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Auswirkungen von psychischen Störungen
Psychische Störungen gehen für Betroffene mit Verunsicherung, Angst, Leid und Verlust an Autonomie einher. Vor allem bei länger andauerndem Krankheitszustand kommt es zu persönlichen und sozialen Beeinträchtigungen in den Bereichen Wohnen, Beziehungen, Arbeit, Finanzen und Freizeit. Gleichzeitig haben die damit verbundenen Einschränkungen der Lebensqualität unterschiedliche und teilweise erhebliche Auswirkungen auf die Akteure des persönlichen Lebensumfeldes.
Auswirkungen und Folgen für Betroffene
So vielseitig die verschiedenen Störungsbilder sind, so verschieden gestalten sich die einzelnen Symptome der Erkrankungen und deren Folgen. Die Bereiche Wahrnehmung, Denken, Erleben, Fühlen und Verhalten sind bei psychischen Störungen ebenso betroffen wie die sozialen Beziehungen. Einzelne Symptome und Beschwerden sind jedoch für sich allein genommen nie Beweis für das Vorhandensein einer bestimmten Störung. Psychische Störungen entwickeln sich meist langsam, die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit dauert zum Beispiel im Durchschnitt 10 bis 15 Jahre (Gastpar et al. 1999, Uchtenhagen / Zieglgänsberger 2000, Thomasius / Küstner 2005). Ihnen gehen zwar meist entsprechende Warnsignale voraus, es gibt aber keine klare Trennlinie zwischen gesund und krank. Allgemein lässt sich zeigen, dass sich psychische Störungen auf die Lebensgestaltung auswirken und dort zu erheblichen psychosozialen Einschränkungen führen. Auch die Arbeitsproduktivität verschlechtert sich maßgeblich. Die Arbeitsunfähigkeitszeiten sind deutlich erhöht (BPtK 2011, 3 f.) und nur ein Drittel aller Betroffenen erhält auch eine adäquate Behandlung (Wittchen et al. 1999, 217). Zur Nachvollziehbarkeit von Meinungsbildung und Reaktionsweisen der einzelnen Akteure sollen im Nachstehenden typische Auswirkungen und Folgen psychischer Störungen für Betroffene zusammenfassend beschrieben werden:
Versorgungssituation
Infolge des 1975 veröffentlichten Berichts der Psychiatrie-Enquête-Kommission über »die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland« (Deutscher Bundestag 1975) wurden Tageskliniken flächendeckend aufgebaut und die Personalausstattung in psychiatrischen Einrichtungen verbessert. Trotzdem ist die medizinische und psychotherapeutische Versorgungssituation in Deutschland für Menschen mit psychischen Störungen nach wie vor mehr als unbefriedigend. Häufig werden die Betroffenen nicht vom Versorgungssystem erreicht oder sie geraten aufgrund von langen Wartezeiten auf Therapieplätze in immer dramatischere Zustandsbilder. Psychisch kranke Menschen warten weit länger auf eine Behandlung als jeder physisch Erkrankte. Viele sind mit der aufwändigen und langwierigen Suche nach einem geeigneten Therapieplatz überfordert, geben schließlich auf und finden erst später, im deutlich chronifizierteren Zustand, den Weg in psychiatrische oder psychosomatische Krankenhäuser.
»Nachdem ich in fünf Praxen von Psychotherapeuten angerufen hatte und immer wieder nur mit dem Anrufbeantworter verbunden war, habe ich aufgegeben« (44-jährige Verwaltungsangestellte mit einer Depression – häufiges Kennzeichen einer Depression ist das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und der nicht vorhandene Glaube daran, jemals wieder gesund zu werden. Die Frau wurde ca. fünf Monate später in einem noch deutlich verschlechterten Zustand stationär aufgenommen und mehrere Monate behandelt).
Bei einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer konnte nachgewiesen werden, dass Menschen mit psychischen Störungen in Deutschland durchschnittlich 12,5 Wochen auf ein Erstgespräch bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten warten (BPtK 2011, 4). Dabei besteht ein deutliches Gefälle in den verschiedenen Versorgungsregionen. In Städten dauert es durchschnittlich 9,3 Wochen bis zu einem Erstgespräch, in ländlichen Regionen 15,3 Wochen. »Besonders schlecht ist die psychotherapeutische Versorgung im Ruhrgebiet und in den ostdeutschen Bundesländern: Im Ruhrgebiet warten Patienten 17 Wochen auf ein Erstgespräch, in Brandenburg 19,4 Wochen, in Mecklenburg-Vorpommern 18 Wochen, in Thüringen 17,5 Wochen und in Sachsen-Anhalt 16,6 Wochen« (ebd.). Kommt es schließlich zu stationären oder ambulanten Behandlungen, so halten die betroffenen Patienten dies oftmals gegenüber ihren Arbeitskollegen, Freunden oder sogar Angehörigen geheim.
