938
Am 8. November 1938 wurde der Diplomat vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris erschossen. Der Mörder hieß Grynspan und war ein polnischer Jude. In Deutschland hat diese Tat Empörung und Trauer ausgelöst.
Für die Machthaber war das ein Grund, ihre antijüdische Propaganda zu rechtfertigen. Offensichtlich hatte ihnen diese Tat genau in die Karten gespielt.
Jetzt konnten sie entsprechend auftreten und sagen: „Seht her! Das ist der Beweis dessen, was wir immer gesagt haben. Die Juden sind die Feinde Deutschlands!“, oder, „Die Juden sind unser Unglück.“
Die Goebbels-Propaganda lief sofort auf Hochtouren. In allen Radiosendungen und in der gleichgeschalteten Presse war zu vernehmen: „Das war nicht die Tat eines Einzelnen. Das war ein gemeinsames Komplott des internationalen Judentums gegen das deutsche Volk!“
Auf diese Weise wurde die antijüdische Stimmung angeheizt. Die Hasstiraden steigerten sich zum Aufruf: „Schlagt sie, wo Ihr sie trefft.“
Und nun begann das, was die Machthaber intern vorgegeben haben. Die Schlägertruppe der SA trat auf den Plan. Sie hat die Parole beim Wort genommen und direkt brutal zugeschlagen. Und so wurden die Ereignisse vom 8. November 1938 zum Fanal für eine noch rücksichtslosere Verfolgung aller in Deutschland lebenden Juden.
Einen Tag später brannten überall die Synagogen. Zur gleichen Zeit stürmte der Mob, voran die SA, die jüdischen Geschäfte. Im ganzen Land wurden sie heimgesucht – geplündert, zerstört. Nicht selten kam es zu Tätlichkeiten. Jüdische Ladeninhaber wurden verprügelt und in nicht wenigen Fällen zu Tode gelyncht.
Sehr gut kann ich mich an diesen Abend – als Zehnjähriger – zurückerinnern. Mein Vater kam am Abend von der Arbeit nach Hause. Er wirkte sehr bedrückt, als er sehr nachdenklich und mit leiser Stimme sagte: „Die Synagoge am Ring steht in Flammen! Und beim Juden Mayer haben sie die Schaufenster eingeschlagen.“ In seinen Worten spürte man die hilflose Verzweiflung.
Es war still an diesem Abend.
Was eine Synagoge war, das habe ich damals noch nicht gewusst. Aber den Juden Mayer, den habe ich gekannt. Dass man bei ihm die Schaufensterscheiben eingeschlagen hatte, das konnte ich nicht verstehen. Ich war empört. Wie konnte man das dem immer freundlichen Herrn Mayer antun? Ich habe mit ihm gefühlt und mir Gedanken darüber gemacht, wie es ihm jetzt gerade gehen möge.
Auch wir Pimpfe mussten uns an der Hetze gegen die Juden beteiligen. Und das in der übelsten Art.
Ich erinnere mich an den üblichen Mittwochdienst. Wie immer, waren wir um 15 Uhr angetreten. Keiner von uns hat gewusst, was uns heute bevorstand. Keiner hat geahnt, was sich unser Jungzugführer heute für uns 30 Pimpfe ausgedacht hat. Er war 4 Jahre älter als wir, also gerade mal 14! Für uns war der Jungzugführer eine absolute Respektsperson. Wir mussten vor ihm stramm stehen, wenn er mit uns gesprochen hat und alle seine Befehle ausführen. Andernfalls verordnete er Strafexerzieren mit Liegestützen und Kniebeugen ohne Ende.
