Kitabı oku: «Der Reiher», sayfa 2

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3

Es war kalt im Hausflur – eine feuchte, tückische Kälte, bei der man an Brunnen und Keller dachte. Durch die Haustür, die Romeo bereits, Gott weiß, warum, weit aufgemacht hatte, fuhr der Wind in Stößen und brachte den kleinen schwarzen, schmiedeeisernen Kronleuchter an der dunklen getäfelten Decke gefährlich zum Schaukeln.

Der Hausmeister stand bewegungslos in der Tür und blickte, wie es schien, mit gespannter Aufmerksamkeit auf das Haus gegenüber, das vom Flur aus unsichtbar blieb. Was gab es da zu beobachten? Mit seinen runden Schultern – fast war es ein Buckel –, die er ihm hartnäckig zugewandt hielt (als wollte er streiken), schien er nicht nur seine Anwesenheit nicht bemerkt, sondern auch vergessen zu haben, daß er vor dem Aufbruch noch seinen Kaffee haben mußte und daß der Motor wie sonst auch, besonders aber im Winter, langsam, ohne Überstürzung, erst warmlaufen sollte.

Mitten im Hausflur stand, melancholisch-vertraut, seine alte dunkelblaue Aprilia, mit dem Kühler zur halboffenen Gittertür, die auf den Hof führte. Er ging um den Wagen herum und legte die Waffen auf der Truhe ab, die an der dem Treppenhaus gegenüberliegenden Wand stand; dann ging er zum Wagen zurück, öffnete die rechte Tür und setzte sich ans Steuer. Während er sich abmühte, den Motor in Gang zu bringen (der Anlasser wollte nicht gleich funktionieren, was natürlich an der Kälte lag, aber auch an der Batterie, die einfach zu alt war – wie der ganze Rest), wandte er nicht den Blick von Romeo, den er, eine starre, rätselhafte Gestalt, im Rückspiegel beobachtete. Seit fast dreißig Jahren, in denen Romeo seinen morgendlichen Aufbrüchen zur Fahrt aufs Land beiwohnte, hatte er sich noch nie so benommen. Hatte er sich plötzlich geärgert, daß er wieder wie einst noch vor Morgengrauen aufstehen mußte, noch dazu an einem Sonntag? Wollte er ihm das zu verstehen geben? Heutzutage war alles möglich. Dies hier war jedenfalls wieder etwas Neues und nicht besonders Angenehmes.

Endlich, nach einigem Stottern, sprang der Motor an. Behindert durch die Patronentasche, die er um den Leib gebunden trug, beugte er sich mühsam vor und suchte unter dem Armaturenbrett den Gashebel. Als er sich wieder aufrichtete, fand er sich zu seiner Überraschung Auge in Auge mit Romeo. Da stand er vor der Wagentür, leicht gebeugt, als habe er sich vor ihm verbeugt, und sah ihn an, mit einem Blick unter den schweren Lidern hervor, dem Blick einer alten Schildkröte.

»Kommen Sie auf einen Kaffee herein?« fragte er leise.

Er kannte doch den Charakter dieses Mannes durch und durch: Er war rauh, gelegentlich sogar mürrisch, aber von einer Anhänglichkeit und Treue, die jede Probe bestanden hatten. Es war also nicht nur ganz klar – und ihm wurde weit ums Herz, so erleichtert fühlte er sich –, daß Romeo nicht den geringsten Groll gegen ihn hegte, sondern mehr noch: Aus dem unbestimmten Ausdruck von Vergnügen, der um seine Augen zuckte, entnahm er – mochte seine Miene auch beherrscht und gleichmütig wie je sein –, wie froh und zufrieden er insgeheim war, daß er nach so langen Jahren das erstemal wieder auf die Jagd ging.

Er kletterte aus dem Wagen.

»Ist er schon fertig?« fragte er.

Romeo nickte. Mit einer Bewegung des Kinns auf die beiden Jagdgewehre weisend, fragte er, ob er sie im Kofferraum unterbringen solle.