Eine Ausnahme bilden hier Suchterkrankungen. In diesem Bereich wurden in Deutschland diverse Beratungsstellen, stationäre und ambulante Behandlungseinrichtungen etabliert, die allen Ratsuchenden eine rasche und unkomplizierte Hilfe ermöglichen. Allerdings können sich viele Betroffene oft erst sehr spät für eine Inanspruchnahme der vorhandenen Angebote entscheiden. Sie befinden sich zu diesem Zeitpunkt bereits in einem fortgeschrittenen Stadium physischer und psychosozialer Folgeschäden.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass hinsichtlich der Versorgungssituation auch deshalb ein besonderer Handlungsbedarf besteht, da psychische Störungen häufig in Langzeit-Arbeitsunfähigkeiten und Frühberentungen münden (Bödeker 2008, Weber et al. 2006) und damit erhebliche psychosoziale und wirtschaftliche Folgen für die Betroffenen und die Sozialversicherungskassen mit sich bringen.
Auswirkungen auf emotionaler und kognitiver Ebene
Bei aller Verschiedenartigkeit lassen sich hier im Wesentlichen folgende Merkmale feststellen:
• Leiden, Traurigkeit und Angst sind häufige Bestandteile der meisten psychischen Störungen, am deutlichsten ausgeprägt ist dieses subjektive Leiden im Fall der Depression. Allerdings kann es auch, wie zum Beispiel im Fall der Manie, völlig fehlen (vgl. WHO / Dilling 2009).
• »Menschen mit psychischen Störungen haben die gleichen Gefühle wie andere, nur in akuten Krankheitsphasen erleben diese Menschen Gefühle von einer anderen Intensität und Dauer« (Riechert 2011, 47).
• Charakteristisch ist auch das Unvermögen, langfristige Ziele zu verfolgen. Hierbei verhindert zum Beispiel Angst die Beschäftigung mit langfristigen Zielen, weil eine kurzfristige Angstreduktion im Vordergrund steht. Insbesondere Alkoholiker geben oft eine langfristige Zielerreichung auf. Viele psychische Störungen reduzieren die aktive und zielgerichtete Auseinandersetzung mit der Umwelt (vgl. Frese 1987, 679). Das lässt sich z. B. bei depressiven Menschen aufgrund ihrer passiven Haltung beobachten.
• Die Beeinträchtigung des Realitätsbezugs ist ebenfalls ein wichtiges Merkmal von psychischen Störungen. Manche leichtere Formen der Depression oder anderer Erkrankungen gehen allerdings nicht notwendigerweise mit Realitätsstörungen einher. Bei Wahnvorstellungen bleiben realistische Einschätzungen von Situationen und Rückmeldungen anderer Personen aus und eine an der Realität orientierte Planung bricht zusammen. Als Folge kann dies zu Aggressivität und dem völligen Fehlen von Schuldeinsicht und Schuldgefühlen führen (vgl. ebd.).
Häufig verlaufen diese emotionalen und kognitiven Veränderungen in einem sehr schleichenden Prozess und werden von den Betroffenen gar nicht oder kaum wahrgenommen. Wenn überhaupt, dann nimmt ein großer Teil davon aus Scham entweder keine oder erst sehr spät professionelle Hilfe in Anspruch.
Exkurs: Historische Dimension psychischer Störungen
Psychische Störungen gibt es nicht erst seit der Neuzeit, sie haben eine lange historische Dimension, die nach unserer Auffassung auch heute noch im gesellschaftlichen Unbewussten wirkt. Der kollektive Umgang mit psychisch gestörten Menschen liefert u. a. Hinweise, welche spezifischen Kriterien in einer Gesellschaft für »Normalität« bestehen und welches Ausmaß von Bedrohung ihnen zugeordnet wird. Daher ist das meist sanktionierende, strafende und ausgrenzende Handeln der Gesellschaft auch als ein Versuch von Angstabwehr zu werten. Dies lässt sich – blickt man auf die Geschichte der Geisteskrankheiten – auch aus den jeweiligen Ursachenzuschreibungen und Ausgrenzungsformen ableiten.
