Kitabı oku: «Hamburgische Dramaturgie», sayfa 11

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Dreissigstes Stueck Den 11. August 1767

Kleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Gemahl, erschiesst den einen von ihren Soehnen und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und ebendieselbe Quelle. Wenigstens laesst es sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die einzige Eifersucht ein wuetendes Eheweib zu einer ebenso wuetenden Mutter machte. Sich eine zweite Gemahlin an die Seite gestellet zu sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatten und die Hoheit ihres Ranges zu teilen, brachte ein empfindliches und stolzes Herz leicht zu dem Entschlusse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht allein besitzen konnte. Demetrius muss nicht leben, weil er fuer Kleopatra nicht allein leben will. Der schuldige Gemahl faellt; aber in ihm faellt auch ein Vater, der raechende Soehne hinterlaesst. An diese hatte die Mutter in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an ihre Soehne gedacht, von deren Ergebenheit sie versichert sei, oder deren kindlicher Eifer doch, wenn er unter Eltern waehlen muesste, ohnfehlbar sich fuer den zuerst beleidigten Teil erklaeren wuerde. Sie fand es aber so nicht; der Sohn ward Koenig, und der Koenig sahe in der Kleopatra nicht die Mutter, sondern die Koenigsmoerderin. Sie hatte alles von ihm zu fuerchten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem Herzen; noch war der treulose Gemahl in seinen Soehnen uebrig; sie fing an, alles zu hassen, was sie erinnern musste, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbsterhaltung staerkte diesen Hass; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidigerin fertiger, als der Beleidigte; sie beging den zweiten Mord, um den ersten ungestraft begangen zu haben; sie beging ihn an ihrem Sohne und beruhigte sich mit der Vorstellung, dass sie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, dass sie eigentlich nicht morde, dass sie ihrer Ermordung nur zuvorkomme. Das Schicksal des aeltere Sohnes waere auch das Schicksal des juengern geworden; aber dieser war rascher, oder war gluecklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbrechen raechet das andere; und es koemmt bloss auf die Umstaende an, auf welcher Seite wir mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen.

Dieser dreifache Mord wuerde nur eine Handlung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der naemlichen Leidenschaft der naemlichen Person haette. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragoedie? Fuer das Genie fehlt ihr nichts: fuer den Stuemper alles. Da ist keine Liebe, da ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwischenfall; alles geht seinen natuerlichen Gang. Dieser natuerliche Gang reizet das Genie; und den Stuemper schrecket er ab. Das Genie koennen nur Begebenheiten beschaeftigen, die ineinander gegruendet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurueckzufuehren, jene gegen diese abzuwaegen, ueberall das Ungefaehr auszuschliessen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, dass es nicht anders geschehen koennen: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnuetzen Schaetze des Gedaechtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln. Der Witz hingegen, als der nicht auf das ineinander Gegruendete, sondern nur auf das Aehnliche oder Unaehnliche gehet, wenn er sich an Werke waget, die dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, haelt sich bei Begebenheiten auf, die weiter nichts miteinander gemein haben, als dass sie zugleich geschehen. Diese miteinander zu verbinden, ihre Faden so durcheinander zu flechten und zu verwirren, dass wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befremdung in die andere gestuerzt werden; das kann er, der Witz; und nur das. Aus der bestaendigen Durchkreuzung solcher Faeden von ganz verschiednen Farben entstehet denn eine Kontextur, die in der Kunst eben das ist, was die Weberei Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder rot, gruen oder gelb ist; der beides ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelputz fuer Kinder.

Nun urteile man, ob der grosse Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser Beurteilung weiter nichts, als die Anwendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz Verwicklung.

Kleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus Eifersucht? dachte Corneille: das waere ja eine ganz gemeine Frau; nein, meine Kleopatra muss eine Heldin sein, die noch wohl ihren Mann gern verloren haette, aber durchaus nicht den Thron; dass ihr Mann Rodogunen liebt, muss sie nicht so sehr schmerzen, als dass Rodogune Koenigin sein soll, wie sie; das ist weit erhabner.—