Für diesen Tag hatte sich unser Jungzugführer etwas ganz Besonderes ausgedacht. Wir sollten es diesen Juden mal richtig zeigen! Wir mussten durch die Straßen unseres Viertels marschieren. Hauptsächlich judenfeindliche Lieder wurden gesungen. An belebten Straßenkreuzungen und vor jüdischen Geschäften mussten wir im Chor brüllen: „Kauf nicht ein beim Judenschwein!“, oder noch kürzer, „Juda verrecke!“ Mir schauderts noch heute, wenn ich dies schreibe. So manchen ehrbaren Bürgern muss da ein Schauer des Entsetzens über den Rücken gelaufen sein. Aber unser Jungzugführer und die Allermeisten von uns haben so getan, als ob sie eine große Heldentat begangen hätten.
Mir war nicht wohl in meiner Haut. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Aber ich musste mitmarschieren, ob ich wollte oder nicht. Dass ich nicht mit geschrien habe, das hat niemand gemerkt. Solche schrecklichen Rüpeleien waren gegen die Erziehung im Elternhaus. Auch im Alter von 10 Jahren habe ich gewusst, dass das unanständig ist und dass sich das nicht gehört.
Ganz schlimm war mir zumute, als wir vor dem Laden des Juden Mayer gestanden haben. Ich habe mich in der hintersten Reihe versteckt und versucht, mich ganz klein zu machen. Ich habe gehofft, dass mich der Herr Mayer nicht gesehen hat.
Mit ihm fühlte ich mich besonders verbunden, weil ich, wegen meines großen Verschleißes an billigen Turntäppchen, Stammkunde gewesen bin.
Doch darüber werde ich noch an anderer Stelle ausführlich berichten.
Die Bücherverbrennung
Nicht nur die jüdischen Menschen wurden verfolgt. Der allgemeine Hass und die Wut werden nun auch an Büchern und Bildern ausgelassen, soweit sie jüdischen Ursprungs gewesen sind.
Bücher jüdischer Schriftsteller wurden zur „Schundliteratur“ erklärt, Bilder und Gemälde wurden zu „entarteter Kunst“.
Vor allem an den Büchern konnte man dem Hass freien Lauf lassen. So makaber es jetzt klingt – aber es war wirklich so: Was mit den Büchern begann, geschah einige Jahre später mit den Menschen. Sie wurden verbrannt. Das ist die traurige, beschämende Wahrheit!
Es wurden Sammelstellen eingerichtet, an denen jeder die in seinem Besitz befindlichen Bücher jüdischer Schriftsteller abgeben musste. Das war Pflicht. Und aus Angst vor Strafen wurde die Anweisung auch weitgehend befolgt. Wer es nicht tat, der hat die Bücher klugerweise aus seinem Bücherschrank genommen und sie versteckt. Mein Onkel Fritz Laue gehörte dazu. Als Textilvertreter hatte er fast ausschließlich jüdische Freunde. Einige von ihnen kannte ich von Autotouren, zu denen mein Patenonkel mich mitgenommen hat.
Auch ich musste mit meiner Jungvolk-Einheit bei solch einer Bücherverbrennung mitmachen. Das war in der Schillerstraße auf dem Grundstück der „Deutschen Arbeitsfront“. Heute gehört dieses Haus wieder den Gewerkschaften – wie bereits vor 1933. Vorher waren große Mengen von Büchern herangefahren worden, die wir abladen mussten, um dann einen Scheiterhaufen zu errichten. Angetreten war auch unser Spielmannszug. Denn es sollte eine feierliche Zeremonie werden.
Des besseren Effektes wegen und um möglichst viele Schaulustige anzulocken, begannen wir erst in der Abenddämmerung. Ein hoher Parteifunktionär leitete das Ganze. Er hielt erst eine Rede, gespickt mit Phrasen, die wir auch als Zehnjährige zur Genüge kannten. Alsdann nahm er mit feierlicher Pose Buch für Buch in die Hände. Er nannte Buchtitel und Autor. Und mit einigen begleitenden Worten, warf er ein Buch nach dem Anderen in die Flammen. Dazu ertönten die Trommelwirbel unseres Spielmannszuges.