Schon im Alten Testament wird an mehreren Stellen berichtet, dass eine Geistesstörung als Strafe Gottes zu betrachten ist. So steht im Buch Mose: »Der Herr schlägt dich mit Wahnsinn, Blindheit und Irresein« (5. Buch Mose 28, 28). Über Nebukadnezar wird im Buch Daniel berichtet, dass er als Strafe Gottes für seine Überheblichkeit und seine Tyrannei sieben Jahre wie ein Tier leben und Gras fressen muss (vgl. Daniel 4, 1–34). Saul zieht den Zorn Gottes auf sich, weil er die Amalekiter nicht vollständig ausrottet, und wird zur Strafe von einem bösen Geist besessen, der ihn mit Wahnsinn und Raserei quält (vgl. A. Möller 1901, 6 und 1. Samuel 18, 1–10). Auch später im Mittelalter ging man noch davon aus, Geisteskrankheit und Krankheit allgemein würden durch schuldhaftes Verhalten der betroffenen Personen ausgelöst. Für Roeck steht in diesem Zusammenhang fest: »Krankheit steht immer auch zumindest im Verdacht, Gottesstrafe zu sein: eigentliche Wurzel des Übels ist Schlechtigkeit, Unmoral, sind Sünden und Verfehlungen« (1993, 58).
Im Mittelalter wurden psychisch auffällige Menschen in sog. »Narrentürme« gesteckt oder aus den Städten vertrieben und damit ihrem Schicksal überlassen. Psychische Auffälligkeiten waren, wie in Sebastian Brants (2011) »Narrenschiff« von 1494 beschrieben, Ausdruck von Ungläubigkeit und Lasterhaftigkeit. Damit widersprachen psychisch Gestörte dem damaligen Menschheitsideal und mussten demzufolge ausgesondert werden. In Frankreich wurden sie ab 1656 zusammen mit Arbeitsunwilligen, Kriminellen, Bettlern und Libertins entrechtet und im »Hôpital général« weggesperrt (vgl. Foucault 1973, 71 ff.).
Im Zeitalter der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, in der die »Vernunft« gesellschaftliches Handeln sehr prägen sollte, waren die »unvernünftigen Irren« ein Störfaktor der bürgerlichen Ordnung. Die Gesellschaft wurde reicher und konnte sich damit gegen Armut und auch gegen körperliche Krankheiten besser schützen, nicht aber vor dem Verlust des Verstandes. Dies stellte eine gesellschaftliche Bedrohung dar, die nach Blasius zu einer »Vergitterung des Wahnsinns« (Blasius 1995, 100) führte. Im Rahmen der zunehmenden Industrialisierung und des damit verbundenen Leistungsund Ausgrenzungszwangs des Wirtschaftsliberalismus wurden Menschen viel leichter auffällig, deren psychische Störung bislang nicht offenkundig gewesen war (vgl. Dörner 1995, 290). Psychisch auffällige Menschen wurden daher zunehmend hinter Anstaltsmauern verbannt, damit eine bürgerliche Leistungskultur störungsfreier aufgebaut werden konnte. Es entstanden, weit entfernt von den großen Städten, die riesigen Landeskrankenhäuser und Heilanstalten. Diese Art von »Vergitterung« machte sich in ganz Europa breit, und es gab in der Folgezeit »weit über die Grenzen Deutschlands hinaus einen theoretischen Diskurs der Rassenbiologie und Erblehre, in dem Selektion als etwas Selbstverständliches betrachtet wurde« (Fischer 2000, 5). Die Einstufung des Daseins psychisch gestörter Menschen als lebensunwertes Leben im nationalsozialistischen Deutschland entstand also nicht in einem historisch leeren Raum. Hunderttausende von psychisch kranken und von schwachen Menschen wurden unter dem Deckmantel der »Euthanasie« ermordet. Im Rahmen der sog. »Aktion T4« wurden etwa 70.000 Psychiatriepatienten umgebracht und ca. 300.000 Personen zwangssterilisiert. »T4« wurde nach dem Haus Tiergartenstraße 4 in Berlin benannt, in dem Hitler mit den Verantwortlichen des Dritten Reiches die Anordnung zur Tötung Geisteskranker beschlossen hatte. In der Nachkriegszeit hatte zwar die Zwangssterilisation von Menschen mit psychischen Störungen in Deutschland ein Ende, in anderen europäischen und amerikanischen Staaten aber waren bis in die 1980er-Jahre noch Gesetze zur Zwangssterilisation in Kraft.
Das Stigma »Psychische Störung«
Die Situation von psychisch gestörten Menschen in unserer Gesellschaft und die Sichtweise ihnen gegenüber haben sich verändert. Trotz einer Humanisierung des Umgangs mit ihnen ist jedoch nicht zu übersehen, dass Menschen mit psychischen Störungen auch heute noch ein gewaltiges Stigma anhaftet.
