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1.2 Konfessionskundliche Systematisierung

Die christlichen Kirchen sind Gegenstand der KonfessionskundeKonfessionskunde. Da diese versucht, wertneutral vorzugehen, ist bereits die Anordnung des Gegenstands eine zentrale Frage.

Der ÖRKÖkumenischer Rat der Kirchen (ÖRK) bezeugt seine Neutralität, indem er seine Mitgliedskirchen in alphabetischer Reihenfolge auflistet. Diesem Beispiel könnte eine KonfessionskundeKonfessionskunde folgen. Allerdings ist dieses lexikalische Vorgehen wenig geeignet, um die Zusammengehörigkeit bestimmter Kirchen zu zeigen, die ein leichteres Verstehen ihrer selbst ermöglicht.

Ein historischer ZugangZugangHistorisch?Konfessionskundliche Darstellungen wählen meist einen historischen ZugangZugangHistorisch, um die gewachsenen Beziehungen zwischen den Kirchen deutlich zu machen. Dieser ZugangZugang hat den Vorteil, eine klare, durch die Chronologie strukturierte Gliederung zu bieten. Problematisch dabei ist allerdings, dass bestimmte Kirchen anderen Kirchen historisch vorgeordnet werden, obwohl dies dem Selbstverständnis der zeitlich nachrangig behandelten Kirchen widerspricht. Werden z.B. die protestantischen Kirchen der Römisch-katholischen Kirche nachgeordnet, erweckt das den Eindruck, dass diese erst seit dem 16. Jahrhundert existierten, während die Römisch-katholische Kirche älter sei. Aber auch die protestantischen Kirchen berufen sich in ihrem Selbstverständnis auf die ersten Zeugen Jesu. Sie wollen gerade keine neue Kirche darstellen, sondern die Überlieferung der alten Kirche bewahren. Umgekehrt hat auch das Argument Gültigkeit, dass die Römisch-katholische Kirche in ihrer heutigen Gestalt das Ergebnis einer Entwicklung des 16. Jahrhunderts ist, da sie ihren Anfang als dezidiert römisch-katholische Kirche auf dem KonzilKonzil / Konziliarismus von TrientKonzil / KonziliarismusKonzil von Trient nimmt.

Weiterhin ist fraglich, welche Kirche(n) als älteste Kirche(n) angenommen werden sollte(n): die altorientalischen Kirchen oder die (Römisch-)katholische Kirche? Und auf welche Zeit sind deren jeweilige Anfänge zu datieren?

Außerdem steht bei einer historischen Betrachtung meist die Vorstellung im Hintergrund, dass es ältere Kirchen gibt, von denen sich jüngere abgespaltet hätten. Der negativ besetzte Begriff der Spaltung beinhaltet aber eine deutliche Wertung. Deshalb ist es zutreffender, von gelungenen Manifestationen kirchlicher PluralitätPluralität – Pluralisierung zu sprechen.

Der historische ZugangZugangHistorisch beruht letztlich auf der Vorstellung einer Kirche, die sich in verschiedene Zweige ausdifferenziert hat. Dabei wird aber die geglaubte Kirche des BekenntnissesBekenntnis implizit in die Wirklichkeit eingetragen und historisch verrechnet. Die Einsicht in die PluralitätPluralität – Pluralisierung des Christentums, das von Anfang an so vielfältig wie seine verschiedenen Zeugen und die daraus resultierenden Textcorpora ist, verbietet eine solche Vorstellung. Durch die Akzeptanz der dem Christentum genuin inhärenten Pluralität wird nicht nur die Vorstellung einer linearen Entwicklung und Ausdifferenzierung des ChristentumsAusdifferenzierung (des Christentums) verstellt, sondern auch die Zielvorstellung einer ÖkumeneÖkumene, die glaubt, eine Einheit des Christentums (wieder-)herstellen zu müssen.

Eine historische Anordnung der christlichen Kirchen ist aufgrund der genannten Aspekte für die KonfessionskundeKonfessionskunde schwierig, obwohl sie gleichfalls die historischen Prozesse, die zur Manifestation kirchlicher Gemeinwesen geführt haben, stets in die Betrachtung einbeziehen muss.

