Kitabı oku: «Lipstick Traces», sayfa 10

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MICHAEL JACKSON

steht mit Präsident Ronald Reagan im Rosengarten des Weißen Hauses, um einen Preis dafür entgegenzunehmen, dass er mit der Verwendung seines Thriller-Hits »Beat It« für einen Fernsehspot gegen Alkohol am Steuer einverstanden war. In Berichten über das Ereignis zeigt man einen Schnipsel des besagten Werbespots: Eine Skelett-Hand ergreift die Hand eines noch Lebenden. Man wird unwillkürlich an das Deckengemälde in Michelangelos Sixtinischer Kapelle erinnert, auf dem Adam die Hand Gottes berührt; ebenso drängt sich der Gedanke auf, dass Michael Jackson zu einer Art Gott wird. In den Fernsehnachrichten zeigt man wieder den Rosengarten. »Wenn das kein Thriller ist«, sagt der Präsident. Vorher hatte sich Jackson für 5,5 Millionen Dollar einverstanden erklärt, dass man seinen Thriller-Hit »Billie Jean« in einen Werbespot für Pepsi verwandelte.

Genau genommen gibt es zwei Werbespots fürs Fernsehen, beide sind mit zahlreichen Andeutungen von Hybris, von Tragödie belastet. In dem ersten gleiten und huschen junge schwarze Breaktänzer über die Straßen einer Stadt; als Jackson und seine Brüder erscheinen, bleiben die Tänzer ehrfürchtig stehen. Von einem winzigen präpubertären Virtuoso angeführt, lassen sie sich nicht unterkriegen und bekräftigen ihre Authentizität als in der Volkskultur verwurzelte Tänzer im Gegensatz zur – nein: im Einklang (der Werbespot verkündet ja, in Amerika könne jeder zu einem Michael Jackson werden) mit der Authentizität des Stars als Star. Bald erfuhr man, der winzige Virtuoso habe sich beim Breakdance den Hals gebrochen und sei verstorben.

Genau wie das Gerücht, Annette Funicello habe sich den Arm gebrochen, als sie aus dem Bus einem Fan zuwinkte, traf auch diese Story nicht zu; Rundfunksender und Zeitungen, die entsprechende Nachrufe verbreitet hatten, brachten Richtigstellungen. Doch das war nur ein Vorgeplänkel. Während der Dreharbeiten zu einem zweiten Pepsi-Werbespot, bei dem Jackson von einer Bühne hinabschritt, um sich zum Lobe des Getränks zu seinen Brüdern zu gesellen, kündigten grelle Explosionen seine Ankunft an, wobei er Verbrennungen davontrug. Die nun folgende Publicity war für Pepsi wie Jackson so einträglich, dass einige Stein und Bein schworen, der Unfall sei getürkt worden. Am Tag vor der offiziellen Premiere der Werbespots, bei der Grammy-Verleihung für das Jahr 1984 (bei der die Werbespots, für die wiederum geworben wurde, der Öffentlichkeit wie neue Schallplatten, wie künstlerische Aussagen präsentiert wurden), verwendeten Nachrichtensendungen im Fernsehen, die immer noch tägliche Bulletins über Jacksons Gesundheitszustand brachten, Ausschnitte der Werbespots als neues Bildmaterial. Jackson erschien bei der Preisverleihung und heimste acht Grammys ein; als er vortrat, um den letzten entgegenzunehmen, nahm er seine Sonnenbrille ab.

All das ereignete sich an dem Ort, den der Situationist Guy Debord den »Himmel des Spektakels« genannt hatte. »Ich bin nichts, und ich müsste alles sein«, hatte der junge Karl Marx geschrieben, als er den revolutionären Impuls definierte. »Das Spektakel«, wie Debord das Konzept in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelte, war zugleich die Geiselnahme wie das Gefängnis dieses Impulses. Es war ein herrliches Gefängnis, in dem das ganze Leben als permanente Vorstellung aufgeführt wurde … eine Vorstellung, schrieb Debord, wo »alles, was direkt gelebt wurde, sich zu einer Repräsentation entwickelt hat«, zu einem herrlichen Kunstwerk. Das einzige Problem war absolut: »… denn wobei das Selbst nur repräsentiert und vorgestellt ist«, lautet ein von Debord benutztes Hegel-Zitat, »ist es nicht wirklich; wo es vertreten ist, ist es nicht.«

