Kitabı oku: «Kleinstadt-Hyänen», sayfa 5
Thekla
Thekla drückt den Hebel der Mischbatterie über der Badewanne nach unten. Anschließend lässt sie ihre Hand durch dicke Schaumwolken hindurch ins Wasser gleiten. Zufrieden mit der Temperatur zieht sie ihre Hand wieder heraus und schüttelt Wasser und Schaum ab. Sie schlüpft aus ihrer Jeans, dem übergroßen Hoodie und der schwarzen Spitzenunterwäsche. Dann fasst sie ihre langen aschblonden Haare mit einem schwarzen Haargummi zu einem unordentlichen Dutt zusammen und steigt in die Wanne. Langsam taucht sie in das warme Wasser ein, um sich nach und nach an die Temperatur zu gewöhnen. Als sie ganz vom Wasser bedeckt ist und sich behaglich zurückgelehnt hat, greift sie nach der Fernbedienung des Fernsehgeräts, das im Nachbarzimmer an der Wand angebracht ist. Seit sie entdeckt hat, dass sie prima von der Wanne ihres Hotelzimmers aus fernsehen kann, wenn sie die Tür zwischen Bad und Schlaf-Wohnbereich offenlässt und die Halterung an der Wand bis zum Anschlag nach rechts dreht, gönnt sie sich dieses Vergnügen fast jeden Abend. Heute gewährt sie sich sogar noch einen weiteren Luxus. Dafür hat sie sich aus einem Supermarkt in der Stadt eine Flasche Prosecco und eine Schachtel Pralinen mitgebracht. Den Prosecco hatte sie bereits geöffnet, während sie das Wasser in die Badewanne eingelassen hat, und ihn zusammen mit einem Sektglas aus der Minibar und der Pralinenschachtel auf dem Beckenrand abgestellt.
Beim Zappen durch die Kanäle lässt Thekla Spielfilme, Soaps, Talkshows und Dokus links liegen. Das alles interessiert sie heute nicht. Nur bei einer Sendung über Eichhörnchen kann sie nicht widerstehen und schaut einen kurzen Moment lang zu, wie eines der possierlichen Tierchen in unglaublicher Geschwindigkeit um einen dicken Eichenstamm herum nach oben in die Krone saust, dicht gefolgt von einem zweiten Eichhörnchen. Fasziniert verfolgt sie, wie die Gesetze der Schwerkraft für die beiden wendigen Akrobaten keinerlei Bedeutung zu haben scheinen, während sie von einem Baumstamm zum nächsten springen, kopfüber unter waagerecht stehenden Ästen entlanghuschen und dabei so fix sind, dass es schwer fällt, ihrer Verfolgungsjagd mit den Augen zu folgen. Schließlich gelingt es Thekla dann doch, sich loszureißen und weiter zu zappen. Schließlich hat sie den Kanal gefunden, den sie sucht. Die mit einem hochgeschlossenen grünen Blazer bekleidete Nachrichtensprecherin erläutert den Zuschauern gerade auf Englisch, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sich wie immer nicht zu einer gemeinsamen Resolution in einem der zahlreichen Nahost-Konflikte durchringen konnte. Dazu flimmern im Hintergrund Zusammenschnitte von Videomaterial über aktuelle Kampfhandlungen in dem schon seit Jahren vom Bürgerkrieg gebeutelten Land über den Bluescreen. Es folgt eine Live-Schaltung zu einem Korrespondenten vor Ort, der seine Einschätzung zur Lage in einem Land wiedergibt, das hoffnungslos zum Spielball verschiedenster nationaler sowie internationaler Interessen geworden ist und das vermutlich niemals eine Chance haben wird, sich den machtpolitischen Spielchen einiger frustrierter, von ihrer vermeintlichen Wichtigkeit berauschter Psychopathen zu entziehen. Anschließend legt die Sprecherin das Blatt Papier zur Seite, von dem sie die Meldung abgelesen hat, und das Bild im Hintergrund ändert sich. Während die Moderatorin nun von der Verleihung einer hohen Auszeichnung an einen Wissenschaftler berichtet, langt Thekla nach der Proseccoflasche und gießt sich vorsichtig, damit das kohlensäurehaltige Getränk nicht über den Rand hinausschießt, ein Glas ein. Sie prostet dem glücklichen Geehrten zu und nimmt einen Schluck.