Und während dieser Zeremonie warfen wir Kinder, wie flinke Ameisen, alle noch lagernden Bücher in die Flammen. Den Sinn des Ganzen haben wir nicht so richtig verstanden. Für manches Buch hat es mir Leid getan. Das waren die, die mit ihren Einbänden so richtig wertvoll aussahen! Aber der Tragweite dessen, was wir taten, waren wir uns nicht bewusst.
Ort der Buchverbrennung
Dezember 1938 – Das Gewerkschaftshaus in der Schillerstraße ist während der Nazizeit der Sitz der „Deutschen Arbeitsfront“ gewesen. Die „DAF“, wie sie kurz genannt wurde, vertrat die Arbeiter der „Stirn und der Faust“
Auf der Grünfläche vor dem Gebäude fand auch die Buchverbrennung statt, an der ich als 10-jähriger teilnehmen musste.
Die Fehde
Kurz nach der Pimpfenprobe hat unser Fähnleinführer für alle seine 150 Untergebenen die Fehde ausgerufen.
Wir kleinen Pimpfe wussten nicht was das ist. Das Wort Fehde hatten wir noch nie gehört.
Fehden, so wurde uns erklärt, haben die Germanen geführt, wenn es innerhalb der Stämme oder der Sippenverbände zu Streitigkeiten gekommen war. Man schlug sich da gegenseitig die Köpfe ein, bis es irgendwann wieder zur feierlichen Versöhnung kam. Begriffen haben wir den Sinn nicht. Aber wenn es von den alten Germanen kam, dann musste das schon seine Richtigkeit haben.
Sie waren ja unsere großen Vorbilder – edel, stark, treu – und immer bereit, im Kampf für den Stammesführer sein Leben einzusetzen.
Natürlich wollten wir wissen, wie es zu dieser Fehde gekommen war. Wir erfuhren, dass sich die beiden Fähnleinführer – beide waren sie Klassenkameraden auf dem Gymnasium – gestritten hatten. Der Eine fühlte sich beleidigt und in seiner Ehre gekränkt. Darauf fiel ihm nichts Besseres ein, als die Fehde auszurufen. Von nun an waren die vom Nachbarfähnlein 1 – wir hatten die Nummer 3 – unsere Todfeinde. Wir hatten den Auftrag, uns mit ihnen zu schlagen, wenn wir ihnen auf den Straßen begegneten. Den gleichen Auftrag hatten natürlich auch die vom Fähnlein 1. Auf jeder Seite 150 Jugendliche waren somit aufgerufen, die Ehre ihrer Fähnleinführer wieder herzustellen.
Viele kamen dem Befehl mit Wonne nach, viele aber auch nicht. Zu den Letzteren gehörte auch ich. Ich konnte nicht begreifen, dass wir uns auf Befehl, hassen und schlagen mussten, obwohl wir uns doch gegenseitig gar nichts getan hatten. Hinzu kam, dass es gute Freunde gewesen sind, Klassenkameraden oder Fußballkumpels. Da war es geradezu unsinnig, einem solchen Befehl Folge zu leisten. Unter guten Freunden hatte die ausgerufene Fehde keine Chance. Sicher gab es in der Klasse auch schon mal kleine, nicht ernst gemeinte Sticheleien. Auch ich war mal davon betroffen.
Als ich in meinem Mantel etwas suchte, fand ich etwas, was da nicht hingehörte. Es war ein zusammengerollter Zettel. Darauf stand in großen Lettern das Wort RACHE!!! Ich erschrak. Wer sollte denn für was Rache an mir nehmen wollen?
Doch der Schreck ließ sehr schnell nach. Als ich nämlich aufblickte, sah ich einen fröhlich grinsenden Hanne Rothe, meinen besten Freund. Er war also der Übeltäter, der sich diesen Spaß mit mir erlaubt hatte. Er hatte mich mit diebischer Freude beobachtet. Und er war sichtlich zufrieden, dass ihm dieser Streich gelungen war.