»Das Spektakel«, schrieb Debord, sei »das Kapital, das einen solchen Akkumulationsgrad erreicht, dass es zum Bild wird.« Eine nie enden wollende Akkumulierung von Spektakeln – Werbung, Unterhaltung, Verkehr, Wolkenkratzer, politische Kampagnen, Warenhäuser, Sportereignisse, Nachrichtensendungen, Kunstexkursionen, Kriege im Ausland, Raketenstarts – ergab eine moderne Welt, eine Welt, in der die gesamte Kommunikation in eine Richtung floss, von den Mächtigen zu den Machtlosen. Man konnte nicht reagieren, widersprechen oder einschreiten, wollte es aber auch gar nicht. Im Spektakel war Passivität zugleich Mittel und Zweck eines großen verborgenen Projekts, eines Projekts gesellschaftlicher Kontrolle. Unter den Bedingungen seiner speziellen Form von Hegemonie produzierte das Spektakel natürlich keine Schauspieler, sondern Zuschauer: moderne Männer und Frauen, die Bürger der höchstentwickelten Gesellschaften auf Erden, die sich begeistert alles ansahen, was man ihnen zum Ansehen vorsetzte.

Folgte man Debord, gehörten diese Menschen demokratischen Gesellschaften an: Demokratien falscher Begierden. Man konnte zwar nicht eingreifen, wollte es aber auch gar nicht, weil das Spektakel als Mechanismus gesellschaftlicher Kontrolle ein inneres Spektakel der Teilnahme, der freien Wahl aufführte. Zu Hause wählte man zwischen Fernsehprogrammen aus; in der Stadt wählte man zwischen den ungezählten auf dem Markt befindlichen Variationen jedes Produktes. Wie eine avantgardistische Performance führte das Spektakel eine Ideologie der Freiheit auf.

Ich bin nichts, und du bist alles, sagt die Performance-Künstlerin zu ihrem Publikum. Sie verlässt die Bühne, schreitet zu der zahlenden Menge hinab, verschließt den Mund mit Klebeband und zieht sich aus. »Macht mit mir, was ihr wollt«, signalisiert sie pantomimisch, verwandelt sich in ein Objekt, bevollmächtigt das Publikum, legt jede Autorität des Künstlers ab, und doch bleibt diese Autorität irgendwie erhalten. Die natürlich aktive Künstlerin imitiert die natürliche Passivität der Menge: Mit gespreizten Beinen liegt sie auf dem Rücken, fordert ihr Publikum auf, sie zu ficken, sie in Brand zu setzen, sie zum Reden zu bewegen, sie anzupinkeln, sie nicht zu beachten, zu streiten und dann wegen der Frage handgreiflich zu werden, was du oder ich als Nächstes tun sollten. Das alles ist bei avantgardistischen Performances tatsächlich passiert. Doch wenn das Selbst dort nicht ist, »wo es vertreten ist«, sind diese Dinge gar nicht wirklich geschehen, weil nur der Segen des Künstlers bewirkt hat, dass die anonymen Gestalten in der Menge scheinbar schauspielern. Sobald der Künstler seinen Segen zurückzieht (nicht etwas so Grobes wie »HALT!«, eher eine Assistentin, die verkündet: »Die Performance ist zu Ende«), kehren die Ersatzschauspieler auf ihre Plätze zurück. Sie werden wieder Zuschauer und fühlen sich wohl in ihrer Haut … wie sie selbst.

Wie Fernsehzuschauer, die sich einbilden, aus einer unendlichen Anzahl von Sendern ihr eigenes Unterhaltungsprogramm zusammenzustellen, haben die Leute im Publikum das Gefühl, in das Spektakel des Künstlers eingegriffen zu haben, was nicht stimmt. Sie haben gemäß den Regeln des Künstlers gespielt, wo angebliche Unwägbarkeiten wie Zufall, Risiko und Gewalt von Anfang an festgelegt waren. Der einzige echte Eingriff wäre, wenn ein Zuschauer vorträte und riefe: »Jetzt bin ich der Künstler, ihr müsst machen, was ich will, mein Spiel müsst ihr spielen, und zwar …« Dann sähen sich das übrige Publikum und der eigentliche Künstler vor eine echte Wahl gestellt, eine Wahl, die alle Unwägbarkeiten von Epistemologie, Ästhetik, Politik und gesellschaftlichem Leben beträfe. Das wäre, als würde einer der Fans, der bei der Baseball World Series traditionell von der Tribüne springt, plötzlich am Spiel teilnehmen und alle dazu bringen, ein ganz neues Spiel zu spielen; als würde sich eine Wissenschaftlerin mit einer Kiste von Aladins Wunderlampen an einem Tisch im Kaufhaus Macy’s niederlassen und allein durch ihre Anwesenheit den Wert aller anderen Güter ruinieren … doch wie das Eingreifen des Zuschauers, der sich zum Künstler erklärt, ist so etwas noch nie passiert.

SO FUNKTIONIERTE

das Spektakel auf den prosaischsten Ebenen des Alltagslebens, aber Debord hatte weit mehr im Sinn. Als Theater war das Spektakel auch eine Kirche, »der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion«. Moderne Fähigkeiten, Beherrschung der Natur durch die Technik, die mögliche Aufhebung des Reichs der Notwendigkeit in der modernen Überflussgesellschaft »hatten die religiösen Wolken nicht vertrieben, in die die Menschen ihre von ihnen losgerissenen, eigenen Kräfte gesetzt hatten: sie haben sie nur mit einer weltlichen Grundlage verbunden«.