Ihre Nervosität steigt. Val hatte ihr vorhin, als sie in der Stadt war, um sich neue Jogging-Schuhe zu kaufen, gesmst, dass ihr „very special friend“, wie sie es nannte, aufgeflogen ist. Die Nachricht hatte Thekla elektrisiert. Zwar hatte sie fest damit gerechnet, dass das passieren würde, aber sicher sein, dass der Plan aufgeht, zu dessen Gelingen sie nicht unwesentlich beigetragen hat, konnte sie nicht. Einen Moment lang hatte sie nicht gewusst, wie sie mit Vals Nachricht umgehen soll. Einerseits fühlte sie sich erleichtert, weil die Sache endlich entschieden war. Kurz darauf drängte sich ihr die bange Frage danach auf, was das für sie bedeuten wird. Schließlich setzte sich jedoch ein Gefühl des Triumphs durch. Sie wollte den Kerl am Boden sehen. Im Dreck. Dort, wo er ihrer Meinung und der ihrer Mitstreiter nach auch hingehört. Er hat es sowas von verdient!
Ohne zu wissen, ob die Nachricht von der Festnahme dieses Mannes wirklich ein Anlass zum Feiern ist oder ob der Preis für ihren Erfolg zu hoch für sie sein wird, hatte Thekla sich spontan dafür entschieden, das Ereignis zu feiern. Wenn nicht jetzt, wann dann, hatte sie sich gefragt und war aus dem kleinen Sportgeschäft in der Fußgängerzone direkt in den nächsten Supermarkt geeilt, um Prosecco und Pralinen zu kaufen. Nun starrt sie gespannt auf den Bildschirm und erwartet jeden Moment, dass die Sprecherin die Nachricht verliest, die sie erhofft und gleichzeitig fürchtet.
Es ist ein beruhigender Gedanke für Thekla, dass sie sich mittlerweile weit weg vom Schauplatz des Geschehens auf der anderen Seite des Erdballs befindet. Nervös macht sie allerdings das Gefühl des Abgeschnittenseins vom Informationsfluss, dass sie trotz der medialen Globalisierung und der Tatsache, dass eine SMS, eine E-Mail oder ein Post im Internet heutzutage genauso schnell bei ihr ist, als wäre sie selbst vor Ort, befällt. Niemand weiß und niemand darf wissen, wie sie zu erreichen ist. Außer ihre Vertrauten Val, Jerry und Angelo natürlich. Doch auch sie müssen extrem vorsichtig sein und die Kommunikation untereinander auf das Nötigste beschränken. Möglicherweise sind die Vorsichtsmaßnahmen übertrieben. Doch so etwas weiß man immer erst hinterher, und zwar dann, wenn man doch zu unvorsichtig war und die fatalen Konsequenzen zu spüren bekommt, schießt es Thekla durch den Kopf. Gleichzeitig wüsste sie wirklich nicht, wie irgendjemand auf die Idee kommen sollte, dass ausgerechnet sie etwas mit der Aufdeckung der kriminellen Machenschaften dieses Verbrechers zu tun hat. Fakt bleibt jedoch, dass sie in der Sache mit drinhängt und nichts unmöglich ist.
Einem plötzlich auftretenden Impuls folgend legt Thekla den Kopf in den Nacken und stürzt den Inhalt des Glases herunter. Anschließend schüttelt sie sich. Und jetzt beruhigst du dich mal wieder, ermahnt sie sich selbst. Sie atmet tief durch, stellt das Glas auf dem Beckenrand ab und taucht in der Badewanne komplett unter. Nach ungefähr zehn Sekunden taucht sie wieder auf, schnappt nach Luft und reibt sich das Wasser aus dem Gesicht. Schon besser, denkt sie. Dann sieht sie sich nach der Flasche auf dem Beckenrand um. Hm, ein weiteres Gläschen zur Entspannung kann nicht schaden, findet sie. Sie schenkt sich noch einmal ein, stellt die Flasche zurück, lehnt sich behaglich zurück und trinkt nun in Ruhe und genüsslich ihren Prosecco. Wer weiß, ob die Presse überhaupt schon Wind von der Sache bekommen hat, überlegt sie währenddessen. Vielleicht gelingt es seinen Anwälten, dafür zu sorgen, die Angelegenheit vor der Öffentlichkeit geheim zu halten – jedenfalls vorläufig. Und überhaupt ist es doch völliger Blödsinn, auf die Nachrichten im Fernsehen zu warten, wenn man die Informationen viel gezielter im Internet abrufen kann!