Ich tat das Einzige, was man in dieser Situation tun kann. Ich habe mitge lacht. Am liebsten hätte ich ihm allerdings Eine geschmiert. Aber irgendwann musste schließlich mal Schluss sein mit dieser unsäglichen Fehde. Dieser Meinung war wohl auch unser Stammführer. Das war der Vorgesetzte unserer Fähnleinführer. Auch er besuchte das gleiche Gymnasium. Nur einige Klassen höher.
Als Ort für die „Große Schlacht“ bestimmte er ein Ziegeleigelände auf dem Roten Berg. Der Berg hatte seinen Namen, weil er mit roter Erde bedeckt ist. Bei Regen wird daraus roter Schlamm. Und einen solchen fanden wir vor, als wir uns in großer Schlachtordnung gegenüberstanden.
Bald rannten beide Parteien mit großem Gebrüll aufeinander los. Es kam zum wüsten Schlammgewühle, was so gar nicht meine Sache gewesen ist. Mich hat niemand angegriffen und auch ich bin nicht aktiv geworden. So erlebte ich das Ende weitgehend ungeschoren und mit sauberer Uniform. Besonders traurig bin ich deshalb nicht gewesen.
Abschließend hat der Stammführer noch eine Rede gehalten. Er lobte uns, weil wir gekämpft hätten wie einst unsere großen Ahnen – in treuer Gefolgschaft zu unseren Fähnleinführern. Nach altem Brauch mussten sich unsere Fähnleinführer zur Versöhnung die Hand reichen und versprechen, künftig zueinanderzustehen. Damit war die beiderseitige Ehre wieder hergestellt. Die Fehde war beendet.
Mich aber haben diese Vorgänge noch lange danach beschäftigt. Unsere Vorgesetzten hatten uns zu wahrer Nibelungentreue gezwungen. Wir mussten, weil sie das so wollten, gegen andere kämpfen und sie auch hassen. Und das, obwohl sie uns nichts getan hatten – teilweise sogar unsere Freunde waren. Keinem von uns wurde erlaubt nachzufragen, ob es nicht eine einfachere Lösung dieser vermeintlichen Probleme gibt.
Die gleiche Nibelungentreue war es, die so vielen Angehörigen meines Jahrgangs zum Verhängnis wurde. Getreu den Eid, den sie auf den Führer geleistet hatten, sind sie – ohne etwas zu hinterfragen – in den Tod gegangen.
Als wir, die wir das Chaos überlebt haben, feststellen mussten, dass dieses einst von uns so hoch verehrte Idol in Wirklichkeit einer der schlimmsten Verbrecher der Weltgeschichte gewesen ist, war es für unsere, im Krieg gebliebenen Freunde zu spät. Sie sind in ihrer ehrlichen Treue verraten worden. Sie sind umsonst gestorben.
Warum diese Nibelungentreue in den Köpfen so vieler Menschen auch heute noch einen so hohen Stellenwert einnimmt, wird mir wohl ewig verborgen bleiben!
Ich erlaube mir noch einige Worte in eigener Sache. Beim Niederschreiben dieser Geschichte, das war im Oktober 2011, hatte ich mir vorgenommen, auch meinen alten Freund Hanne Rothe einen Abdruck zukommen zu lassen. Zur Erinnerung an schöne Augenblicke unserer Kindheit.
Dazu ist es nicht mehr gekommen. Zur gleichen Zeit erhielt ich die Nachricht, das der Hans ganz plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Das hat mich tief getroffen. Ich war erschüttert. Und das in einem Maße, wie ich es vorher beim Weggang alter Weggefährten nicht erlebt hatte.
Diese Freundschaft zu Hanne Rothe, das stellte ich in dem Augenblick fest, war etwas Einmaliges. Das ist nicht so einfach daher gesagt, wenn man bedenkt, wie die Zeiten waren, die wir durchlebt haben.