Diese irdische Basis war der moderne Kapitalismus, eine ökonomische Seinsform, die sich in den fünfziger Jahren weit über das bloße Produzieren augenscheinlich lebensnotwendiger Güter und Luxusgüter hinaus entwickelte; nachdem er die materiellen Bedürfnisse befriedigt hatte, wandte sich der Kapitalismus als Spektakel der Seele zu. Er wandte sich einzelnen Männern und Frauen zu, nahm von ihren subjektiven Emotionen und Erfahrungen Besitz, machte aus diesen ehemals flüchtigen Phänomenen objektive reproduzierbare Waren, führte sie auf dem Markt ein, setzte ihre Preise fest und verkaufte sie dann wieder an diejenigen, die Emotionen und Erfahrungen früher aus sich selbst heraus geschöpft hatten, an Menschen, die als Gefangene des Spektakels derartige Dinge jetzt nur noch auf dem Markt fanden.

Es waren diese besonderen Waren, Güter, deren objektive Form zur Tarnung ihres subjektiven Inhalts diente (der Anzug, der Status trug, die LP, die Identität spielte), die bis in den Himmel des Spektakels vordrangen. Hier wiederholte sich ein Wunder, so seltsam, wie je von irgendeiner Religion behauptet, immer und immer wieder, tagtäglich. Was man einmal selbst gewesen war, wurde einem nun als unerreichbares, aber unwiderstehlich verlockendes Image von jemandem gezeigt, der man, in dieser besten aller möglichen Welten, werden konnte.

In solch einer Welt konsumierte man letztlich nicht irgendetwas Gewöhnliches, sondern sich selbst … was man, inzwischen in den materiellen Umbau der religiösen Illusion entrückt, wohin man seine eigenen Kräfte abgegeben hatte, als etwas anderes erlebte: als ein Ding. Die Marxisten entdeckten Entfremdung am Arbeitsplatz, wo man dem Arbeiter wegnahm, was er produziert hatte. Debord glaubte, materieller Überfluss und technische Fertigkeiten erlaubten es allen Menschen zum ersten Mal in der Geschichte, sich bewusst zu verwirklichen, doch statt dieser radikalen Freiheit sah er nur deren Image, das Spektakel, in dem jede Handlung von sich selbst entfremdet war. Dabei wurde einem genommen, was man war. Dies war die moderne Welt; nicht nur das wahre Feld der Freiheit hatte sich erweitert, sondern ebenso Epistemologie, Ästhetik, Politik und das gesellschaftlich kontrollierte Leben.

Im August 1980 wurde auf der Lenin-Werft in Gdansk (Danzig), Polen, die Gewerkschaft Solidarität gegründet. Als Idee und freiheitliches Faktum verbreitete sich Solidarität bald landesweit, in Fabriken und Bauernhöfen, unter Büroangestellten und Intellektuellen, infizierte sogar die Streitkräfte und die Bürokratie des sowjetischen Satellitenstaates, der Polen seit 1944 war. »In den Volksdemokratien«, schrieb der polnische Emigrant Czeslaw Milosz 1953 in Verführtes Denken, »liegt … der Fall einer bewussten kollektiven Verstellung vor … Nach einiger Zeit ist man mit seiner Rolle so verwachsen, dass sich nicht mehr unterscheiden lässt, was eigen und was angelernt ist, und selbst Eheleute sprechen miteinander im Jargon der politischen Versammlungen. Die enge Verwachsenheit mit der aufgezwungenen Rolle schafft eine gewisse Erleichterung, weil die Spannung nun etwas gelockert werden kann.« Doch wenn das Alltagsleben im kommunistischen Polen ein Theaterstück war, so war Solidarität »Antitheater«, wie der polnische Untergrundverleger Czeslaw Bielecki in einem 1985 aus dem Gefängnis geschmuggelten Essay schrieb. Zum ersten Mal meldeten sich ungezählte Männer und Frauen öffentlich zu Wort, um für sich selbst zu sprechen, und man hörte ihnen zu; sie handelten und merkten bald, dass sie sich in neue Männer und Frauen verwandelten, nicht bereit, wie gewohnt weiterzumachen. Vor dem Hintergrund der Forderung von Solidarität, alle polnischen Bürger hätten das Recht, ihre Gesellschaft umzuformen, wurde die herrschende Clique gesäubert und durch eine Regierung ersetzt, die Reformen versprach, die noch Monate zuvor undenkbar gewesen waren. Plötzlich schien alles möglich. Trotz einer drohenden sowjetischen Intervention erwuchs aus dem neuen Umfeld von Gefahr und Sehnsüchten ein gutes Gefühl, und am Abend des 16. Dezember 1980, erneut in Gdansk, versammelten sich die Führer der Solidarität, die neue Regierung und die katholische Kirche mit 150 000 neuen Bürgern, um diesen Moment zu besiegeln.