Just in diesem Moment ändert sich das Bild hinter der Nachrichtensprecherin erneut. Ein Mann mit halblangen zurückgekämmten Haaren, bekleidet mit einem weißen Hemd und einem dunkelblauen Anzug, wird in Handschellen von zwei Polizisten in ein Gerichtsgebäude geführt. Wie elektrisiert setzt sich Thekla in der Wanne auf. Die Sprecherin berichtet von Steuerhinterziehung und Korruption, die dem namhaften Geschäftsmann zur Last gelegt werden, und davon, dass er ein engagierter Unterstützer des amerikanischen Präsidenten ist. Sie spricht davon, dass schon seit längerem sogar öffentlich darüber spekuliert wurde, ob ein großer Teil seines Vermögens auf kriminellen Machenschaften beruhe, man ihm jedoch nie etwas nachweisen konnte. Dann wird ein Film eingespielt, in dem ein älterer Herr, ebenfalls mit sorgfältig über den Hinterkopf gekämmten schütteren dunklen Haaren vor die Kamera tritt. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn, und als sich eine davon löst und an seiner Schläfe hinabrollt, hinterlässt sie eine dunkle Spur auf der sonnengebräunten Gesichtshaut. Bei dem Herrn handelt es sich um den Anwalt des verhafteten Geschäftsmannes. Er erklärt den umstehenden Pressevertretern, die ihm eine Vielzahl von Mikrophonen vor die Nase halten, dass sein Mandant selbstverständlich unschuldig sei und er das beweisen würde. Es handele sich bei den Anschuldigungen um bösartige Verleumdungen eines angesehenen amerikanischen Bürgers und Patrioten und man werde gegen diejenigen, die sie verbreiteten, mit aller Härte und Konsequenz vorgehen.
Thekla schüttelt verächtlich den Kopf. Das übliche Gefasel, denkt sie. Aber was soll der Typ auch sonst sagen? Jeder weiß, dass sein Mandant ein Schwein ist und jede Menge Dreck am Stecken hat. Obwohl – da er auch ein Buddy des Präsidenten ist, kommt er mit seinen Unschuldsbeteuerungen vielleicht sogar durch, schießt es ihr durch den Kopf. Ein kalter Schauer läuft ihr den Nacken hinunter. Thekla lehnt sich erneut zurück und lässt sich am Wannenrand hinabgleiten, bis ihre Schultern vollständig vom wohlig warmen Wasser bedeckt sind. So oder so ist es gut, dass ich jetzt in Deutschland bin, weit entfernt von der Schusslinie, denkt sie bei sich. In diesem Nest vermutet mich bestimmt niemand.
In diesem Moment dringt ein metallisches Scharren an ihr Ohr. Es kommt von ihrer Zimmertür. Thekla erstarrt. Jede Faser ihres Körpers verspannt sich bis hin zu ihren Haarspitzen. Unwillkürlich hält sie die Luft an und lauscht. Da! Da ist es wieder! Zweifellos macht sich jemand an der Tür ihres Hotelzimmers zu schaffen.
Vorsichtig stellt Thekla das Sektglas auf dem Beckenrand ab. Sie greift nach der Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus. Durch die plötzlich eintretende Stille ist das Geräusch noch deutlicher zu hören. Geschmeidig und nahezu lautlos taucht sie aus dem Wasser auf und schnappt sich ein Badelaken vom Halter an der Wand. Sie schlingt es sich um die Brust und verharrt erneut. Wieder vernimmt sie das metallische Scharren, das sich so anhört, als versuche jemand ihre Tür mit einer Hotelschlüsselkarte zu öffnen, wobei er oder sie sich allerdings nicht allzu geschickt anzustellen scheint. Dann hört sie eine Männerstimme lallen: „Was issn das hier für’n Schaaeiiß!“
Augenblicklich entspannt sich Thekla. Der Betrunkene hört sich nicht wirklich gefährlich an. Obwohl das auch Tarnung sein kann … Soll sie dem Mann zurufen, dass er sich in der Zimmertür geirrt hat? Oder bringt sie sich damit erst recht in Gefahr, wenn er weiß, dass sie da ist? Unschlüssig bleibt sie in der Wanne stehen und lauscht. Endlich verstummt das Geräusch – der Mann scheint aufgegeben zu haben. Thekla hört ein schleifendes Geräusch, als ob sich jemand schwerfällig vom Türrahmen abstößt, gefolgt von dumpfen Schritten, die vor der benachbarten Zimmertür Halt machen, wo das Spiel mit der Schlüsselkarte von Neuem beginnt.
„Puh!“ Erleichtert atmet Thekla aus. Sie bemerkt, wie sie am ganzen Körper zittert. Bevor ihr die Beine wegsacken können, lässt sie sich vorsichtig auf den Rand der Badewanne sinken. Um Himmels willen! Worauf hat sie sich da nur eingelassen?