Ein quantitativer ZugangZugangQuantitativ?Ein weiterer ZugangZugang zum Gegenstand der KonfessionskundeKonfessionskunde kann anhand der Größe der Kirchen erfolgen. Die Kirche, die die meisten Mitglieder zählt, wäre am Anfang zu behandeln und so ergäbe sich eine Reihenfolge. Allerdings haben manche Kirchen (insbesondere die der → Pfingstbewegung und anderer christlichen BewegungenBewegung(en)) kein Interesse an der Erhebung von Mitgliederzahlen oder verfügen über keine Möglichkeiten, ihre Gläubigen statistisch zu erfassen. Generell können Mitgliederzahlen für viele Kirchen immer nur – mehr oder minder grob – geschätzt werden.

Die bisher besprochenen Varianten von Ordnungssystemen für die Betrachtung der christlichen Kirchen erweisen sich also als zu eng geführt. Unbefriedigend scheinen sie aber vor allem deshalb, weil sie keinen theologischen Zugriff bieten. Im Hinblick auf das Fach KonfessionskundeKonfessionskunde als Disziplin der Theologie ist gerade das bedauerlich. Diesem Mangel will die vorliegende Konfessionskunde abhelfen und ein dezidiert theologisches Kriterium als Ordnungsprinzip des Gegenstands einführen.

Ein theologischer ZugangZugangTheologischWieder ist beim BekenntnisBekenntnis einzusetzen: Es besagt, dass jede Kirche von sich behauptet, apostolisch zu sein. Die ApostolizitätApostolizität ist laut GlaubensbekenntnisGlaubensbekenntnis neben der Einheit, der Heiligkeit und der Katholizität ein Merkmal der Kirche.

Die ApostolizitätApostolizität dient der vorliegenden KonfessionskundeKonfessionskunde als Richtschnur, die es erlaubt, die verschiedenen Kirchen in theologischer Perspektive zu verstehen und zu ordnen. Sie bietet sich in besonderer Weise an, da sie im Gegensatz zu den anderen Kennzeichen der Kirche – Einheit, Heiligkeit und Katholizität – unterschiedlich realisiert wird.

Die Einheit der KircheKircheEinheit der Kirche ist durch ihre Bindung an den einen Gott und einen Herrn Jesus ChristusJesus Christus gegeben (1.Kor 8,6). Die geglaubte Kirche kann demnach nicht geteilt werden. An diesem Punkt ist keine unterschiedliche Realisierung möglich.

Die Heiligkeit der KircheKircheHeiligkeit der Kirche folgt gleichfalls aus der Beziehung der Kirche zu Gott. Die Kirche ist heilig, weil Gott sie berufen und aus der Welt erwählt hat, letztlich weil Gott selbst heilig ist. Die Heiligkeit der Kirche ergibt sich nicht aus ihr selbst, sondern wird durch Gott garantiert. Dies kann daher gleichfalls nicht zu einem Unterscheidungsmerkmal der irdischen Kirchen dienen.

Die Katholizität der KircheKircheKatholizität der Kirche beruht auf der Einsicht in den universellen Auftrag der Kirche. Sie ist nicht beschränkt auf ein bestimmtes Volk oder ein bestimmtes Land. Sie ist ihrem Wesen allumfassend, weil Gott der Gott aller Menschen sein will. Deshalb hat sie einen globalen Anspruch. Durch diesen Wesenscharakter von Kirche kann auch die Katholizität kein Unterscheidungsmerkmal von Kirchen sein.

1.3 Die Realisierung der ApostolizitätApostolizitätRealisierung der Apostolizität als ZugangZugang der KonfessionskundeKonfessionskunde

Da der Begriff des ApostelsApostel im Neuen TestamentNeues Testament unterschiedlich bestimmt wird, ist eine historische Herleitung des Zusammenhangs von Kirche und Aposteln im Detail schwierig. Klar ist aber, dass die Kirche aufgrund der Verkündigung der ersten Zeugen Jesu entstand. Laut Paulus, der sich selbst als Apostel sah (Röm 1,1), kommt der Glaube aus dem Hören der Verkündigung (Röm 10,17). Diese Verkündigung der ersten Christen war das Fundament jeder christlichen Gruppierung. Deshalb sind die neutestamentlichen Texte als schriftlicher Niederschlag dieser Verkündigungstätigkeit die zentrale Quelle der christlichen Heilserschließung. Laut Eph 2,20 ist die Kirche demnach auf dem Grund der Apostel und ProphetenProphet erbaut. Apostolisch ist die Kirche also, weil sie von den Aposteln abstammt und auf deren Zeugnis aufbaut.