»Wenn Sie mir den Wagenschlüssel geben, packe ich Ihnen das alles in den Kofferraum.«

»Das ist nicht nötig«, antwortete er, bemüht, den kühlen Ton und die gemessene Haltung zu wahren, die ihre Beziehung charakterisierten. »Legen Sie lieber alles auf den Rücksitz. Auch das hier, bitte.«

Er entledigte sich seiner Patronentasche und hängte sie ihm mit dem Riemen über den Arm; dann ging er mit raschen Schritten auf den Lichtschein zu, der durch den Türspalt drang.

Die Wohnung der Manzolis bestand aus drei ineinandergehenden Räumen, die alle in einer Reihe lagen: am einen Ende die Küche mit dem Fenster zum Hof hinaus, am anderen das Schlafzimmer, das auf die Via Mentana ging; dazwischen ein sehr geräumiges Zimmer, das die beiden Alten, nachdem sich ihre Tochter Irma verheiratet hatte und nicht mehr bei ihnen wohnte, mit hochglanzpolierten Serienmöbeln vollgestellt hatten, ohne es praktisch je zu benutzen. Seit jenem Vorfall in der Montina im April war es immer dasselbe gewesen: Er brauchte nur den Fuß in die Wohnung des Hausmeisters zu setzen – zumal in die Küche, die so sauber und ordentlich, so hell und, nicht zuletzt, so gut durchwärmt war von den glühenden Herdplatten –, und mit einem Schlag hob sich seine Stimmung. So war es auch diesmal. Hier, so stellte er, plötzlich wieder guten Mutes, fest, konnte man es sich wohl sein lassen, hier war er wirklich und wahrhaftig zu Hause! Auf die Manzolis konnte er sich verlassen!

Er setzte sich an den Tisch und begann, langsam den kochendheißen Kaffee aus der für ihn reservierten henkellosen Schale zu schlürfen (seinem Tassenkopf, wie Romeo sie nannte). Imelde indessen, das spitze Gesicht halb verborgen in den Falten ihres schwarzen Kopftuchs, wie es die Bauernfrauen im Delta trugen, hantierte eifrig weiter.

Über den Rand seiner Kaffeeschale hinweg verfolgte er aufmerksam jede ihrer Bewegungen.

Weder sie noch Romeo konnten Nives leiden. Mehr oder weniger unverhüllt mißbilligten sie alles an ihr, und diese Mißbilligung und Ablehnung erstreckte sich auch auf Ragionier Prearo, die Köchin Elsa und sogar auf Rory, mit anderen Worten auf alles und jeden, der nach dem Jahre 1938 in das Haus in der Via Mentana Nummer zwei gekommen war. Wenn sie von Nives sprachen, nannten sie nie ihren Namen; sie bezeichneten sie ihm gegenüber regelmäßig als Ihre Frau, während die wahre, die einzige Herrin des Hauses die Signora Erminia, seine Mutter, blieb und Lilla, der dreijährige Zwergpudel, der seiner Mutter sogar im Bett Gesellschaft leisten durfte, das einzige Baby im Hause, das man nach Strich und Faden verwöhnen mußte. An Nives aber ließen sie nichts Gutes. Er brauchte nur auf einen Augenblick zu ihnen hereinzukommen, und schon begannen sie mit den üblichen Beschwerden.

Vor kurzem zum Beispiel hatten sie ihm von der Angewohnheit seiner Frau berichtet, von der Einrichtung der Sprechanlage keinen Gebrauch mehr zu machen, sobald er nicht im Hause war. Das bedeutete, daß aus kleinstem Anlaß sie oder Elsa an einem der Hoffenster erschienen und sich, was sie sich mitzuteilen hatten, mit einer Lautstärke zuschrien, daß es selbst auf dem Hof der großen Mietskaserne in der Via Mortara nicht lauter zugehen konnte … Und jetzt? fragte er sich und senkte die Lider, als könnte er dadurch leichter aus dem unendlichen Vorrat seiner Geduld schöpfen. Was würde er also jetzt über seine Frau zu hören bekommen? Sicher hatte Imelde etwas auf dem Herzen.

Er schlug die Augen wieder auf.

»Was gibt es denn?« fragte er.