Vorbereitungen
„Es ist fünf nach zehn. Wir fangen an!“, bestimmt Julia nach einem Blick auf ihre Armbanduhr.
„Du bist aber streng!“ Daniela schaut sie über den Rand ihrer Speisekarte hinweg verwundert an. „Sicher wird sie gleich auftauchen.“
Nephele schüttelt den Kopf. „Ich sehe das genauso wie Julia. Wir haben schließlich alle unsere Zeit nicht gestohlen!“, stellt sie resolut fest.
Daniela wendet den Kopf und sieht die Wirtin erschrocken an. Die realisiert, dass sie vielleicht ein wenig barsch geklungen hat. Mit um Verständnis heischender Stimme fügt sie hinzu: „Zurzeit fehlt es mir hinten und vorne an Personal. Eigentlich kann ich es mir überhaupt nicht leisten, zu Stoßzeiten wie jetzt gerade hier herumzusitzen.“ Sie dreht sich um und winkt einem ihrer Angestellten zu, damit er ihre Bestellungen aufnehmen kann.
Thekla grinst spitzbübisch. „Nun gib es schon zu! Du bist immer noch sauer auf sie, weil sie deinem Schwarm auf dem Abiball einen gebl….“
„Sprich es nicht aus!“, fällt Nephele ihr streng ins Wort. Sie schüttelt den Kopf, als könne sie damit die Bilder vertreiben, die sich darin aufzubauen drohen. In gemäßigtem Ton fährt sie fort: „Da gibt es nichts zuzugeben. Ich stehe dazu, dass ich der Meinung bin, dass man solche Dinge unter Freundinnen nicht tut. Und außerdem“, mit einer großartigen Geste wirft sie ihre langen schwarzen Haare hinter ihre Schultern zurück, „kann ich mir gut vorstellen, dass Madame die Lust an unserem Projekt sowieso längst vergangen ist. Schließlich handelt es sich hier um ein Arbeitstreffen, und mit dem Arbeiten hatte sie es ja noch nie besonders.“
Julia und Thekla werfen sich über den Tisch hinweg amüsierte Blicke zu.
„Sie ist eben nicht daran gewöhnt“, erklärt Daniela mit verständnisvoller Miene. „Wenn man immer nur zuhause herumsitzt und nie richtig gefordert wird, dann wird man mit den Jahren vielleicht so.“
Die drei anderen lachen. „Du bist wirklich zu gut für diese Welt, Daniela“, meint Julia. „Miriam galt doch schon in der Schule als arbeitsscheu. Allerdings hatte ich gehofft, sie hätte sich geändert. Sonst hätte ich sie gar nicht erst ins Vorbereitungs-Komitee berufen.“
Der junge Angestellte ist an den Tisch herangekommen und nimmt die Frühstücksbestellungen der vier Frauen auf.
„Für mich bitte das Fitness-Frühstück mit Lachs“, trägt Julia ihm auf.
„Und ich hätte gerne das Bauernfrühstück“, fährt Daniela fort.
Thekla runzelt irritiert die Stirn. Sie schaut noch einmal in die Karte und ihre Augen werden groß wie Wagenräder. „Das Bauernfrühstück? Ist das dein Ernst?“, fragt sie entgeistert.
Daniela wirft ihr einen erstaunten Blick zu. „Ja, warum?“
„Bratkartoffeln mit zwei Spiegeleiern und Gewürzgurke“, liest Thekla vor, hebt den Kopf und sieht Daniela fragend an.
Die nickt zustimmend. „Stimmt. So steht es in der Beschreibung“, bestätigt sie und nimmt verwirrt zur Kenntnis, dass die drei anderen anfangen zu lachen.
„Gäste mit einem gesunden Appetit sind mir die liebsten“, ruft Nephele begeistert. „Eine ausgezeichnete Wahl!“
Langsam fällt bei Daniela der Groschen, warum ihre Bestellung für Erheiterung sorgt. Sie rechtfertigt sich. „Ich bin seit fünf Uhr auf den Beinen! Genau genommen ist das hier mein Mittagessen“, erklärt sie.
Thekla zieht bewundernd die Augenbrauen in die Höhe und sagt: „Ich nehme alles zurück.“ Anschließend gibt sie selbst ihre Bestellung auf. „Für mich erst mal nur einen Milchkaffee“, bittet sie. Auch sie erntet erstaunte Blicke. „Sorry, Mädels, aber das ist einfach noch nicht meine Zeit. Dieses Frühstück findet für mich fast noch vor dem Aufstehen statt.“
Nephele beendet den Reigen. „Und für mich bitte das süße Frühstück“, bestellt sie. Dann nickt sie dem jungen Mann zu, der sich daraufhin in Richtung der Theke trollt. Anschließend schaut sie Julia mit erwartungsvoller Miene an. „Da nun das Organisatorische geklärt ist, gebe ich das Wort an unsere geschätzte Ex-Jahrgangssprecherin und Vorsitzende des Abi-Jubiläumsfeier-Komitees weiter!“, verkündet sie großartig.