Bei dem Zusammenhang von Kirche und ApostelnApostel lassen sich drei Typen der apostolischen Nachfolge ausmachen, die sich als theologisches Ordnungsmerkmal einer KonfessionskundeKonfessionskunde eignen. Kirchen teilen im Grunde das gleiche Anliegen, ihre ApostolizitätApostolizität realisieren zu wollen, verwirklichen dieses Anliegen aber unterschiedlich.

Das Bemühen um kirchliche KontinuitätKontinuitätDeutlich ist bei jeder Kirche das Bemühen um KontinuitätKontinuität mit den eigenen Ursprüngen. Dass alle Kirchen den ApostelnApostel nachfolgen, ist nicht strittig. So besagt das „Apostolische“ in seinem Kern, dass die Kirchen heute die gleiche Botschaft verkündigen wie die ersten Zeugen des auferstandenen Christus. Dieses Bestreben zeigt sich bereits im Neuen TestamentNeues Testament selbst. Prominent bezeugt der Prolog des Lukasevangeliums, dass die Augenzeugen Jesu und die Diener des Wortes diejenigen sind, auf denen das EvangeliumEvangelium fußt (Lk 1,1–4). Die Dignität der Zeugen der göttlichen OffenbarungOffenbarung in Jesus ChristusJesus Christus verbürgt die Botschaft, die festgehalten werden soll. Es geht um die ,Nachfolge der Apostel‘, um die apostolische SukzessionSukzessionApostolische SukzessionApostolizitätApostolische Sukzession, und damit um die ApostolizitätApostolizität der KircheKircheApostolizität der Kirche, die verschieden realisiert wird.

Typ 1: Die personelle SukzessionSukzessionPersonelle SukzessionDer erste Typus der Nachfolge bildete sich historisch in den Streitigkeiten der ersten Jahrhunderte heraus. Um die „richtige“ Lehre zu bewahren, die allerdings immer wieder für jede Zeit neu ausgesprochen werden muss, greifen Theologen kein inhaltliches Kriterium der apostolischen Lehre heraus, sondern beziehen sich auf die Träger der Überlieferung. Die personelle Nachfolge wird zum Garant der Wahrheit. Über das, was überliefert wurde und wird, lässt sich streiten, aber nicht über den, der es überliefert. Die Integrität der Zeugen wird zum Kriterium der Wahrheit, die personelle AutoritätAutorität gewährleistet – wie es schon der Begriff Autorität ursprünglich besagt – die Zuverlässigkeit der Botschaft. Hier wird also ein ganz bestimmter Typ der apostolischen Nachfolge etabliert: die personelle Nachfolge im AmtAmt der ApostelApostel. Kirchen, wie die Orthodoxe, die Römisch-katholische und die Anglikanische halten für ihr Kirchenverständnis an diesem Typus fest. Ihr Kirche-Sein wird bedingt – unterschiedlich ausdifferenziert – von dieser NachfolgeNachfolgeSukzession im Amt.

Typ 2: Die inhaltliche SukzessionSukzessionInhaltliche SukzessionDer zweite Typus, der die apostolische SukzessionSukzessionApostolische SukzessionApostolizitätApostolische Sukzession bewahren will, negiert diese personelle Nachfolge nicht gänzlich, macht sie aber nicht zum Kriterium der Wahrheit oder der Funktionsfähigkeit kirchlicher ÄmterAmt. Das Kirche-Sein wird nicht bedingt von einer mehr oder weniger ausweisbaren personellen SukzessionSukzessionPersonelle Sukzession, sondern vom Bleiben in der Wahrheit des EvangeliumsEvangelium. Die Nachfolge bezieht sich also nicht auf die Person eines historisch nur schwer greifbaren ApostelsApostel und seiner vermeintlichen Nachfolger, sondern auf die Lehre der Apostel, konkret: auf den schriftlichen Niederschlag der apostolischen Verkündigung.