Man hat viele Freunde in einem langen Leben!
Ganz wenige gehören zu den ganz guten Freunden.
Diese Freundschaft zwischen uns beiden, die saß ganz tief.
Als Sechsjährige wurden wir zusammen eingeschult. Jeden Tag habe ich den Hans auf dem Weg zur Schule abgeholt. Alle kleinen Sorgen und Probleme, die ein ABC-Schütze so hat, haben wir geteilt. Gern erinnere ich mich an seine reich belegten „Butterbemmen“, die er als Spross eines Lebensmittelhändlers in der Pause auspackte. Meist waren es so viele, dass er die nicht alleine schaffen konnte. Ich habe gern mitgeholfen, die Brotdose zu leeren. Keiner in der Klasse hatte so dick belegte „Bemmen“ wie der Hans. Mit großem Vergnügen hat er registriert, wie es mir schmeckte. Sein ganzes Leben war er ein guter Kerl – und immer hilfsbereit. Was wahre Freundschaft bedeutet, erlebten wir im Jahre 1990, als wir uns nach über 40 Jahren der erzwungenen Trennung das erste Mal wiedergesehen haben. Als ich 1949 in den Westen ging, waren wir 20. Das Leben lag vor uns. Als wir uns wiedersahen, waren wir Rentner. Das ganze Berufsleben lag dazwischen. In dieser langen Zeit haben wir in zwei, sich feindlich gegenüber stehenden Weltordnungen leben müssen – und uns auch beruflich entsprechend gegensätzlich entwickeln müssen.
Für uns beide spielte das überhaupt keine Rolle. Als Gefühlsmenschen, die wir nun mal waren, konnten wir beim Wiedersehen einige dicke Freudentränen nicht unterdrücken. Unsere alte Freundschaft war erhalten geblieben. Wir konnten sie nahtlos fortsetzen. So, als hätte es diese lange Zeit der Trennung nicht gegeben. Das war ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Danach blieben uns immerhin noch 21 Jahre, in denen wir uns ein oder zwei mal im Jahr in Erfurt getroffen haben. Zusammen mit seiner Frau Gisela, die ich noch aus Sandkastenzeiten – also einige Jahre früher – kannte, haben wir selig in Erinnerungen geschwelgt.
Freundschaften wie diese sind selten. Deshalb bin ich auch so traurig.
Die Führerbüste
In das erste Jahr meines Pimpfendaseins fällt auch die Geschichte mit der Führerbüste.
Diese Führerbüste war der aus Gips nachgestellte Kopf Adolf Hitlers. Sie war schwarz angestrichen und hohl. In unserem Fähnlein-Heim hatte sie einen Ehrenplatz. Von hohem Podest schaute sie auf uns herab. Dieses Heim stand uns auch außerhalb der normalen Dienste offen. Ganz nach Lust und Laune haben wir uns hier getroffen und uns die Zeit vertrieben.
An besagtem Nachmittag haben wir uns vorgenommen, mit dem Luftgewehr zu schießen. Wir wollten üben und uns auf einen bevorstehenden Wettbewerb vorbereiten.
Noch während der Vorbereitungen geschah das Ungeheuerliche! Bei einer kleinen Rangelei fiel die Führerbüste vom hohen Podest. Übriggeblieben sind ein Torso und viele große und kleine Scherben.
Wir waren geschockt. Vom ersten Schreck erholt, stellten wir erst einmal fest, dass die Büste wohl nicht mehr zu reparieren sei. Aber was sollte nun geschehen? Das Podest würde künftig leer bleiben, das war klar. Wir standen nach einiger Überlegung nur noch vor der Frage, ob wir die Büste direkt in den Müll werfen sollten – oder ob wir sie vorher noch als Zielscheibe benutzen wollten. Schließlich, so sagten wir uns, sei es doch gleichgültig, wie groß die Scherben seien, die letztendlich im Müll landen würden.