Alle Augen richten sich auf Julia. Die holt eine dünne Mappe aus ihrer Tasche hervor und legt sie vor sich auf den Tisch. Dann kramt sie erneut in der Tasche und zieht ein schmales rotes Etui heraus. Die anderen drei sehen ihr gespannt dabei zu, wie sie es öffnet, die darin liegende Brille herausfischt und sich auf die Nase setzt. Anschließend öffnet sie die Mappe und schiebt einen Kugelschreiber aus der darin angebrachten Halterung heraus.
„Machst du es immer so spannend?“, fragt Thekla trocken.
Julia sieht sie über den Rand ihrer Brille hinweg strafend an, sagt jedoch nichts weiter. Thekla verzieht gespielt beschämt das Gesicht.
„Mann, du wirkst ja richtig autoritär“, platzt Daniela heraus. „Lernt man das als Bürgermeisterin?“
Julia dreht sich zu Daniela um, zieht eine Augenbraue hoch und wirft ihr einen missbilligenden Blick zu. „Nö“, entgegnet sie knapp. „Das habe ich von meiner Mutter. Sie war Grundschullehrerin“, erklärt sie. „Und wenn ihr jetzt alle brav seid und ordentlich mitarbeitet, lese ich euch nachher auch noch eine Geschichte vor“, verkündet sie mit einem aufgesetzt strahlendem Lächeln.
Die drei anderen jaulen auf vor Vergnügen. Julia wirft einen strafenden Blick in die Runde und das Gelächter reduziert sich auf ein unterdrücktes Gniggern. Nachdem sie noch einmal missbilligend den Kopf geschüttelt hat, blickt sie auf den obersten Zettel in ihrer Kladde und beginnt ihren Vortrag mit einer Bilanz der bisherigen Rückmeldungen. „In unserem Jahrgang haben neunundsechzig Leute Abitur gemacht. Bis auf zwei Ausnahmen habe ich mittlerweile von allen die E-Mail-Adresse erhalten. Pia Kreindler konnte ich immer noch nicht ausfindig machen und Mark Meier soll zur Fremdenlegion gegangen sein. Seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Seine Mutter spricht nicht gerne darüber.“
Nephele zieht erstaunt die Brauen hoch. „Wie hast du es dann herausgefunden, wenn er doch verschwunden ist und seine Mutter nicht darüber reden will?“
„Ich sagte es bereits: Meine Mutter war Grundschullehrerin“, erinnert Julia und ergänzt kopfschüttelnd. „Sie weiß alles. Über ihre ehemaligen Schüler sowieso.“
Die drei anderen nicken beeindruckt und Julia fährt fort, über die bislang eingegangenen Anmeldungen zur Feier zu informieren. „Bis jetzt haben zweiundfünfzig Leute zugesagt, die Ende Mai dabei sein wollen. Vielleicht werden es noch ein paar mehr, denn von einigen habe ich bislang noch gar keine Rückmeldung erhalten.“ Sie wendet sich an Nephele. „Steht dein Angebot noch, das Lokal ausnahmsweise für eine geschlossene Veranstaltung zur Verfügung zu stellen?“
Die Wirtin nickt. „Aber klar doch! Buffet und Getränke gibt’s zum Einkaufspreis.“
„Großartig!“, lobt Julia und setzt einen Haken hinter den Punkt „Essen & Trinken“.
„Oh bitte, lies doch mal vor, wer alles zugesagt hat“, ruft Daniela. Thekla und Nephele stimmen ihrem Vorschlag begeistert zu. Neugierig beugen sich alle drei über den Tisch und schauen Julia erwartungsfroh an. Die protestiert: „Aber das ist doch jetzt überhaupt nicht wichtig!“, doch sie wird überstimmt. „Also gut“, gibt sie nach und verliest die Namen der Angemeldeten. Als sie bei André Tetzlaff, dem Jahrgangs-Schönling angelangt ist, seufzen die drei anderen im Chor auf.
„Oh bitte, geht das schon wieder los?“, schimpft Julia.