Jede Kirche, die sich auf die biblische Überlieferung als den normativen Maßstab ihrer Verkündigung beruft, steht in apostolischer Nachfolge, ohne dass eine personelle Nachfolge im AmtAmt notwendig ist. Die Heilige Schrift bildet die Grundlage der Nachfolge. Wird das EvangeliumEvangelium verkündigt, wie es in ihr bezeugt wird, ist die apostolische Nachfolge gesichert und die ApostolizitätApostolizität der KircheKircheApostolizität der Kirche realisiert. Dieser Typus ist bei der evangelischen Konfessionsfamilie Kernanliegen des Kirche-Seins.

Typ 3: Das lebendige ApostelamtDer dritte Typus hebt sich von beiden beschriebenen Typen ab. Beide setzen voraus, dass es keine ApostelApostel in der Gegenwart mehr gibt. Sie haben andere Modelle entwickelt, die ApostolizitätApostolizität trotzdem zu bewahren. Der dritte Typus realisiert sie, indem er neue Apostel in der Gegenwart erkennt und lebende Personen als Apostel bestimmt. Das AmtAmt der Apostel wird also nicht lediglich „vererbt“, sondern neu belebt und ausgefüllt. Damit ist im Grunde die unmittelbarste Form der Apostolizität buchstäblich verkörpert und das Apostolat „belebt“. Dieser Typus entstand im Rahmen der ErweckungsbewegungErweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Exemplarisch ist er in der „Neu-Apostolischen“ Kirche anzutreffen.

Die Strukturierung der vorliegenden KonfessionskundeKonfessionskunde nach diesen drei Typen der apostolischen Nachfolge ist insofern gewinnbringend, als dass sie das theologische Anliegen der verschiedenen Kirchen sichtbar macht, wirklich die Kirche Jesu ChristiJesus Christus realisieren zu wollen. Es lässt sich zeigen, dass jede Kirche auf ihre Weise versucht, die Kirche des GlaubensbekenntnissesGlaubensbekenntnis in der Gegenwart zu leben. Differenzen zwischen den Kirchen werden damit nicht eingeebnet, aber deutlich gezeigt, dass die Kirchen ein gemeinsames Anliegen verbindet. Es kann so zwischen der Gestalt einer Kirche und ihrer eigentlichen Absicht unterschieden werden. Damit findet sich ein gemeinsames Fundament – die ApostolizitätApostolizität der KircheKircheApostolizität der Kirche –, das nicht ausschließt, nicht über- oder unterordnet, sondern einen Punkt bietet, an dem das gegenseitige (ökumenische) Verstehen anknüpfen kann.

Konkret ordnet die vorliegende KonfessionskundeKonfessionskunde die Betrachtung der einzelnen Kirchen anhand der vorgeschlagenen Kriterien wie folgt:

1 Die personelle Nachfolge im AmtAmt als Realisierung der ApostolizitätApostolizitätRealisierung der Apostolizität

2 Die inhaltliche Nachfolge als Realisierung der ApostolizitätApostolizitätRealisierung der Apostolizität

3 Die ApostelApostel als Realisierung der ApostolizitätApostolizitätRealisierung der Apostolizität

Kirche, ApostolizitätApostolizität und AmtAmtEkklesiologieEkklesiologie und ApostolizitätApostolizität sind eng miteinander verknüpft und bedingen einander. Eine KonfessionskundeKonfessionskunde, deren Ordnungsprinzip die Realisierung der ApostolizitätApostolizitätRealisierung der Apostolizität ist, dringt dabei folgerichtig zum Kern ekklesiologischer Selbstverortungen vor.

Darüber hinaus wird unmittelbar das mit der ApostolizitätApostolizität verbundene kirchliche Amtsverständnis erfasst. In der Praxis stellen das AmtAmt inkludierende kirchliche Strukturen eine der größten gegenwärtigen Herausforderungen für die ÖkumeneÖkumene dar, im Übrigen bereits seit den 1970er, 1980er Jahren. Die Kenntnis der Verortung des Amtes in den einzelnen Kirchen und Konfessionsfamilien stellt, wie eingangs bereits erwähnt, die Grundlage für den ökumenischen Dialog über das Amt dar. Insofern versteht sich die vorliegende KonfessionskundeKonfessionskunde in Bezug auf EkklesiologieEkklesiologie, Apostolizität und Amt als Vorarbeiterin ökumenischen Denkens und Agierens. Da sie ihren Gegenstandsbereich theologisch aufbereitet, schafft sie gleichermaßen die Grundlage für die Anschlussfähigkeit weiterer Disziplinen der theologischen Wissenschaft.