Mit dem größten Vergnügen schossen wir nun was das Zeug hielt. Besonderer Jubel kam auf, wenn ein markantes Gesichtsteil, wie Ohr oder Nase getroffen wurde und zersprungen ist. Ein schlechtes Gewissen oder irgendwelche Skrupel hatten wir dabei nicht.
Als wir uns trennten, waren wir hochzufrieden. Wir hatten alle das Gefühl, heute einen besonders schönen Nachmittag erlebt zu haben. Ganz anderer Meinung war allerdings unser Fähnleinführer. Der hat getobt, als er davon erfuhr. Geduldig hörten wir uns seine Strafpredigt an. Wir hätten auf die Büste unseres geliebten Führers geschossen. Das sei ungeheuerlich. Dafür gäbe es keine Entschuldigung.
Da half auch nicht unsere Beteuerung, dass das, worauf wir geschossen hätten, mit der Führerbüste überhaupt nichts mehr zu tun gehabt hat. Wir zeigten uns als reuige Sünder. Das ist das Beste, was man in solchen Situationen tun kann.
So ganz ungeschoren sind wir dennoch nicht davon gekommen. Vor versammelter Mannschaft – das waren unsere schadenfroh feixenden Kameraden – mussten wir Strafexerzieren. Liegestütze und Kniebeugen mit eingeschlossen.
Damit war der Fall für alle Beteiligten abgeschlossen. Auf dem hohen Podest stand seitdem keine Führerbüste mehr. Aber das Thema war beendet. Niemand hat wieder darüber gesprochen.
Nicht auszudenken, was mit Erwachsenen geschehen wäre, hätten sie das Gleiche getan. Das wäre „Majestätsbeleidigung“ der allerhöchsten Kategorie gewesen. Eine Diktatur versteht da keinen Spaß. Eine harte Strafe – unter Umständen sogar die Höchststrafe – hätte die Folge sein können.
Zeltfahrten
Mein erstes Zeltlager war die obligatorische Pimpfenprobe. Viele weitere sollten noch folgen. Hauptsächlich während der langen Sommerferien sind wir „auf Fahrt“ gegangen.
Zu den Nahzielen, wie nach Tiefthal, Hohenfelden oder zum Riechheimer Berg sind wir zu Fuß gegangen. Mit dem Tornister auf dem Rücken – wie kleine Soldaten.
Ging es weiter weg, etwa in den Thüringer Wald, ins Schwarzatal oder zur gerade fertiggestellten Saaletalsperre, dann sind wir mit dem Fahrrad gefahren.
Unverzichtbar für jede Zeltfahrt war die Mitnahme einer Zeltplane und einer Wolldecke. Eine Zeltplane entsprach einem Schlafplatz in einem Dreier- oder einem Zwölferzelt. Den Zeltbau hatten wir vorher intensiv geübt. Auf die richtige Verknüpfung der Planen ist es angekommen. Und zwar so, dass kein Regenwasser ins Zelt laufen konnte.
Aber wenn es so vom Himmel heruntergeschüttet hat, wie damals in Hohenfelden, da hätte auch die beste Verknüpfung nichts genutzt. Da wären die Zelte fast weggeschwommen.
Als der Dauerregen nicht aufhören wollte, hat uns ein mitfühlender Bauer seine Scheune zur Verfügung gestellt.