Die drei lachen. In diesem Moment blickt Thekla zufällig hinüber zum Eingang und raunt den anderen zu: „Wenn man vom Teufel spricht, taucht manchmal auch seine Großmutter auf!“ Mit einem Kopfnicken macht sie auf ihre Entdeckung aufmerksam. Die anderen folgen ihrem Blick und sehen eine Frau, die augenscheinlich alle Hände voll damit zu tun hat, ihre Hunde durch die Tür ins Lokal zu bugsieren, ohne über den einen oder den anderen zu stolpern. Ungerührt ob ihrer Bemühungen jagen sich die Tiere gegenseitig um ihre Beine herum. Dabei kläffen sie sich erst gegenseitig und dann die Bedienung an, die auf die drei Gestalten zueilt, um das Chaos zu ordnen. Innerhalb kürzester Zeit hat jeder im vollbesetzten Lokal etwas von der tumult-artigen Szene mitbekommen, die sich am Eingang abspielt. Daniela schaut erschrocken, Julia schüttelt missbilligend den Kopf, Thekla unterdrückt ein Lachen und Nephele rollt genervt mit den Augen. Seufzend erhebt sie sich und läuft zielstrebig auf den Eingang zu.
„Ich weiß überhaupt nicht, was Sie meinen!“, hört sie die Frau der Bedienung empört mitteilen. „Die beiden tun keiner Fliege etwas zuleide. Sie sind ganz brav. Nicht wahr, meine beiden Schatzis?“, säuselt sie in Richtung der Miniaturhunde, die aufgeregt erst in die eine und dann in die andere Richtung laufen, dabei wild an der Leine zerren und die Gäste an den umliegenden Tischen wütend ankläffen.
Nephele zwingt sich zu einem Lächeln. „Miriam!“, ruft sie mit schlecht gespielter Freude. „Was hast du uns denn da für zwei reizende kleine Gäste mitgebracht?“
„Nicht wahr? Sind sie nicht entzückend?“, entgegnet Miriam. „Sie sind nur ein bisschen aufgeregt, weil die Umgebung noch ungewohnt für sie ist. Das legt sich gleich.“
Nephele wirft einen misstrauischen Blick auf die Hunde, die sich nun vor ihr aufgebaut haben und sie mit unverminderter Lautstärke angiften.
„Zeus! Apollo! Es reicht jetzt!“, versucht Miriam die beiden zur Ordnung zu rufen.
„Vielleicht ist es besser, wenn sich deine Hunde draußen akklimatisieren, meinst du nicht?“, fragt Nephele mit angespanntem Lächeln.
Miriam wirft ihr einen empörten Blick zu. „Wie? Du wirfst meine zwei kleinen Lieblinge hinaus?“
Nephele atmet tief ein und wieder aus. „Ja!“, bestätigt sie dann. „Genauer gesagt, haben sie nicht mehr als fünf Sekunden Zeit, um das Lokal zu verlassen, bevor ich Souflaki aus ihnen mache.“ Ihr Lächeln wird eine Spur breiter.
Miriam bleibt vor Empörung der Mund offen stehen. Dann poltert sie los: „Das ist ja wohl der Gipfel der Unverfrorenheit! Tierquäler! Kein Wunder, dass die zwei Mäuse so durcheinander sind. Sie merken genau, wenn sie nicht erwünscht sind.“ Sie beugt sich zu dem Chihuahua und dem Zwergspitz hinunter und säuselt: „Was sind das nur für herzlose Menschen, die kein Verständnis für zwei ängstliche kleine Hunde wie euch zwei haben. Das ist wirklich pfui!“ Sie richtet sich wieder auf und funkelt Nephele wütend an, doch die bleibt hart. Als Miriam immer noch keine Anstalten macht, ihre kläffenden Randalierer hinauszubefördern, ruft die Wirtin in Richtung der Küche: „Anthony, ich brauche zwei Spieße!“
Miriam schnappt nach Luft und stemmt die Arme in die Seiten. „Das ist ja wohl die Höhe! Das nimmst du sofort zurück!“, fordert sie empört.
Obwohl Nephele immer noch lächelt, zeigt sich nun in ihren Augen ein gefährliches Funkeln. Sie lässt Miriam nicht eine Sekunde lang aus den Augen, während sie erneut ruft: „Anthony? Ein bisschen Beeilung, wenn ich bitten darf!“
„Komme sofort, Chefin“, hört man es aus der Küche rufen.
Viele der Gäste, die zunächst empört oder verärgert wegen der Störung waren, feixen sich nun eins. Miriam muss einsehen, dass sie verloren hat. Wutschnaubend macht sie auf dem Absatz kehrt und zieht ihre widerstrebenden Hunde hinter sich aus dem Lokal.