Aber er hatte sich wieder geirrt; auch diesmal hatte er falsch vermutet. Imelde hatte rotgeweinte Augen und führte fortwährend das Taschentuch an ihre Nase. Aber kaum trat Romeo vom Hausflur aus in die Küche, als sie plötzlich begann, einen gewissen William laut zu verwünschen, diesen Tagedieb und Kommunisten, der zwar sein Diplom als Elektrotechniker gemacht, aber keine Lust zur Arbeit hatte und alles Geld im Bordell verjubelte. Er lebte mit seiner Frau praktisch auf ihre Kosten, auf Kosten ihrer armen alten Eltern!

Er wandte sich Romeo zu.

»Wer ist dieser William?« fragte er.

»Irmas Mann«, antwortete er lakonisch und beugte den Kopf, so daß das Licht auf sein silbernes Haar fiel.

Einen Augenblick verstand er nichts. Es war, als wolle sich ihm das Gedächtnis versagen, um so seine Ruhe zu verteidigen.

Aber dann kam die Erinnerung.

Richtig, der Mann, der die Tochter der beiden geheiratet hatte. Wie konnte er das nur vergessen haben? Es war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, erinnerte er sich – schmächtig, schmutzigblond, von gewandter Ausdrucksweise und guten Manieren; es war noch nicht lange her, daß er ihn ziemlich häufig zwischen Hof und Hausflur herumlaufen sah und daß sich der junge Mann einmal sogar nicht nur erboten hatte, ihm das Auto zu waschen, sondern sich auch geweigert hatte, irgend etwas dafür anzunehmen. Kommunist? Das konnte sehr gut stimmen. Um auf diesen Verdacht zu kommen, brauchte man sich nur sein Gesicht mit den hageren, bleichen Wangen anzusehen, das wie verzehrt schien von einer Art Gier und weiß Gott welchem geheimen Groll. Und man brauchte ihm nur zuzuhören, wie er sich in seinem Radio-Italienisch ausdrückte, glatt und ungezwungen, gewiß, aber auch wenig vertrauenerweckend. Das erstaunliche aber war, daß gerade Irma, ein so sanftes, feines und anständiges Mädchen, das in der Nähschule der Schwestern der Via Borgo di Sotto erzogen worden war und das rot wurde, sobald jemand, ich sage nicht, das Wort an sie richtete, sondern ihr nur auf der Straße begegnete und sie grüßte – daß gerade sie sich von einem Menschen dieses Schlages hatte betören lassen.

Und jetzt war Irma im sechsten Monat, wie ihm Imelde erklärte, und trotzdem mußte sie ihrem Nichtsnutz von Mann das Geld für sein ausschweifendes Leben besorgen, indem sie von früh bis spät als Hausschneiderin arbeitete …

Obwohl er sich immer unbehaglicher fühlte, blieb er auf seinem Platz sitzen und konnte sich nicht zum Aufbruch entschließen. Er sah auf die Uhr: fünf Uhr fünfunddreißig. Ulderico hatte sich am Telefon sehr bestimmt ausgedrückt: Der Mann, den er ihm als Jagdbegleiter vermittelt hatte und der ihn im Boot von Lungari di Rottagrande bis zu seiner Tonne bringen sollte (ein gewisser Gavino, wenn er richtig verstanden hatte), würde ab sechs Uhr fünfzehn in Volano auf ihn warten, vor dem Tuffanelli-Haus. – Fünf Uhr fünfunddreißig. Es war ausgeschlossen, daß er die Verabredung um Viertel nach sechs einhalten konnte. Nicht vor halb, spätestens dreiviertel sieben würde er da sein. Zu schweigen davon, daß man, soweit er sich erinnern konnte, vom Tuffanelli-Haus bis Lungari di Rottagrande wenigstens zu einem Drittel um die Valle Nuova herumfahren mußte, was noch eine gute halbe Stunde mehr bedeutete. Kurz und gut, wenn alles glattging, konnte er frühestens Viertel nach sieben oder halb acht in die Tonne steigen, das hieß, bei hellem Tageslicht. Aber auch das nur unter der Voraussetzung, daß er unverzüglich aufbrach.

Er blickte wieder auf die Uhr, um sich selbst zur Eile anzutreiben und die Kraft zum Aufbruch zu finden. Umsonst. Eine unsägliche Trägheit, die stärker war als jede Willensanstrengung, hielt ihn auf dem strohgeflochtenen Küchenstuhl, als sei er an ihn festgebunden. Wenn er doch, allem zum Trotz, hier in der behaglichen Wärme der Hausmeisterwohnung bis zum Abend bleiben dürfte, ohne daß es jemand im Hause oder überhaupt jemand wußte! Dafür hätte er alles gegeben.