Im Stroh zu schlafen, das war wieder ein neues Erlebnis. In luftiger Höhe auf einem Strohschober, das hat Spaß gemacht. Ansonsten sind solche Regentage immer langweilig gewesen. Zum Zelten gehören einfach schönes Wetter, ein Lagerfeuer und eine zünftige Erbsensuppe. Unvergessen bleiben mir die Abende, an denen wir stundenlang am Lagerfeuer gesessen und ein Lied nach dem anderen gesungen haben. Wir besaßen ja ein fast unerschöpfliches Repertoire. Das reichte von den Volks-, Heimat- und Wanderliedern, bis hin zu den Soldaten-, Landsknechts- und Seemannsliedern. Lieder wie:
Fern bei Sedan…..,
Jenseits des Tales…..,
Argonnerwald…..,
Schwer mit den Schätzen des Ozeans beladen…..,
Am Golf von Biskaya…..,
Am Brunnen vor dem Tore…..,
Guten Abend, gute Nacht…..,
konnten schon mal leicht ins Sentimentale gehen. In einer solchen Stimmung wären die brachialen Parteilieder wie: „Es zittern die morschen Knochen“ oder „Die Fahne hoch!“ oder „Als die goldne Abendsonne“, völlig fehl am Platze gewesen. Auf diesen Fahrten haben wir sehr einfach gelebt. Wir konnten uns nur das leisten, was unsere knappe Kasse zugelassen hat. Wir kannten es nicht anders. Wir waren glücklich damit. Deshalb hat man in der Erbsensuppe auch vergeblich nach Speck- oder Schinkenwürfeln suchen müssen. Wir haben sie in einem großen Hordentopf über dem Lagerfeuer gekocht.
Ein besonderes Erlebnis hatten wir auf der Rückfahrt vom Lager an der Saaletalsperre. Wir befanden uns auf der Straße nach Weimar, als wir plötzlich ein Stück der viel gerühmten neuen Autobahn überquerten. Das war ein erhebender Moment! Wie weit der Autobahnbau fortgeschritten war, das wurde nie veröffentlicht. Während des Krieges ist das wohl aus Gründen der Geheimhaltung nicht geschehen.
Wir haben uns gewundert, dass sie hier schon fertig war. Bei uns in Erfurt war man noch lange nicht so weit. Vor einigen Monaten, auf dem Weg zum Riechheimer Berg, haben wir zwischen Haarberg und Drosselberg erst die abgesteckte Trasse überquert. Jetzt standen wir auf der Brücke und haben ehrfürchtig auf die Autobahn geschaut.
Wir haben nicht gewusst, wie weit das neue Teilstück geht. Wir sahen weder Hinweis-, noch irgendwelche Verbotsschilder. Auch auf den Straßenkarten war die Trasse nicht eingezeichnet. Was wir sahen, das war eine fertige Autobahn und eine fertige Zufahrt. Es war auch niemand in der Nähe, den wir hätten fragen können. Also haben wir gedacht: „Was nicht verboten ist, das ist erlaubt.“ Kurz entschlossen sind wir auf die Autobahn aufgefahren. Da waren wir ganz allein. Privatautos durften ja während des Krieges nicht benutzt werden. Die meisten Autobesitzer waren sowieso als Soldaten an der Front. So wie auch mein Lehrchef. Dessen „Horch“ habe ich mal, fein säuberlich abgedeckt, in einem Firmenschuppen bewundern dürfen.
Auf der nagelneuen Fahrbahn sind wir sehr schnell vorangekommen. Wir haben uns schon ausgerechnet, um wie viel früher wir jetzt in Erfurt sein würden.
Plötzlich vernahmen wir lautes Knattern hinter uns. Es war der zuständige Dorfgendarm auf seinem Leichtmotorrad. Da es damals weder eine Verkehrspolizei und noch viel weniger eine Autobahnpolizei gegeben hat, war er auch zuständig für dieses Autobahnteilstück. Das, was in Sachen Straßenverkehr damals angefallen ist, das hat die normale Polizei noch mit „Links“ geschafft.
Mit großer Wichtigkeit hat uns der Dorfpolizist erklärt, dass das Radfahren auf der Autobahn verboten sei. Aber woher sollten wir das wissen? Wo es doch bisher keine Autobahn gegeben hat! Bis dahin konnten wir als Radfahrer jede Straße und jeden Weg befahren.