Ganz recht; weit erhabner und—weit unnatuerlicher. Denn einmal ist der Stolz ueberhaupt ein unnatuerlicheres, ein gekuenstelteres Laster, als die Eifersucht. Zweitens ist der Stolz eines Weibes noch unnatuerlicher, als der Stolz eines Mannes. Die Natur ruestete das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zaertlichkeit, nicht Furcht erwecken; nur seine Reize sollen es maechtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herrschen und soll nicht mehr beherrschen wollen, als es geniessen kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloss des Herrschens wegen, gefaellt, bei der alle Neigungen dem Ehrgeize untergeordnet sind, die keine andere Glueckseligkeit kennet, als zu gebieten, zu tyrannisieren und ihren Fuss ganzen Voelkern auf den Nacken zu setzen; so eine Frau kann wohl einmal, auch mehr als einmal, wirklich gewesen sein, aber sie ist demohngeachtet eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert ohnstreitig das minder Natuerliche. Die Kleopatra des Corneille, die so eine Frau ist, die, ihren Ehrgeiz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit macchiavellischen Maximen um sich wirft, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen ihr tugendhaft und liebenswuerdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zaertlichen, eifersuechtigen Frau will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus ueberlegtem Ehrgeize Freveltaten veruebet, empoert sich das ganze Herz; und alle Kunst des Dichters kann sie uns nicht interessant machen. Wir staunen sie an, wie wir ein Monstrum anstaunen; und wenn wir unsere Neugierde gesaettiget haben, so danken wir dem Himmel, dass sich die Natur nur alle tausend Jahre einmal so verirret, und aergern uns ueber den Dichter, der uns dergleichen Missgeschoepfe fuer Menschen verkaufen will, deren Kenntnis uns erspriesslich sein koennte. Man gehe die ganze Geschichte durch; unter funfzig Frauen, die ihre Maenner vom Throne gestuerzet und ermordet haben, ist kaum eine, von der man nicht beweisen koennte, dass nur beleidigte Liebe sie zu diesem Schritte bewogen. Aus blossem Regierungsneide, aus blossem Stolze das Zepter selbst zu fuehren, welches ein liebreicher Ehemann fuehrte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele, nachdem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen, haben diese Regierung hernach mit allem maennlichen Stolze verwaltet: das ist wahr. Sie hatten bei ihren kalten, muerrischen, treulosen Gatten alles, was die Unterwuerfigkeit Kraenkendes hat, zu sehr erfahren, als dass ihnen nachher ihre mit der aeussersten Gefahr erlangte Unabhaengigkeit nicht um so viel schaetzbarer haette sein sollen. Aber sicherlich hat keine das bei sich gedacht und empfunden, was Corneille seine Kleopatra selbst von sich sagen laesst; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der groesste Boesewicht weiss sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst zu ueberreden, dass das Laster, welches er begeht, kein so grosses Laster sei, oder dass ihn die unvermeidliche Notwendigkeit es zu begehen zwinge. Es ist wider alle Natur, dass er sich des Lasters, als Lasters, ruehmet; und der Dichter ist aeusserst zu tadeln, der aus Begierde, etwas Glaenzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen laesst, als ob seine Grundneigungen auf das Boese, als auf das Boese, gehen koennten.

Dergleichen missgeschilderte Charaktere, dergleichen schaudernde Tiraden, sind indes bei keinem Dichter haeufiger, als bei Corneillen, und es koennte leicht sein, dass sich zum Teil sein Beiname des Grossen mit darauf gruende. Es ist wahr, alles atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines faehig sein sollte, und wirklich auch keines faehig ist: das Laster. Den Ungeheuern, den Gigantischen haette man ihn nennen sollen; aber nicht den Grossen. Denn nichts ist gross, was nicht wahr ist.