Er hob den Kopf und sah Imelde an.

»Aber nun erklären Sie mir doch einmal«, sagte er, »warum Ihr Schwiegersohn nicht arbeiten will.«

Imelde zuckte die Achseln. »Was weiß ich«, sagte sie. Nur etwas wisse sie genau, fuhr sie fort, daß ihr Schwiegersohn den ganzen Tag im Bett liege, und wenn ihre Tochter es sich etwa herausnehmen sollte, ihm deshalb Vorwürfe zu machen, er imstande wäre, sie zu prügeln, dieser Spitzbube von einem Kommunisten!

Dies sei die Wahrheit, beteuerte sie. Dafür bürgten ihnen allein die Gesichter der beiden, von kaum zurückgehaltener Wut verzerrt das seine, und erst recht das Gesicht ihrer Tochter mit den Augen der Frau, die zum Opfer bestimmt ist – und damit vielleicht obendrein insgeheim einverstanden ist.

Verwirrt machte er Anstalten aufzustehen.

»Wenn er nicht arbeitet«, gab er zu bedenken, »ist der Grund vielleicht, daß er keine Arbeit findet.«

»Ach was«, mischte sich Romeo ein und schüttelte den Kopf. »Er hat einfach keine Lust, etwas zu tun.«

»Aber warum lassen Sie dann nicht Ihre Tochter –« und damit wandte er sich an Imelde, »wieder zu Ihnen kommen?«

Imelde seufzte. Sie habe es ihrer Tochter unzählige Male vorgeschlagen, sagte sie. Aber Irma sei hart, härter als Stein. Sie wollte nicht einmal davon reden hören.

»Sie ist verliebt«, schloß sie und verzog die dünnen Lippen zu einer Grimasse der Verachtung.

Verliebt, selbstverständlich – wie er übrigens bereits vorher verstanden hatte. Und jetzt war auch die Küche der Manzolis plötzlich unbewohnbar für ihn geworden, auch sie ein Ort, den er zu räumen hatte. Und das sofort.

In dem Schweigen, das den letzten Worten Imeldes folgte (vom Hausflur drang durch die Mauern nur gedämpft das Brummen des Motors seiner Aprilia), blickte er wieder auf die Uhr. Fünf Uhr zweiundfünfzig.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte er, umklammerte mit beiden Händen die Tischkante, richtete sich auf und machte die ersten Schritte. Und als Imelde ihm nachkam und ihn anflehte, doch irgend etwas für ihre Irma zu tun (wenn er vielleicht ihren Schwiegersohn einmal zu sich bestellte und ein Wort mit ihm redete – wer weiß, ob der Unglücksmensch dann nicht doch zur Einsicht kam und sein Leben änderte?), antwortete er nur mit einem mal sehen, das, wie er selbst am besten wußte, überhaupt nichts bedeutete.

Diesen Kerl sollte er zu sich bestellen, fragte er sich, während er auf den Hausflur trat und auf seinen Wagen zuging, und ein Wort mit ihm reden? Wenn er sich vorstellte, er sollte sich mit dem jungen Elektriker mit dem totenblassen Gesicht unterhalten, überkam ihn eine Art Widerwille. Ein Widerwille, in den sich Furcht mischte.

Er setzte sich ans Steuer, schaltete die Scheinwerfer ein. Mit einer winkenden Bewegung der Hand den respektvollen Gruß Romeos erwidernd, der das Manöver Schritt für Schritt bis auf die Straße hinaus verfolgt hatte und ihn nun, das dünne Licht der Einfahrt im Rücken, vom Rand des Bürgersteigs her stumm ansah, wechselte er den Gang und fuhr los.