1.4 Die Herausforderung der KonfessionskundeKonfessionskunde in der Gegenwart

In der orthodoxen TraditionTradition ist es wichtig, mit der Kirche zu leben. Wer diese Strömung der Christenheit kennenlernen will, kann sie nach orthodoxer Selbstauskunft nicht am Schreibtisch erfassen, sondern muss in die GottesdiensteGottesdienst gehen und das MysteriumMysterien des Glaubens und der Kirche erleben. Die LiturgieLiturgie ist der wesentliche Faktor, der es erlaubt, diese Kirche kennenzulernen.

Dieses Prinzip gilt wesentlich auch für alle anderen christlichen Kirchen, doch zeigt sich bei diesem Beispiel eine Herausforderung, die für die KonfessionskundeKonfessionskunde in doppelter Weise wichtig ist. Grundsätzlich stellt sich die Frage: Wie gewinnt man ZugangZugang zu einer Konfession? Daraus folgt die zweite Frage: Welche Relevanz und welche Bedeutung hat dieser spezielle Zugang, um das Wesen der Konfession zu erfassen?

Der in diesem Buch gewählte Ansatz versucht, einen theologischen ZugangZugangTheologisch zu den Konfessionen zu finden und in dessen Folge möglichst viele Aspekte der einzelnen Kirchen zu beschreiben, in deren Summe die wesentlichen Grundzüge der Kirche erfasst werden können. Dieses Anliegen – abgesehen vom speziellen theologischen Zugriff – verbindet die vorliegende KonfessionskundeKonfessionskunde mit ähnlichen Werken. Allerdings wird bei diesen oft die zweite Frage außer Acht gelassen, die in der Gegenwart vor allem in praktischer Hinsicht wesentlich relevant ist.

Gegenwärtige Grenzen der KonfessionskundeKonfessionskundeWer sich in einer KonfessionskundeKonfessionskunde informiert, „wie eine Kirche ist“, um danach in deren GottesdienstGottesdienst zu gehen und sich dort zurecht zu finden, kann Überraschungen erleben. Innerhalb der Konfessionen – mal mehr, mal minder – herrscht eine PluralitätPluralität – Pluralisierung, die es kaum erlaubt, von der Lehre auf das Leben zu schließen. Man kann römisch-katholische Messen erleben, die in vollem Ornat und mit viel Weihrauch in üppigen Barockkirchen zelebriert werden, man kann aber auch sehr nüchtern gehaltene römisch-katholische Messen in karg eingerichteten modernen Betonkirchen feiern, die lediglich (aber immerhin!) durch die gleiche LiturgieLiturgie geeint sind.

Wer den GottesdienstGottesdienst in einer anglikanischen Kirche besucht, weiß im Vorfeld nicht, was ihn erwartet. Je nachdem, welcher kirchlichen Richtung die Gemeinde angehört, kann der Betreffende einen katholisch wirkenden Gottesdienst erleben oder einen charismatisch ausgerichteten.

Auch bei den Kirchen, die der evangelischen Konfessionsfamilie angehören, kann man im Voraus kaum Aussagen darüber treffen, wie deren GottesdiensteGottesdienst aussehen werden, wenn man sie nicht bereits kennt. Während in der einen Kirche Heilungs-, Salbungs- und Lobpreisgottesdienste aus dem charismatisch-pfingstlerischen Milieu die Sehnsucht nach einem sinnlichen Gottesdienst befriedigen, ist dies für eine reformierte Kirche kaum denkbar und würde dort strikt abgelehnt. Lutherische Gottesdienste wiederum können Formen der Hochkirchlichkeit annehmen, die auf Gläubige anderer evangelischer Prägung wie römisch-katholische Gottesdienste wirken. Die Beispiele ließen sich zahlreich fortführen.

Das Phänomen der interkonfessionellen Vermischung oder der transkonfessionellen Präsentation ist keineswegs nur auf die GottesdiensteGottesdienst beschränkt. Bei öffentlichen Diskussionen zu strittigen, vor allem ethisch relevanten Fragen der Gegenwart kann nur noch der Fachmann sagen, wer zu welcher Konfession gehört, und es muss schon sehr genau beobachtet werden, wer wie argumentiert, um eine konfessionelle Prägung erkennen zu können.