Einunddreissigstes Stueck Den 14. August 1767

In der Geschichte raechet sich Kleopatra bloss an ihrem Gemahle; an Rodogunen konnte, oder wollte sie sich nicht raechen. Bei dem Dichter ist jene Rache laengst vorbei; die Ermordung des Demetrius wird bloss erzaehlt, und alle Handlung des Stuecks geht auf Rodogunen. Corneille will seine Kleopatra nicht auf halbem Wege stehen lassen; sie muss sich noch gar nicht geraechet zu haben glauben, wenn sie sich nicht auch an Rodogunen raechet. Einer Eifersuechtigen ist es allerdings natuerlich, dass sie gegen ihre Nebenbuhlerin noch unversoehnlicher ist, als gegen ihren treulosen Gemahl. Aber die Kleopatra des Corneille, wie gesagt, ist wenig oder gar nicht eifersuechtig; sie ist bloss ehrgeizig; und die Rache einer Ehrgeizigen sollte nie der Rache einer Eifersuechtigen aehnlich sein. Beide Leidenschaften sind zu sehr unterschieden, als dass ihre Wirkungen die naemlichen sein koennten. Der Ehrgeiz ist nie ohne eine Art von Edelmut, und die Rache streitet mit dem Edelmute zu sehr, als dass die Rache des Ehrgeizigen ohne Mass und Ziel sein sollte. Solange er seinen Zweck verfolgt, kennet sie keine Grenzen; aber kaum hat er diesen erreicht, kaum ist seine Leidenschaft befriediget, als auch seine Rache kaelter und ueberlegender zu werden anfaengt. Er proportioniert sie nicht sowohl nach dem erlittenen Nachteile, als vielmehr nach dem noch zu besorgenden. Wer ihm nicht weiter schaden kann, von dem vergisst er es auch wohl, dass er ihm geschadet hat. Wen er nicht zu fuerchten hat, den verachtet er; und wen er verachtet, der ist weit unter seiner Rache. Die Eifersucht hingegen ist eine Art von Neid; und Neid ist ein kleines, kriechendes Laster, das keine andere Befriedigung kennet, als das gaenzliche Verderben seines Gegenstandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann sie versoehnen; da die Beleidigung, die sie erwecket hat, nie aufhoeret, die naemliche Beleidigung zu sein, und immer waechset, je laenger sie dauert: so kann auch ihr Durst nach Rache nie erloeschen, die sie spat oder frueh, immer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade so ist die Rache der Kleopatra beim Corneille; und die Misshelligkeit, in der diese Rache also mit ihrem Charakter stehet, kann nicht anders als aeusserst beleidigend sein. Ihre stolzen Gesinnungen, ihr unbaendiger Trieb nach Ehre und Unabhaengigkeit, lassen sie uns als eine grosse, erhabne Seele betrachten, die alle unsere Bewunderung verdienet. Aber ihr tueckischer Groll; ihre haemische Rachsucht gegen eine Person, von der ihr weiter nichts zu befuerchten stehet, die sie in ihrer Gewalt hat, der sie, bei dem geringsten Funken von Edelmute, vergeben muesste; ihr Leichtsinn, mit dem sie nicht allein selbst Verbrechen begeht, mit dem sie auch andern die unsinnigsten so plump und geradehin zumutet: machen sie uns wiederum so klein, dass wir sie nicht genug verachten zu koennen glauben. Endlich muss diese Verachtung notwendig jene Bewunderung aufzehren, und es bleibt in der ganzen Kleopatra nichts uebrig, als ein haessliches, abscheuliches Weib, das immer sprudelt und raset, und die erste Stelle im Tollhause verdienet.

Aber nicht genug, dass Kleopatra sich an Rodogunen raechet: der Dichter will, dass sie es auf eine ganz ausnehmende Weise tun soll. Wie faengt er dieses an? Wenn Kleopatra selbst Rodogunen aus dem Wege schafft, so ist das Ding viel zu natuerlich: denn was ist natuerlicher, als seine Feindin hinzurichten? Ginge es nicht an, dass zugleich eine Liebhaberin in ihr hingerichtet wuerde? Und dass sie von ihrem Liebhaber hingerichtet wuerde? Warum nicht? Lasst uns erdichten, dass Rodogune mit dem Demetrius noch nicht voellig vermaehlet gewesen; lasst uns erdichten, dass nach seinem Tode sich die beiden Soehne in die Braut des Vaters verliebt haben; lasst uns erdichten, dass die beiden Soehne Zwillinge sind, dass dem aeltesten der Thron gehoeret, dass die Mutter es aber bestaendig verborgen gehalten, welcher von ihnen der aelteste sei; lasst uns erdichten, dass sich endlich die Mutter entschlossen, dieses Geheimnis zu entdecken, oder vielmehr nicht zu entdecken, sondern an dessen Statt denjenigen fuer den aeltesten zu erklaeren und ihn dadurch auf den Thron zu setzen, welcher eine gewisse Bedingung eingehen wolle; lasst uns erdichten, dass diese Bedingung der Tod der Rodogune sei. Nun haetten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen sind in Rodogunen sterblich verliebt; wer von beiden seine Geliebte umbringen will, der soll regieren.