4

Er konnte es kaum erwarten, Codigoro hinter sich zu lassen. Während der ganzen Fahrt von der sogenannten Prospettiva, dem Triumphbogen auf dem Corso Giovecca bis zum Stadtrand von Codigoro hatte er die Augen fast nur auf die Straße vor sich gerichtet gehabt. In Volano wartete ja bereits der Mann mit dem Boot, also mußte er sich beeilen. Aber davon abgesehen, war es so, daß er erst, wenn er über Codigoro und Pomposa hinausgekommen wäre und wenn sich im ungenauen Licht der Dämmerung nach und nach die verlassene Landschaft der Niederung abzeichnete, nur unterbrochen von ausgedehnten Flächen scheinbar stehender Gewässer – scheinbar, denn in Wirklichkeit standen sie mit dem Meer in Verbindung –, daß er erst dann sich wohl zu fühlen begänne und wieder aufatmete.

Aber gerade als er die Peripherie von Codigoro erreicht hatte und im Begriff stand, nach etwa hundert Metern in die glatte Umgehungsstraße einzubiegen, zwang ihn plötzlich ein jäher Schmerz in der Gürtelgegend, dem eine Sekunde zuvor ein leichtes Herzklopfen vorangegangen war, sich über das Steuerrad zu beugen.

»Ein Glück, daß es jetzt kommt«, brummte er vor sich hin, während er von unten mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe auf die beiden Schornsteine der Zuckerfabrik Eridania sah und auf den nicht weit davon entfernten Schornstein der Pumpwerke des Consorzio Bonifiche.

Er kannte sich. Höchstens zehn Minuten würde er aushalten können, länger nicht. Würden sie genügen?

Im Licht der ersten, in weiten Abständen aufeinanderfolgenden Straßenlaternen, die im Wind heftig über dem ländlichen Kopfsteinpflaster schaukelten, blickte er auf die Uhr. Sechs Uhr vierzig. Um diese Zeit würden die beiden Cafés an der Piazza gewiß die Jalousien schon aufgezogen haben. Um so mehr ein Grund, zunächst auf die Weiterfahrt nach Volano zu verzichten und lieber hier, in Codigoro, haltzumachen. Wenn er es erst einmal geschafft hatte, bis zur Piazza zu kommen, dann war er gerettet.

Geradeaus fahrend, erreichte er in wenigen Augenblicken das Zentrum und die Piazza. Nirgends ein Licht – er sah es sofort, in seiner Erwartung enttäuscht, gewiß, und doch absurderweise zugleich mit einer Spur von Erleichterung – weder in den beiden gegenüberliegenden Cafés auf der rechten Seite noch in dem zehnstöckigen Gebäude des Nationalen Versicherungsinstituts, der I.N.A., auf der anderen Seite, in dem Ulderico mit seiner Familie wohnte, noch in irgendeinem der anderen großen und kleinen Häuser an der Piazza. Alles geschlossen, alles dunkel. Nirgends eine Menschenseele.

Er fuhr auf die linke Seite des Platzes, um dort, vor dem großen Gebäude der früheren Casa del Fascio, aus der heute eine Kaserne der Carabinieri geworden war, zu parken. Er stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus, stieg aus und schloß in aller Ruhe die Wagentür ab. Codigoro. Die Piazza von Codigoro. Seit rund zehn Jahren, seit dem Jahr 1938, war er nicht mehr zu so früher Stunde hier gewesen. Aber einen so menschenleeren Platz hatte er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie gesehen. Was hatte wohl eine solche Verlassenheit bewirkt? War es der kommunistische Terror, fragte er sich mit einem spöttischen Grinsen. Oder einfach Weihnachten?

Es war nicht kalt; und vom Wind war zumindest in dieser Ecke so gut wie nichts mehr zu merken. Seltsam – auch die Leibschmerzen hatten aufgehört. Aus dem Schatten des Laubengangs vor dem Versicherungsgebäude kam ein Hund, ein Pointer, nach seinem Gang zu urteilen. Er sah, wie er ins Freie kam und zur Mitte des Platzes hinlief (ja, es war ein alter Vorstehhund), wo er vor dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs haltmachte, gründlich am Sockel schnüffelte, bevor er das Bein hob, um dann in langsamem Trab nach rechts hin, in einer Gasse, zu verschwinden. – Und wenn er es bei Bellagamba versuchte, überlegte er, nun wieder allein auf dem Platz. Möglich, daß auch der Bosco Elìceo noch nicht geöffnet hatte, zugegeben. Andererseits aber konnte er sich schlimmstenfalls an die Glocke hängen, da es ja immerhin auch ein Hotel war (wenn er auch persönlich dort noch nie übernachtet hatte; aber er hatte des öfteren gehört, daß es oben Zimmer für Gäste gab).