„Du kannst sie draußen anbinden. Unwahrscheinlich, dass die einer klaut“, ruft Nephele ihr hinterher. Mit einem zufriedenen Lächeln dreht sie sich um und kehrt an den Tisch zu ihren Freundinnen zurück. Kurze Zeit später folgt Miriam.
„Also, ich finde es wirklich unglaublich, dass ich meine Hunde nicht mit ins Lokal nehmen darf. So etwas Unmenschliches!“, schimpft sie. Wütend reißt sie sich ihren roten Wintermantel vom Leib, wirft ihn nachlässig über die Lehne ihres Stuhls, zieht diesen mit einem Ruck zurück und setzt sich ans Kopfende des Tisches. „Ich vermute, dass dein hartherziges Verhalten damit zusammenhängt, dass du mir immer noch nicht verziehen hast, dass André mich nun einmal attraktiver fand als dich!“ Sie wirft den Kopf zurück und schüttelt Ihr langes rotes Haar hinter ihre Schultern.
Julia, Daniela und Thekla halten die Luft an. Wie gebannt starren sie auf Nephele.
„Mädels, beruhigt euch bitte. Man kann über alles reden!“, versucht Julia die beiden zu beschwichtigen, doch Nephele beachtet sie gar nicht.
Stattdessen wendet sie sich seelenruhig Miriam zu und sagt: „Meine Liebe, jeder geschlechtsreife Bengel an unserer Schule wusste, dass du für ihn zu haben bist. Wer also einen Samenstau hatte, wandte sich vertrauensvoll an dich und konnte sicher sein, dass du ihm zu Diensten sein wirst. Das Ganze hatte also mehr mit leichter Verfügbarkeit als mit Attraktivität zu tun. Aber bitte, wenn es dir damit besser geht, dass du dich für unwiderstehlich hältst …“ Nephele hebt die Hände zum Himmel und lässt den Rest des Satzes offen im Raum stehen.
Miriam läuft knallrot an. Schäumend vor Wut will sie etwas erwidern, doch Nephele schneidet ihr mit einer wegwerfenden Handbewegung das Wort ab. „Schwamm drüber. Ich gestehe, dass ich seit jeher einen grässlichen Männergeschmack habe und verspreche dir hiermit, dass du jeden meiner abgelegten Liebhaber haben darfst so oft und so lange du willst. Ausnahmslos.“ Sie klappert mit den Augenlidern und schenkt Miriam ein strahlendes Lächeln, das von einem Ohr zum anderen reicht.
„Also, das ist doch …“, beginnt Miriam sich zu empören, doch dieses Mal ist Thekla schneller.
„… ein ziemlich großzügiges Angebot“, ergänzt sie den Satz. Alle außer Miriam lachen darüber. Notgedrungen muss auch sie gute Miene zum bösen Spiel machen und zwingt sich zu einem schiefen Grinsen.
Julia wirft Thekla einen dankbaren Blick zu. Anschließend beeilt sie sich, die Aufmerksamkeit der Runde erneut auf den eigentlichen Grund ihres Treffens zu lenken. Sie rückt die Brille auf ihrer Nase zurecht, beugt sich über ihre Mappe und fährt fort, die Namen derjenigen ehemaligen Schulkameraden aufzuzählen, die ihre Teilnahme an der Feier bereits zugesagt haben. Plötzlich zeigt sich ein süffisantes Grinsen auf ihrem Gesicht. „Katja Göbel …“, liest sie vor und schüttelt seufzend den Kopf. „Madame Göbel besteht dringend darauf, eine Extra-Wurst gebraten zu bekommen, aber ich weiß noch nicht, ob ich dazu bereit bin.“ Sie seufzt.
„Das ist übrigens eine prima Idee!“, ruft Nephele begeistert, was ihr die erstaunten Blicke der anderen einbringt. „Ich baue vor dem Lokal einen Grill auf. Sowas kommt immer gut an!“ Ihr Vorschlag sorgt für allgemeine Erheiterung. Auch Miriam scheint sich jetzt wieder gefangen zu haben und lacht mit.
Anschließend kommt Thekla auf Julias Bemerkung zurück und fragt: „Was wünscht sich Madame Katja denn von dir?“
„Sie will ihren Grafen mitbringen“, antwortet Julia, während sie ihre Lesebrille von der Nase nimmt und mit dem Putztuch aus ihrem Etui reinigt.
„Ihren … was?“, fragt Daniela.