Schoen; aber koennten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Koennten wir die guten Prinzen nicht noch in groessere Verlegenheit setzen? Wir wollen versuchen. Lasst uns also weiter erdichten, dass Rodogune den Anschlag der Kleopatra erfaehrt; lasst uns weiter erdichten, dass sie zwar einen von den Prinzen vorzueglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat, auch sonst keinem Menschen es bekannt hat, noch bekennen will, dass sie fest entschlossen ist, unter den Prinzen weder diesen geliebtern, noch den, welchem der Thron heimfallen duerfte, zu ihrem Gemahle zu waehlen, dass sie allein den waehlen wolle, welcher sich ihr am wuerdigsten erzeigen werde; Rodogune muss geraechet sein wollen; muss an der Mutter der Prinzen geraechet sein wollen; Rodogune muss ihnen erklaeren: wer mich von euch haben will, der ermorde seine Mutter!

Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intrige! Diese Prinzen sind gut angekommen! Die sollen zu tun haben, wenn sie sich herauswickeln wollen! Die Mutter sagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde seine Geliebte! Und die Geliebte sagt: wer mich haben will, ermorde seine Mutter! Es versteht sich, dass es sehr tugendhafte Prinzen sein muessen, die einander von Grund der Seele lieben, die viel Respekt fuer den Teufel von Mama, und ebensoviel Zaertlichkeit fuer eine liebaeugelnde Furie von Gebieterin haben. Denn wenn sie nicht beide sehr tugendhaft sind, so ist die Verwicklung so arg nicht, als es scheinet; oder sie ist zu arg, dass es gar nicht moeglich ist, sie wieder aufzuwickeln. Der eine geht hin und schlaegt die Prinzessin tot, um den Thron zu haben: damit ist es aus. Oder der andere geht hin und schlaegt die Mutter tot, um die Prinzessin zu haben: damit ist es wieder aus. Oder sie gehen beide hin und schlagen die Geliebte tot, und wollen beide den Thron haben: so kann es gar nicht aus werden. Oder sie schlagen beide die Mutter tot, und wollen beide das Maedchen haben: und so kann es wiederum nicht aus werden. Aber wenn sie beide fein tugendhaft sind, so will keiner weder die eine noch die andere totschlagen; so stehen sie beide huebsch und sperren das Maul auf, und wissen nicht, was sie tun sollen: und das ist eben die Schoenheit davon. Freilich wird das Stueck dadurch ein sehr sonderbares Ansehen bekommen, dass die Weiber darin aerger als rasende Maenner, und die Maenner weibischer als die armseligsten Weiber handeln: aber was schadet das? Vielmehr ist dieses ein Vorzug des Stueckes mehr; denn das Gegenteil ist so gewoehnlich, so abgedroschen!—

Doch im Ernste: ich weiss nicht, ob es viel Muehe kostet, dergleichen Erdichtungen zu machen; ich habe es nie versucht, ich moechte es auch schwerlich jemals versuchen. Aber das weiss ich, dass es einem sehr sauer wird, dergleichen Erdichtungen zu verdauen.

Nicht zwar, weil es blosse Erdichtungen sind; weil nicht die mindeste Spur in der Geschichte davon zu finden. Diese Bedenklichkeit haette sich Corneille immer ersparen koennen. "Vielleicht", sagt er, "duerfte man zweifeln, ob sich die Freiheit der Poesie so weit erstrecket, dass sie unter bekannten Namen eine ganze Geschichte erdenken darf; so wie ich es hier gemacht habe, wo nach der Erzaehlung im ersten Akte, welche die Grundlage des Folgenden ist, bis zu den Wirkungen im fuenften, nicht das geringste vorkoemmt, welches einigen historischen Grund haette. Doch", faehrt er fort, "Mich duenkt, wenn wir nur das Resultat einer Geschichte beibehalten, so sind alle vorlaeufige Umstaende, alle Einleitungen zu diesem Resultate in unserer Gewalt. Wenigstens wuesste ich mich keiner Regel dawider zu erinnern, und die Ausuebung der Alten ist voellig auf meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die 'Elektra' des Sophokles mit der 'Elektra' des Euripides, und sehe, ob sie mehr miteinander gemein haben, als das blosse Resultat, die letzten Wirkungen in den Begegnissen ihrer Heldin, zu welchen jeder auf einem besondern Wege, durch ihm eigentuemliche Mittel gelanget, so dass wenigstens eine davon notwendig ganz und gar die Erfindung ihres Verfassers sein muss. Oder man werfe nur die Augen auf die 'Iphigenia in Taurika', die uns Aristoteles zum Muster einer vollkommenen Tragoedie gibt, und die doch sehr darnach aussieht, dass sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, indem sie sich bloss auf das Vorgeben gruendet, dass Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare, auf welchem sie geopfert werden sollte, entrueckt und ein Reh an ihrer Stelle untergeschoben habe. Vornehmlich aber verdient die 'Helena' des Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die Episoden, sowohl der Knoten als die Aufloesung, gaenzlich erdichtet sind, und aus der Historie nichts als die Namen haben."