Etymologisch leitet sich der Begriff »Stigma« aus dem Griechischen ab und bedeutet »Stich, Punkt, Fleck, Mal, Brandmal«. In den Körper geritzte oder gebrannte Zeichen kennzeichneten Sklaven, Verbrecher und Verräter. Die so gebrandmarkte Person war damit sichtbar als moralisch minderwertig gezeichnet und sollte dadurch gemieden werden (vgl. Goffmann 2010, 7). Eine stigmatisierte Person weicht mit einem Merkmal negativ von normierten Erwartungen der Gesellschaft ab. Dem Stigmatisierten werden weitere Eigenschaften zugeschrieben, es handelt sich dabei um Generalisierungen, die mit dem tatsächlich wahrgenommenen Merkmal objektiv nichts zu tun haben. Goffmann definiert Stigmatisierung als »die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist« (ebd.). Finzen weist darauf hin, dass ein Stigma, das erst im Laufe des Lebens auftritt – wie bei psychischen Störungen – besonders schwer zu bewältigen ist, da die Betroffenen (wie im Fall der 57-jährigen Personalleiterin) selbst mit den Vorurteilen und Vorbehalten aufgewachsen sind. Daher entwickeln sie nach Finzen »zwangsläufig eine Missbilligung ihrer selbst« und eine Art von »Selbststigmatisierung«, die in diesem Zusammenhang auch als »zweite Erkrankung« der Betroffenen bezeichnet wird (Finzen 2000, 34 f.).
Die Etikettierung in »psychisch normal« oder »psychisch gesund« bzw. »psychisch krank« suggeriert zudem eine exakte Trennlinie zwischen diesen Zuschreibungen, die aber aufgrund der fließenden Übergänge in Wirklichkeit nicht existiert.
Auch heute noch lässt sich die weit verbreitete Meinung beobachten, dass psychisch Gestörte eine potenzielle Gefahr für das soziale Umfeld darstellen, zumindest aber die Ordnung stören. Sie wirken auf viele Menschen nicht zuletzt durch die Darstellungen in Filmen bedrohlich. Meist wird dort das Bild von gewalttätigen und unberechenbaren Personen gezeichnet und durch die Negativberichterstattung in der Presse bestätigt. In dem so gespeisten Alltagswissen der Bevölkerung werden psychische Störungen zu einer persönlichen Eigenschaft, die mit anderen Erkrankungen nicht zu vergleichen ist. Psychisch Kranke gelten als gefährlich und stehen außerhalb der Gesellschaft. Diese wiederum hat die Macht zu entscheiden, wie lange die Betroffenen akzeptiert oder wann sie ausgegrenzt werden. Das in der Öffentlichkeit geprägte mediale Bild des »Sonntagsabend-Tatortpsychopathen« hat jedoch mit der Alltagsrealität von Menschen mit psychischen Störungen wenig gemeinsam. Ein erhöhtes Gewaltrisiko lässt sich nur bei wenigen Erkrankungsformen, wie Psychose und Demenz wirklich nachweisen. Ansonsten gilt: »Das Risiko ist etwa so hoch wie bei »gesunden« jungen Männern mit Hauptschulabschluss« (Eink 1999, 12). Die verzerrte Darstellung ist dennoch in der Gesellschaft vorhanden und hat Auswirkung auf den Umgang, die Ängste und die Phantasien des sozialen Umfeldes. In Folge verlieren die »Normalen« ihre Beziehungsfähigkeit gegenüber den »Seltsamen« – und umgekehrt. Die Isolierung von Menschen mit psychischen Störungen wird somit von beiden Seiten vorangetrieben. Darüber hinaus gelten Menschen mit psychischen Störungen, wie insbesondere im Falle von Suchterkrankungen erkennbar wird, meist als »selbst schuld« und willensschwach. Damit entsprechen sie nicht dem Nützlichkeitsgedanken unserer Gesellschaft und werden zu einer unattraktiven Randgruppe, deren Zugehörigkeit möglichst vermieden, zumindest aber verschwiegen werden muss.
Wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, hat dieses Phänomen zwangsläufig auch Auswirkungen auf das Verhalten von Betroffenen, deren Angehörige und auf den Umgang mit diesen Menschen im allgemeinen Sozialkontakt und im Bereich des Betrieblichen Gesundheitsmanagements.