„Du hast schon richtig verstanden“, antwortet Julia. „Obwohl ich ausdrücklich geschrieben hatte, dass die Feier ohne Partner stattfindet, weil der Austausch von Erinnerungen an die gemeinsame Schulzeit in seiner ganzen Albernheit und Belanglosigkeit für Unbeteiligte vermutlich kaum zu ertragen wäre, hat sie einfach verfügt, dass sie den Grafen von Schluck“, Julia schiebt ihre Brille wieder auf die Nase und liest in ihrer Mappe nach, „er heißt übrigens wirklich so“, bestätigt sie ihre Aussage, „also, dass sie ihn mitbringt.“
„Einen Grafen“, wiederholt Daniela ehrfürchtig.
Miriam rollt genervt die Augen. „Meine Güte, Daniela! Adelige sind auch nur Menschen. Sie kacken und furzen genau wie andere Leute auch.“
Die vier übrigen Frauen sehen sich entgeistert an. „Miriam!“, ruft Thekla streng. „Geziemt sich dieses Vokabular für eine Arztgattin und Kirchenvorständin?“
Die Zurechtgewiesene zuckt die Schultern. „Ist doch wahr“, antwortet sie schnippisch. „Wen interessiert es heute noch, ob jemand blauen Blutes ist? Vermutlich ist er aufgrund jahrhundertelanger Inzucht impotent und außerdem komplett verarmt, sonst würde er sich doch nicht mit dieser Schnepfe einlassen.“
Die vier anderen werfen sich vielsagende Blicke zu. Sie kennen Miriam gut genug um zu wissen, dass es diese ordentlich wurmen muss, wenn jemand versucht, ihr den Rang abzulaufen. Dass sie selbst sehr auf ihren Status als Arztgattin und angeheiratetes Mitglied einer angesehenen Gifhorner Familie besteht und es nicht schätzt, wenn ihr andere auf diesem Feld das Wasser abgraben, haben sie bereits mehrfach feststellen können.
Julia nimmt erneut ihre Lesebrille ab und schmunzelt. „Nun, wenn ich mich recht an den Charakter unserer geschätzten Frau Göbel erinnere, dann vermute ich tatsächlich, dass sie mit ihrer Eroberung angeben will. Meinetwegen soll sie das tun. Aber ist das fair gegenüber den anderen, die ihre Partner zuhause lassen müssen?“
„Natürlich nicht!“, beantwortet Miriam ihre Frage sofort.
„Also, ich habe nichts dagegen“, kontert Nephele und lehnt sich mit zufriedenem Lächeln und verschränkten Armen auf ihrem Stuhl zurück.
Thekla wirft Nephele wegen dieser neuerlichen Provokation Miriams einen gespielt missbilligenden Blick zu. Doch dann zuckt sie die Schultern und stimmt ihr im Ergebnis zu. „Ganz ehrlich? Wenn sie sich nicht an die Spielregeln halten will, dann ist das ihre Sache. Deswegen mit einer profilneurotischen Tussi herumstreiten, das willst du dir vermutlich nicht antun, oder Julia?“
„Auch wieder wahr“, meint diese seufzend. „Ich habe ihr bereits gemailt, dass wir uns vor zwanzig Jahren gegen Partner bei der Jubiläumsfeier entschieden haben und fertig. Wenn sie das Blaublut trotzdem mitschleppen will, werde ich ihn nicht hinauswerfen. Wie seht ihr das?“, fragt sie in die Runde. Alle bis auf Miriam nicken. „Sorry, Miriam, du bist überstimmt“, fasst Julia das Ergebnis ihrer Abstimmung mit einem bedauernden Lächeln zusammen.
Miriam rollt genervt die Augen gen Himmel, verschränkt ihre Arme vor der Brust und schnalzt mit der Zunge. „Meinetwegen soll diese Selbstdarstellerin ihren großen Auftritt haben. Vermutlich hat sie nicht mehr vorzuweisen, als mit ihrem Zukünftigen anzugeben. Pfff! Wie erbärmlich!“, stellt sie verächtlich fest.
Thekla und Julia tauschen beredete Blicke aus, Nephele streicht konzentriert den Rock ihres schwarzen Spitzenkleides glatt und Daniela runzelt die Stirn. Sie scheint etwas sagen zu wollen, was Julia im letzten Moment zu verhindern weiß. „Ich lese noch schnell die restlichen Zusagen vor, damit wir diesen Punkt abhaken können, okay? Schließlich haben wir heute noch anderes zu tun.“ Ohne eine Antwort der anderen abzuwarten, senkt sie den Blick auf ihre Aufzeichnungen und fährt mit dem Verlesen der Namen fort. Kurze Zeit später wird sie von Thekla unterbrochen.
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