Allerdings durfte Corneille mit den historischen Umstaenden nach Gutduenken verfahren. Er durfte z.E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat sehr unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte nachrechnet, dass Rodogune so jung nicht koenne gewesen sein; sie habe den Demetrius geheiratet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenigstens zwanzig Jahre haben muessten, noch in ihrer Kindheit gewesen waeren. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Demetrius gar nicht geheiratet; sie war sehr jung, als sie der Vater heiraten wollte, und nicht viel aelter, als sich die Soehne in sie verliebten. Voltaire ist mit seiner historischen Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner allgemeinen Weltgeschichte dafuer verifizieren wollte!

Zweiunddreissigstes Stueck Den 18. August 1767

Mit den Beispielen der Alten haette Corneille noch weiter zurueckgehen koennen. Viele stellen sich vor, dass die Tragoedie in Griechenland wirklich zur Erneuerung des Andenkens grosser und sonderbarer Begebenheiten erfunden worden; dass ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die Fusstapfen der Geschichte zu treten und weder zur Rechten noch zur Linken auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis liess sich um die historische Richtigkeit ganz unbekuemmert.16 Es ist wahr, er zog sich darueber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, dass Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst verstanden: so laesst sich den Folgerungen, die man aus seiner Missbilligung ziehen koennte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von seiten des Nutzens, ihrer noch nicht wuerdig erzeigen konnte. Thespis ersann, erdichtete, liess die bekanntesten Personen sagen und tun, was er wollte: aber er wusste seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich noch lehrreich zu machen. Solon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne die geringste Vermutung von dem Nuetzlichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu fuehren, leicht von uebeln Folgen sein koennte.

Ich fuerchte sehr, Solon duerfte auch die Erdichtungen des grossen Corneille nichts als leidige Luegen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen? Machen sie in der Geschichte, die er damit ueberladet, das Geringste wahrscheinlicher. Sie sind nicht einmal fuer sich selbst wahrscheinlich. Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der Erdichtungskraft; und er haette doch wohl wissen sollen, dass nicht das blosse Erdichten, sondern das zweckmaessige Erdichten, einen schoepfrischen Geist beweise.

Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Soehne mordet; eine solche Tat kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich vor, sie in einer Tragoedie zu behandeln. Aber die Geschichte sagt ihm weiter nichts, als das blosse Faktum, und dieses ist ebenso graesslich als ausserordentlich. Es gibt hoechstens drei Szenen, und da es von allen naehern Umstaenden entbloesst ist, drei unwahrscheinliche Szenen.—Was tut also der Poet?

So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrscheinlichkeit oder die magere Kuerze der groessere Mangel seines Stueckes scheinen.

Ist er in dem ersten Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen muessen. Unzufrieden, ihre Moeglichkeit bloss auf die historische Glaubwuerdigkeit zu gruenden, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfaelle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmaehliche Stufen durchzufuehren: dass wir ueberall nichts als den natuerlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; dass wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun laesst, bekennen muessen, wir wuerden ihn, in dem naemlichen Grade der Leidenschaft, bei der naemlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; dass uns nichts dabei befremdet, als die unmerkliche Annaeherung eines Zieles, von dem unsere Vorstellungen zurueckbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreisst, und voll Schrecken ueber das Bewusstsein befinden, auch uns koenne ein aehnlicher Strom dahinreissen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Gebluete noch so weit von uns entfernt zu sein glauben.—Und schlaegt der Dichter diesen Weg ein, sagt ihm sein Genie, dass er darauf nicht schimpflich ermatten werde: so ist mit eins auch jene magere Kuerze seiner Fabel verschwunden; es bekuemmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfaellen fuenf Akte fuellen wolle; ihm ist nur bange, dass fuenf Akte alle den Stoff nicht fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer mehr und mehr vergroessert, wenn er einmal der verborgnen Organisation desselben auf die Spur gekommen und sie zu entwickeln verstehet.

Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstoessig sein, dass er vielmehr eben hierin das Wunderbare desselben zu finden vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern duerfe, wenn er sich nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiss so wenig, worin eigentlich dieses Schrecken und dieses Mitleid bestehet, dass er, um jenes hervorzubringen, nicht sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure Dinge genug haeufen zu koennen glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den ausserordentlichsten, graesslichsten Ungluecksfaellen und Freveltaten nehmen zu muessen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Kleopatra, eine Moerderin ihres Gemahls und ihrer Soehne, aufgesagt, so sieht er, um eine Tragoedie daraus zu machen, weiter nichts dabei zu tun, als die Luecken zwischen beiden Verbrechen auszufuellen, und sie mit Dingen auszufuellen, die wenigstens ebenso befremdend sind, als diese Verbrechen selbst. Alles dieses, seine Erfindungen und die historischen Materialien, knetet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman zusammen; und wenn er es so gut zusammengeknetet hat, als sich nur immer Haecksel und Mehl zusammenkneten lassen: so bringt er seinen Teig auf das Drahtgerippe von Akten und Szenen, laesst erzaehlen und erzaehlen, laesst rasen und reimen,—und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder saurer ankoemmt, ist das Wunder fertig; es heisst ein Trauerspiel, —wird gedruckt und aufgefuehrt,—gelesen und angesehen,—bewundert oder ausgepfiffen,—beibehalten oder vergessen,—so wie es das liebe Glueck will. Denn et habent sua fata libelli.

Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den grossen Corneille zu machen? Oder brauche ich sie noch lange zu machen?—Nach dem geheimnisvollen Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist seine "Rodogune", nun laenger als hundert Jahr, als das groesste Meisterstueck des groessten tragischen Dichters, von ganz Frankreich und gelegentlich mit von ganz Europa bewundert worden. Kann eine hundertjaehrige Bewunderung wohl ohne Grund sein? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1646 bis 1767 allein dem hamburgischen Dramaturgisten aufbehalten, Flecken in der Sonne zu sehen und ein Gestirn auf ein Meteor herabzusetzen?

O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte sass einmal ein ehrlicher Hurone in der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war; und vor langer Weile studierte er die franzoesischen Poeten; diesem Huronen wollte die "Rodogune" gar nicht gefallen. Hernach lebte, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, irgendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute des sechzehnten Saeculi voll, und der fand an der "Rodogune" gleichfalls vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn, weil er reich war und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer armen verlassnen Enkelin dieses grossen Dichters an, liess sie unter seinen Augen erziehen, lehrte sie huebsche Verse machen, sammelte Almosen fuer sie, schrieb zu ihrer Aussteuer einen grossen eintraeglichen Kommentar ueber die Werke ihres Grossvaters usw.) aber gleichwohl erklaerte er die "Rodogune" fuer ein sehr ungereimtes Gedicht und wollte sich des Todes verwundern, wie ein so grosser Mann, als der grosse Corneille, solch widersinniges Zeug habe schreiben koennen.—Bei einem von diesen ist der Dramaturgist ohnstreitig in die Schule gegangen; und aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Franzose, der den Auslaendern ueber die Fehler eines Franzosen die Augen eroeffnet. Diesem ganz gewiss betet er nach;—oder ist es nicht diesem, wenigstens dem Welschen,—wo nicht gar dem Huronen. Von einem muss er es doch haben. Denn dass ein Deutscher selbst daechte, von selbst die Kuehnheit haette, an der Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das einbilden?

Ich rede von diesen meinen Vorgaengern mehr bei der naechsten Wiederholung der "Rodogune". Meine Leser wuenschen aus der Stelle zu kommen; und ich mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Uebersetzung, nach welcher dieses Stueck aufgefuehret worden. Es war nicht die alte Wolfenbuettelsche vom Bressand, sondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch ungedruckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die beste von dieser Art nicht schaemen, und ist voller starken, gluecklichen Stellen. Der Verfasser aber, weiss ich, hat zu viel Einsicht und Geschmack, als dass er sich einer so undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte. Corneillen gut zu uebersetzen, muss man bessere Verse machen koennen, als er selbst.

16.Diogenes Laertius, Lib. I. Sec. 59.
Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
30 eylül 2018
Hacim:
620 s. 1 illüstrasyon
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