Bezeichnend für die konfessionelle Verwirrung aufgrund von Unkenntnis ist der Befund, dass Christen aller Konfessionen aus ihren Kirchen austreten, wenn beispielsweise ein römisch-katholischer BischofBischof einen medienwirksamen Skandal verursacht oder römisch-katholische PriesterPriester und Bischöfe des Missbrauchs von Kindern überführt werden, auch wenn es Amtsträger einer anderen christlichen Kirche sind. Alle Kirchen werden bei Skandalen, Missmanagement oder gar kriminellen Taten in Mitleidenschaft gezogen, obwohl sie mit den entsprechenden Fällen in anderen Konfessionen nichts zu tun haben. „Die Kirche“ wird in Haftung für alle Konfessionen genommen.

Für die KonfessionskundeKonfessionskunde folgt daraus, dass ihre Beschreibungen einer Kirche lediglich Wegmarken zum besseren Verständnis sein können. Sie können und dürfen keinen Anspruch auf Vollständigkeit und erst recht keinen normativen Anspruch erheben. Konfessionskunde ist die Beschreibung einer Kirche oder Glaubensgemeinschaft und muss akzeptieren, dass sich ihr Forschungsgegenstand unter Umständen schneller verändert, als sie ihn beobachten und untersuchen kann.

Reale Kirche und kirchliches IdealDie Existenz einer Spannung zwischen dogmatischer Bestimmung und empirischer Wirklichkeit der Kirche ist nicht nur Thema der KonfessionskundeKonfessionskunde, sondern auch der anderen theologischen Fächer. Sie wird z.B. in der Systematischen Theologie als Problemanzeige in ekklesiologische Definitionen einbezogen (vgl. Laube, 2011; Hovorun, 2015). Die Einsicht, dass nur indem dieses Spannungsverhältnis konkret bestimmt und offen benannt wird, die geschichtlich gegebene Wirklichkeit einer Kirche überhaupt theologisch begriffen werden kann, setzt sich zunehmend durch. Es geht nicht mehr darum, ein dogmatisch definiertes Ideal mit einer real vorfindlichen Kirche zu vergleichen und so deren Defizite herauszustellen. Wichtiger ist es von der kirchlichen Wirklichkeit auszugehen und aufzuzeigen, inwiefern jede Kirche über sich selbst hinausweist, um so das Wesen von Kirche zu erfassen (vgl. Laube, 2011, 148). Der Konfessionskunde, die sowohl die ekklesiologisch-dogmatische Selbstbestimmung als auch die empirisch-kirchliche Wirklichkeit in ihre Betrachtung und Untersuchung einbezieht, kommt hierbei die wesentliche Funktion zu, die sich aus dem Spannungsverhältnis ergebenden Widersprüche, Kompensationsversuche und Unverhältnismäßigkeiten zu verarbeiten, ohne sie zu systematisieren, zu bewerten oder normative Schlüsse aus ihnen abzuleiten. Das bedeutet auch, dass paradoxe Phänomene innerhalb von Kirchen nebeneinander stehen bleiben, ohne dass der Spannungsbogen zwischen Ideal und Wirklichkeit aufgelöst wird bzw. aufgelöst werden kann.

Die interne PluralisierungPluralität – Pluralisierung der KonfessionenInnerhalb einer Konfessionsfamilie, zuweilen sogar innerhalb einer einzigen Kirche, sind die faktischen Lebensvollzüge der Kirchen oft sehr unterschiedlich und weisen eine hohe PluralitätPluralität – Pluralisierung auf. Das ist zum einen durch die verschiedenen Inkulturationen, d.h. die konkret vorfindlichen Milieus, historischen Kontexte, Mentalitäten und Frömmigkeitsstile zu erklären, zum anderen aber auch durch die Pluralisierung und Individualisierung der modernen Gesellschaft, die auf die Kirchen ausstrahlt. Weder ein polemisches Klagen, dass jeder (evangelische) Geistliche „macht, was er will“ noch eine Ignoranz der durch die Individualisierung aufgeworfenen Probleme ist dabei angeraten. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Pluralität einer Kirche nicht nur eine Stärke sein kann, sondern die gemeinsame Identität und Erkennbarkeit auch schwächt. Die gegenwärtig große Herausforderung für das Christentum ist der angemessene Umgang mit Pluralität und Pluralismus, ohne in eine oberflächliche Gleich-Gültigkeit oder eine Verteidigungshaltung der absoluten Wahrheit abzugleiten. Die Einübung einer am Anderen interessierten, toleranten und gleichermaßen fest verankerten eigenen Haltung ist eine der aktuell wichtigsten Aufgaben in Theologie und Kirche.