Er öffnete den Kofferraum, entnahm ihm eine graue Astrachanmütze (ein altes Stück, das er schon als junger Mensch getragen hatte, zur Jagd in den Valli ebenso wie zum Skilaufen im Gebirge), die er sich nun auf den Kopf stülpte, und ging dann die etwa zwanzig Meter bis zur Ecke, die das einstige Parteihaus, die heutige Carabinieri-Kaserne, mit der nächsten Querstraße bildete. Er spähte zum Bosco Elìceo hinüber: Nein, er hatte sich nicht getäuscht, auch er war noch geschlossen. Also würde ihm tatsächlich nichts übrigbleiben, als so lange zu läuten, bis man ihm aufmachte. Denn hier haltmachen mußte er unter allen Umständen; also blieb ihm keine Wahl.

Aber als er dann vor den herabgelassenen Rolladen stand, über seinem Kopf das leuchtende Neonschild, da genügte die Vorstellung, plötzlich von Angesicht zu Angesicht Bellagamba gegenüberzustehen – es war ja keineswegs ausgeschlossen, daß er ihm selbst die Tür öffnete –, um ihn doch noch zurückzuhalten.

Er erinnerte sich an Bellagamba aus den Jahren 1938 und 1939, als er die Uniform eines Korporals der faschistischen Miliz trug (Gino hieß er, wenn er sich nicht irrte, Gino Bellagamba), den Fes in den glattrasierten Stiernacken geschoben, so daß ihm die schwarze Quaste halb über den Rücken hing. Er erinnerte sich an seine Physiognomie: Man dachte an einen ländlichen Bramarbas, der dank der Ereignisse wieder in den aktiven Dienst eingestellt worden war. Fast den ganzen Tag stand er auf der Piazza, wie ein Wachhund, genau vor der Casa del Fascio. Er erinnerte sich der drohenden, verachtungsvollen Blicke, mit denen er damals auch ihn bedacht hatte, weil er Jude war, weil er unpolitisch war und weil er Grundbesitzer war, wenn er auf dem Weg in die Montina durch Codigoro kam und das Pech hatte, ihm über den Weg zu laufen … Nein, diesem Mann plötzlich gegenüberzustehen, mit dem er übrigens in seinem ganzen Leben noch nie ein Wort gewechselt hatte, und ihn darum bitten zu müssen – nämlich um die Erlaubnis, seine Toilette zu benutzen –, das würde alles andere als angenehm für ihn werden. Er war nahe daran – wenn es nur ein bißchen später wäre – kehrtzumachen und bei seinem Vetter Ulderico zu läuten.

Und wohin sonst hätte er gehen können? Und übrigens, lohnte es sich, offen gesagt, wirklich, es sich selbst so schwerzumachen? Er hatte es seinerzeit immer vermieden, die Mitgliedskarte der Faschistischen Partei zu erwerben (nicht weil er je dagegen gewesen wäre, um die Wahrheit zu sagen, sondern nur so, aus jenem gewissen Zug seines Charakters heraus: dem Mangel an sozialem Empfinden); in dieser Hinsicht hatte er es anders gemacht als Ulderico, der es sich nicht zweimal hatte sagen lassen, als man ihm im Jahre 1932 die Mitgliedschaft anbot; er hatte sofort zugegriffen. Aber, wenn man es recht bedachte, waren die Faschisten von vor 1943 wirklich so viel schlechter als die Kommunisten von heute? Und die heutigen Gewerkschaften, eingerichtet als Zentren der Anmaßung und der Übergriffe gegen den, der etwas hatte, waren sie vielleicht besser als die faschistischen Organisationen? Im Falle Bellagambas allerdings stimmte vielleicht sogar, was Nives behauptete: daß er sich nach dem Zwischenspiel Badoglios zu den Faschisten von Salò geschlagen hatte. Durchaus möglich. Aber wenn selbst die Kommunisten, die heute die absoluten Herrscher von Codigoro waren, ihn in Ruhe ließen, warum sollte da ausgerechnet er Geschichten machen? Außerdem war es ja bekannt, daß Nives die Manie hatte, ihren Landsleuten eins auszuwischen. Dazu war ihr jede Gelegenheit recht …