Aber, wie dem auch sei, der Polizist ließ unsere kindlichen Einwände nicht gelten. Die Gesetze seien nun mal so. Ob wir sie kennen oder nicht. Jeder von uns musste eine Mark Strafe bezahlen. Das hat bitter wehgetan. Zudem fühlten wir uns sehr zu Unrecht bestraft.
Natürlich mussten wir auch wieder zurück auf die holprige Landstraße. Aber, auch das ist ein Novum gewesen. Wir taten das nämlich, genau wie der Polizist, auf der gleichen Fahrbahn! Gewissermaßen als Geisterfahrer! So ganz hatte der Polizist die neuen Autobahngesetze wohl auch nicht gekannt. Aber, das war in diesem Fall auch nicht wichtig. Es ist uns ohnehin kein Auto entgegengekommen.
Wenigstens kann ich heute für mich in Anspruch nehmen, einer der ersten gewesen zu sein, der eine Thüringer Autobahn befahren hat.
Ab 1943 wurden alle Zeltlager verboten. Die Gefahr aus der Luft, die auch tagsüber drohte, war zu groß geworden. Dieses Verbot galt auch für Einzelpersonen – wofür ich kein Verständnis hatte. Und weil ich schon immer ein kleiner Rebell gewesen bin, habe ich es auch nicht beachtet. Zu Pfingsten 1943 habe ich es trotzdem versucht. Mit meinem Freund Lothar Bogdanski wollte ich einige Tage durch den Thüringer Wald fahren.
Uns war bekannt, dass der HJ-Streifendienst alle Ausfallstraßen überwachen wollte. Trotzdem hofften wir, auf einem kleinen Nebenweg zwischen Hochheim und Bischleben unkontrolliert durchzukommen. Aber weit gefehlt. Die Kollegen vom Streifendienst hatten mit deutscher Gründlichkeit kein Schlupfloch vergessen. Sie hatten sich sehr gut getarnt. Sie tauchten erst vor uns auf, als wir nur wenige Meter von ihnen entfernt waren. Da hat es kein Zurück mehr gegeben. Es waren Gleichaltrige, die uns da mit großer Wichtigkeit die Leviten gelesen haben. Sie waren ja schließlich Amtspersonen! Sie haben sich auf nichts eingelassen! Befehl ist Befehl!
Vorsichtshalber haben sie die Ventile herausgezogen. Wohl oder übel mussten wir unser Fahrrad – vollgepackt – nach Hause schieben. Wenig später ist auch das Fahrradfahren grundsätzlich verboten worden. Das war wieder so ein Befehl, den ich nicht verstanden habe. Verbote mussten damals nicht begründet werden. Für mich war das reine Willkür.
Mit dem Fahrrad war ich regelrecht verwachsen. Das war fast ein Stück von mir. Darauf konnte ich nicht verzichten. Also habe ich auch dieses Verbot missachtet.
Es ging nicht lange gut. Ausgerechnet am Gutenbergplatz, nur 100 m von zu Hause entfernt, war ich in eine Polizeikontrolle geraten. Wieder verlor ich meine Ventile. Wieder musste ich mein Fahrrad schieben. Aber diesmal habe ich noch eine zusätzliche Strafe bekommen. Die Polizei hat mein „Vergehen“ an die Handelsschule gemeldet.
Worauf mich unser linientreuer Direktor Zenker vor der ganzen Klasse zusammengestaucht und mir einen Vortrag über Gehorsam und über Gesetztreue gehalten hat.
Da alles seine Ordnung haben musste, bekam ich einen Tadelseintrag ins Klassenbuch. Das hatte einen Einfluss auf meine Zeugnisnote „Betragen“. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Was zum Teufel hatte mein Fahrrad mit dem Handelsschulzeugnis zu tun!
Aber so funktioniert eben Diktatur.
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