Beispiel: Die „Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt“Als Beispiel für konfessionsinterne PluralisierungPluralität – Pluralisierung kann die Diskussion um die Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt 2012 in Trier angeführt werden. Progressive römisch-katholische Christen beschwerten sich bezüglich dieser Wallfahrt in evangelischen Pfarrämtern darüber, dass es so etwas wie Wallfahrten überhaupt noch gibt, und hielten evangelischen Geistlichen vor, dass diese keinen Einspruch erheben würden. Gleichzeitig warfen konservativeKonservativ römisch-katholische Christen ihrer Kirchenleitung vor, dass sie durch den Begriff der „Christuswallfahrt“ den speziellen Charakter einer Reliquienwallfahrt verdunkelten und erhoben den Vorwurf, dass der BischofBischof von Trier, Stephan Ackermann$Ackermann, Stephan, geb. 1963, römisch-katholischer Bischof von Trier (geb. 1963), in Rom keinen besonderen AblassAblass, wie es bei einer Heilig-Rock-Wallfahrt möglich ist, erbeten habe und ihnen diesen nun vorenthalte.

Auf evangelischer Seite kam Kritik daran auf, dass evangelische Christen der Einladung zur Wallfahrt folgten, anstatt Martin Luthers$Luther, Martin, 1483–1546, evangelischer Theologe, Reformator, Namensgeber der Lutheraner Einsichten zum Thema Reliquien zu verinnerlichen.

Das Beispiel zeigt, dass in beiden Konfessionen der gleiche Anlass heftigen Streit nach sich zog und dass neue Koalitionen jenseits der Konfessionsgrenzen gesucht und gefunden wurden. Trotz einer klaren theologischen Ablehnung von AblassAblass und Wallfahrt nahmen und nehmen Protestanten an der Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt teil, während römisch-katholische Christen zum großen Teil problemlos auf einen Ablass verzichten, der ihnen durch ihren BischofBischof aus ökumenischer Rücksichtnahme sowieso vorenthalten wird.

Paradigmatisch wird hier die Schwierigkeit deutlich, in der Moderne die Konfessionsgrenzen klar zu erfassen und dadurch bestimmte Beschreibungen der Realität zu liefern. Aus Sicht der KonfessionskundeKonfessionskunde muss eine Verwischung klassischer Konfessionsgrenzen und die Bildung neuer Koalitionen klar erkannt und benannt werden.

Die Entwicklung jenseits der KonfessionenDie Moderne hat im Umgang mit dem Transzendenten und der ReligionReligion in den westlichen Gesellschaften umwälzende Veränderungen hervorgebracht, u.a. Prozesse der SäkularisierungSäkularisierung, die bis in die Gegenwart den Verlust von Religionsrelevanz zeitigen und TraditionsabbrücheTraditionTraditionsabbruch beschleunigen. Teil solcher Entwicklungen ist das Phänomen der religiösen SelbstermächtigungSelbstermächtigung.

Der postmoderne Mensch lässt sich nicht mehr vorschreiben, was er zu glauben hat, sondern wählt aus, was ihm zu glauben sinnvoll erscheint. Schon das Beispiel der Heilig-Rock-WallfahrtHeilig-Rock-Wallfahrt hat dies klar gezeigt: Wenn ein Protestant zum Heiligen Rock pilgern möchte, dann tut er das ohne Rücksicht auf die Lehren seiner Kirche. Wenn ein evangelischer Christ bei seiner Trauung das klassisch katholische „Ave Maria“ hören will, weil es „einfach so schön ist“, dann kann sich auch ein Pfarrer dem kaum in den Weg stellen. Umgekehrt sind evangelikale Lobpreislieder als Sacropop in römisch-katholischen Jugendmessen keine Seltenheit. Traditionelle Rituale werden ihres Sinnes entleert, z.B. führt ein Vater die Tochter zum Traualtar, weil es romantisch ist, nicht, wie ursprünglich gemeint, als Zeichen der Übergabe des Besitzes, an das (hoffentlich) dabei niemand mehr denkt.