Während er so noch dastand, unschlüssig, aber auch in Unruhe wegen der beiden Jagdgewehre, die er für jedermann sichtbar auf dem Rücksitz seines Autos hatte liegenlassen (vielleicht sollte er doch lieber sofort zurückgehen und die Flinten zusammen mit der Patronentasche in den Kofferraum schließen), glaubte er auf einmal, aus dem Innern des Lokals Geräusche zu hören. Es war ein Ächzen, Stöhnen und Knarren, als ob da drinnen jemand mit großer Anstrengung Möbel rückte.

Er wartete eine Pause ab; dann klopfte er bescheiden mit den Knöcheln an das Wellblech.

Eine Stimme fuhr ihn an, laut, zornig und doch zugleich auch Angst verratend:

»Wer ist da?«

»Ich«, antwortete er leise.

»Wer ist ich?«

Er zögerte. Er hörte da drinnen Schritte näher kommen, die schließlich stockten.

»Limentani«, sagte er.

»Wer?«

»Li-men-ta-ni«, wiederholte er, ohne die Stimme zu erheben und plötzlich verwundert über seinen eigenen Namen und darüber, wie fremd die Silben im Freien widerhallten.

Mit einem Ruck wurde der Rolladen hochgezogen.

Es war wirklich Bellagamba; er erkannte ihn gleich; er war nur noch stärker, dicker und stierhafter geworden. Unter dem Unterhemd zeichnete sich seine Brust wie die einer Frau ab. Jäh von seinem alten Widerwillen gepackt, war er drauf und dran, sich umzudrehen und wieder zu gehen. Vielleicht war jetzt noch Zeit dazu.

Aber es war schon zu spät. Der andere riß die Augen auf (hellblaue Augen); er hatte ihn erkannt.

»Das ist aber eine Überraschung!« erklärte er mit gedämpfter Stimme.

Er lächelte ihm zu, wie von der Freude übermannt, wobei er seine kleinen kräftigen Boxerzähne zeigte.

»So eine Überraschung!« wiederholte er. »Aber wissen Sie, Herr Rechtsanwalt«, fuhr er flüsternd fort und blinzelte ihm, höflich beiseite tretend, komplizenhaft zu, »wissen Sie, daß Sie mir beinahe einen Schrecken eingejagt haben? Aber kommen Sie doch herein, ich bitte Sie! Es ist kalt draußen. Treten Sie näher!«

Alles hätte er erwartet, nur nicht diesen herzlichen und so wortreichen Empfang (merkwürdig: Auch Bellagamba sprach wie jener William, der Mann Irma Manzolis, ein gewandtes, flüssiges, korrektes Italienisch). Wie dem auch sei, er war darüber nicht glücklich. Fast wäre ihm ein schlechter, feindseliger Empfang noch lieber gewesen, bei dem es ihm überlassen geblieben wäre, dann die Rolle des großmütig Verzeihenden, des vornehmen Herrn zu spielen, der über gewisse Dinge hinwegsieht. Und was sollte diese Pose des Mitverschworenen, in der sich Bellagamba gefiel? Rechnete er etwa damit, er könne ihn, wenn er ihn erst einmal in seine Höhle gezogen hatte, dazu bewegen, mit ihm gemeinsam den schönen Zeiten des faschistischen Imperiums oder gar der Republik von Salò nachzuweinen? Sicher wußte auch Bellagamba so gut wie jeder andere in Codigoro genau, was ihm im vergangenen April in der Montina zugestoßen war. Aber wenn er sich jetzt vielleicht einbildete, er würde bei ihm seinem Herzen Luft machen, dann hatte er sich gründlich geirrt. Er hatte gegen niemanden etwas, und schon gar nichts gegen Bellagamba. Aber, wohlverstanden, keine plumpen Vertraulichkeiten!