Stigmatisierung und ihre Auswirkungen auf den Sozialkontakt
Trotz der weiten Verbreitung von psychischen Störungen in der Gesamtbevölkerung halten sich, wie gezeigt, Vorurteile gegenüber betroffenen Menschen sehr hartnäckig. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf das Verhalten von psychisch Gestörten. Rüsch et al. (2005) beschreiben in ihrer »Zwei-Faktoren-Theorie der Stigmatisierung« neben einer »öffentlichen Stigmatisierung« auch eine »Selbststigmatisierung«. Bei der öffentlichen Stigmatisierung kommt es zu Stereotypen über eine bestimmte Gruppe von Menschen, z. B. Unberechenbarkeit, Gefährlichkeit und Charakterschwäche. Dies führt nach ihrer Meinung zu Vorurteilen und negativen emotionalen Reaktionen wie Misstrauen oder Furcht und mündet schließlich in Diskriminierung, wie z. B. Benachteiligung bei der Vermietung von Wohnungen oder bei der Anstellung. Unter »Selbststigmatisierung« subsumieren Rüsch et al. (2005) negative Meinungen oder Stereotypien über sich selbst. Diese Selbststereotypien münden in Selbstvorurteilen und negativen emotionalen Reaktionen auf sich selbst, wie einem niedrigen Selbstwert (siehe Abb. 4). Daraufhin kommt es zu Selbstdiskriminierung durch die Verhaltensreaktion auf die Vorurteile, es wird beispielsweise die Arbeits- oder Wohnungssuche aufgegeben. In einer Studie von Holzinger et al. (2003) konnte nachgewiesen werden, dass die antizipierte Stigmatisierung größer ist als die tatsächlich erlebte Stigmatisierung.
Abb. 4: Zwei-Faktoren-Theorie der Stigmatisierung (nach Rüsch et al. 2005, 233, eigene Darstellung)
75 Prozent der Probanden befürchten, dass ihre Bewerbung um einen Arbeitsplatz nicht erfolgreich wäre, wenn die psychische Erkrankung bekannt würde, und 15 Prozent sprachen sich dafür aus, es gar nicht erst auf dem ersten Arbeitsmarkt zu versuchen. Öffentliche Stigmatisierung und Selbststigmatisierung verstärken damit die oftmals störungsimmanenten Rückzugstendenzen bis hin zur völligen sozialen Isolation von Menschen mit psychischen Störungen.
Erscheinungsformen und deren Folgen im Bereich Arbeit
Die beschriebenen Reaktionen und Folgen finden wir auch im Setting von Arbeit wieder. Je nach Störungsbild lassen sich hierbei charakteristische Erscheinungsformen feststellen:
Bei affektiven Störungen (Beispiel: Depression, Manie) lässt sich im Arbeitsalltag beobachten, dass es zum Verlust der Flexibilität kommt, zu Leistungsabfall, Konzentrationsproblemen, Verlust von Energie, Nervosität, extremer Aktivität, übersteigertem Selbstwertgefühl und auffälliger Unruhe. Die betroffenen Mitarbeiter haben das Gefühl von Überforderung. Sie beziehen Äußerungen sehr häufig auf sich, reagieren mit sozialem Rückzug und verbreiten eine getrübte Stimmung oder sind übertrieben fröhlich. Auch bei Angststörungen (Beispiel: Panikattacke, generalisierte Angststörung, Phobie) fühlen sich die Betroffenen schnell überfordert, sind verunsichert, zögerlich in ihren Entscheidungen, haben Konzentrationsprobleme, sind in ihrem Durchhaltevermögen und ihrer Flexibilität eingeschränkt, reagieren teilweise mit Zwangshandlungen und oft mit kurzen Fehlzeiten und sozialem Rückzug. Sie sind stets auf der Suche, angstauslösende Situationen zu vermeiden und Ängste zu verbergen, was nach außen lange Zeit nicht sichtbar wird.
Menschen mit Zwangsstörungen (Beispiel: Kontrollzwang, Ordnungszwang, Reinlichkeitszwang) arbeiten oft sehr langsam und akkurat, sie werden für ihre Genauigkeit zunächst häufig gelobt, haben aber oft Schwierigkeiten, Arbeiten fertig zu stellen. Wenn sich ihre Zwangshandlungen in erster Linie auf den häuslichen Bereich beziehen, kann es sein, dass sie am Arbeitsplatz überhaupt nicht auffallen.
Bei Persönlichkeitsstörungen (Beispiel: Paranoide, dissoziale, abhängige oder narzisstische Persönlichkeitsstörung) sind häufig die Beziehungen zu den Kollegen belastet. Es kommt immer wieder zu Verwicklungen, Konflikten, Empfindlichkeiten und seltsamen Reaktionen. Die Arbeitsleistung kann lange Zeit überdurchschnittlich hoch sein, dann aber scheinbar unvermittelt nachlassen (vgl. Reichert 2011, 45 ff.).