Besonders aus konfessionskundlicher Perspektive lassen sich zwei wesentliche Entwicklungen erheben: Einerseits werden die klassischen ökumenischen Streitfragen, obwohl sie nicht gelöst sind, in der kirchlichen Lebenswelt zunehmend verdrängt und sind in ihren theologischen Begründungen nur noch Fachleuten zugänglich. Auf der anderen Seite bilden sich neue Problemfelder, die die interne PluralisierungPluralität – Pluralisierung in den Konfessionen beschleunigen. Neue transkonfessionelle Koalitionen entstehen, jenseits der traditionellen Abgrenzungen der Konfessionen, und machen sie obsolet. Neue Gruppen finden sich anhand von gemeinsamen Interessen, Themen und gemeinsamen Gegnern in verschiedenen Konfessionen und formulieren gemeinsame Anliegen zu bestimmen kirchlichen Positionen oder theologischen Fragen.

Sackgassen des DialogsIm Allgemeinen wird wenig beachtet, wie umfangreich in den ökumenischen Dialogen der letzten 50 Jahre wesentliche kirchentrennende theologische Sachverhalte aufgenommen, bearbeitet und diskutiert wurden und in vielen Fällen zu Annäherungen geführt haben. Obwohl genügend Brücken zur Verständigung gebaut worden sind, scheint es gegenwärtig in der ÖkumeneÖkumene kaum Schritte aufeinander zu zu geben. Warum ist z.B. das AbendmahlAbendmahl/die EucharistieEucharistie ein Trennungsmerkmal der Konfessionen, obwohl viele Protagonisten der ökumenischen BewegungBewegung(en) der Meinung sind, dass es genügend Möglichkeiten gibt, diese Trennungen aufzuheben und/oder zu umgehen? Unterschiedliche Positionen zur Amtsfrage oder dem Verständnis von Kirche generell verhindern ebenfalls ein Aufeinanderzugehen. Allerdings treten die theologischen Ursachen der Konflikte langsam in den Hintergrund des allgemeinen Interesses. Viele Menschen lassen sich – wie beschrieben – nicht mehr vorschreiben, was sie glauben sollen und fühlen sich nicht mehr gebunden an die Gebote oder Verbote ihrer jeweiligen Konfession.

Evangelische Christen bekommen grundsätzlich von ihren Kirchenleitungen nicht gesagt, was sie glauben sollen, sondern erhalten Orientierungshilfen und Denkschriften. Inwiefern diese rezipiert werden, liegt in der Hand des Einzelnen oder der einzelnen Gemeinde. Römisch-katholische Christen erfahren oft nicht umfassend, welche Verlautbarung vom Vatikan ausgeht bzw. rezipieren Lehrnormen nach individuellem Gutdünken. So nehmen z.B. viele römisch-katholische Christen ohne Gewissensprobleme am AbendmahlAbendmahl in evangelischen Kirchen teil und verzichten damit auf die theologische Klärung des ökumenischen Problems. Umgekehrt partizipieren evangelische Christen gern und ohne theologische Zweifel an besonderen Andachtsformaten der Römisch-katholischen Kirche (z.B. in der Fastenzeit) oder an den sinnlich beeindruckenden, liturgisch opulenten orthodoxen GottesdienstenGottesdienst.

Selbst die Klärung wesentlicher theologischer Fragen vermag in der kirchlichen Praxis der ÖkumeneÖkumene kaum weiterführende Impulse zu setzen. Deutlicher Beleg für diese Erkenntnis ist die „Gemeinsame Erklärung zur RechtfertigungslehreRechtfertigung / Rechtfertigungslehre“, die das zentrale reformatorische Problem der Rechtfertigung allein aus Glauben zum Gegenstand hat. Dieses Konsensdokument, das im Dialog zwischen Lutherischem Weltbund (LWB) und der Römisch-katholischen Kirche entworfen, das 1999 feierlich unterzeichnet wurde und dem 2006 der Weltrat methodistischer Kirchen zustimmte, ist in der Regel nur theologischen Experten zugänglich, die sich darum auch wieder heftig streiten können. Obwohl mit diesem Dokument die zentrale Frage der Reformation nach der Rechtfertigung des Menschen weithin einvernehmlich geklärt wurde, ist deren Relevanz bereits für die kirchliche Praxis gering, von der öffentlichen Wahrnehmung ganz zu schweigen.