Indessen war er eingetreten, übrigens mit dem Gefühl – vielleicht auch des ungemein starken Geruchs nach gebratenem Fisch wegen, der ihm schon auf der Schwelle schier den Atem benahm –, tatsächlich in eine Höhle zu kommen, in den Bau eines wilden Tieres. Er nahm seine Pelzmütze ab und sah sich um. Er befand sich in einem mittelgroßen, saalartigen Raum, der in fast vollkommene Dunkelheit getaucht war. Nur an der dem Eingang gegenüberliegenden Seite verbreitete auf einer Art Katheder eine Tischlampe mit grünem Seidenschirm ein wenig Licht.

Das Katheder war freilich, wie er bald begriff, nur die Rezeption des Hotels; alles funkelnagelneu. Hinter dem Tisch, an der Wand, hingen an numerierten Haken, die in doppelter Reihe in der frisch gekalkten Wand angebracht waren, zehn oder zwölf Schlüssel. Mehr konnte er in dem schwachen Lichtschein nicht erkennen, aber es genügte ihm. Ihm genügte der Tisch der Rezeption mit den Schlüsseln an der Wand, um sich bewußt zu werden, wie wenig dieses Lokal, das der einstige Korporal der faschistischen Miliz zu einem Restaurant und Hotel gemacht hatte, der anspruchslosen ländlichen Schenke glich, wie sie in seiner Erinnerung existierte.

Bellagamba war zurückgeblieben. Er hörte ihn leise fluchen: Der Rolladen wollte sich nicht wieder herunterziehen lassen. Dazwischen rief er ihm in Abständen zu, ja vorsichtig zu sein. Auf dem Fußboden stehe eine erst halb geöffnete Kiste mit etwas Schwerem darin – einer Schnellwaage; sie war gestern abend mit der Post aus Mailand gekommen. Er möge also aufpassen, daß er nicht darüber stolperte und sich weh tat.

Aber schließlich kam auch Bellagamba. Er ging an ihm vorbei, nicht ohne ihn versehentlich anzustoßen und ihn in dem Augenblick, in dem er ihn streifte, mit dem Geruch seiner Achselhöhlen zu belästigen. Hinter der Bank der Rezeption drehte er einen neben den Schlüsseln befindlichen Schalter an. Dann saßen sie sich endlich bei dem nicht sehr hellen Licht einer großen Neonröhre gegenüber, die in der Mitte der Decke angebracht war, er in einem kleinen Sessel aus Kunstleder und Bellagamba sozusagen in seinem Büro, die breite Kieferpartie wie halbiert von dem gelben Licht der Lampe auf der Tischplatte vor ihm.

Mehr denn je mit dem Gefühl, sich außerhalb der Welt zu befinden, wußte Edgardo nicht, wie beginnen. Irgend etwas zu sich zu nehmen kam nicht in Frage. Er hatte das Empfinden, daß sich sein Magen wie eine Faust geschlossen hatte.

Doch Bellagamba kam ihm zu Hilfe.

»Aber was hat Sie«, fragte er in einschmeichelndem Ton und auf einmal in den Dialekt übergehend, wobei er die wasserhellen Augen halb schloß, »entschuldigen Sie, was hat Sie in diese Gegend verschlagen? Sind Sie vielleicht zur Jagd nach Codigoro gekommen?«

Angesichts seiner Kleidung erübrigte sich die Frage eigentlich. Aber der Ton, in dem sie gestellt worden war, einschmeichelnd und demütig – der Ton, in dem sich noch vor ein paar Jahren ein Bauer auf seinem Besitz an ihn hätte wenden können –, dieser Ton gab ihm ein Minimum an Selbstvertrauen zurück.

Er nickte.

»Ja«, bestätigte er dann. Tatsächlich sei er aus diesem Grunde gekommen – um ein paar Schüsse abzugeben. Aber ob er dazu noch kommen würde, fügte er in fragendem Ton hinzu und zweifelte plötzlich wirklich daran. Er habe sich verspätet, fuhr er fort. Um diese Zeit habe er längst in Volano sein wollen, ja schon um Viertel nach sechs. Wohingegen es jetzt (und er schob mit einem Finger den Ärmel zurück und warf einen Blick auf seine Armbanduhr) bereits nach sieben sei.

Endlich entschloß er sich.

Mit einem suchenden Blick rundum stand er auf.

»Dürfte ich einen Augenblick die Toilette aufsuchen?« fragte er.

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