Bei dieser Gelegenheit weihte man ein Denkmal für die Märtyrer des Dezembers 1970 ein, streikende Arbeiter, die von Regierungstruppen niedergemetzelt worden waren. Bis zur Geburt der Solidarität hatte man diese Männer aus der offiziellen Geschichte ihrer Gesellschaft verbannt, ihre Namen wurden nur heimlich genannt; jetzt verlas ein Filmstar ihre Namen, und in Gestalt dreier stählerner Kreuze, jedes dreiundvierzig Meter hoch, symbolisierten sie ihre Gesellschaft. »Für die Zuschauer der Zeremonie war das alles unglaublich, ungeheuerlich«, schrieb Neal Ascherson in The Polish August. »In diesem Augenblick wurde einem klar, wie viel in Polen passiert war und wie schnell.« Und doch, so fuhr er fort, trotz

all ihrer Pracht hatte diese Zeremonie in Gdansk etwas Befremdliches. Andrzej Wajda, der berühmteste Filmemacher Osteuropas, produzierte und führte Regie, setzte Beleuchtung, Geräusche, Musik, die menschliche Solostimme ein. Es war ein echtes Spektakel: Die gewöhnlichen Menschen, die das alles bewirkt hatten, weil sie auf ihrem Recht bestanden, sowohl Subjekte als auch Objekte der Geschichte zu sein, standen jetzt im Dunkeln und sahen sich die Veranstaltung an, als wären sie im Kino. Einmal meldeten sie sich zu Wort: Als der Gdansker Parteisekretär Tadeusz Fiszbach die Befreiung Polens durch die Rote Armee im Jahr 1944 erwähnte, drang ein leises Pfeifen durch die Menge. Doch davon abgesehen, blieben sie passiv.

EIN AUFSCHREI gellte durch ein staubiges Feld voller Teenager, Markenzeichen schwarzes Leder, Ketten und malträtierte Haare. »Verbietet Arbeit, verbietet Bezahlung!«, lautete der Aufschrei. »Die Menschen sterben.«

So begann das letzte Konzert des Rockmusikfestivals von Jarocin, eine Feier lauter Gitarren, exotischer Stilrichtungen und aggressiver Entfremdung …

Über 20 000 Jugendliche waren in diesem Monat angereist, um zu feiern, zu zelten und Bands zuzujubeln, die von Hoffnungslosigkeit, Ziellosigkeit und der Angst vor einem Atomkrieg sangen.

Solche Themen schallten fünf Nächte lang aus dieser Kleinstadt in dem fruchtbaren Ackerland in Polens mittlerem Westen, zum Unwillen der kommunistischen Behörden wie auch von Emissären der römisch-katholischen Kirche. Die auftretenden Bands trugen Namen wie Knast, Prozess und Gruppe Tote Krätze …

San Francisco Chronicle, 28. August 1985

Debord hatte dies schon lange vorher treffend wiedergegeben, mit Worten, die nicht nur eine Pendlerfahrt oder eine Liebesnacht genau beschrieben, sondern die auch sein so zwiespältiges öffentliches Ereignis wie das des 16. Dezember 1980 in Gdansk vorhersagten. »Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten Objekts« – unserem idealisierten Selbst oder eines seiner Teile – »drückt sich so aus«, schrieb er 1967: »je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen akzeptiert, um so weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde. Die Äußerlichkeit des Spektakels im Verhältnis zum tätigen Menschen erscheint darin, dass seine eigenen Gesten nicht mehr ihm gehören, sondern einem anderen, der sie ihm vorführt«, und dieser »andere« war das personifizierte Spektakel, der Star des gesellschaftlichen Lebens, seien es Lech Walesa, Führer der Solidarität, oder die Märtyrer des Jahres 1970, seien es Jesus Christus, das Gesicht auf einer Reklametafel, das man auf der Fahrt zur Arbeit sah, oder das Gesicht des idealisierten Selbst, an das man während des Beischlafs dachte. Als solches war das idealisierte Selbst immer präsent, immer knapp außer Reichweite. Als Perversion der Freiheit war es, wie jede Perversion, erotisch; als Entfremdung war es mit dem Schauder verbunden, dass man es haarscharf nicht geschafft hatte, ein Gefühl, das einen immer wieder einen neuen Anlauf machen ließ. Wenn die Revolution im Grunde in dem Begehren wurzelte, sein eigenes Leben zu schaffen, eine so tiefe und eindringliche Sehnsucht, dass ihre Verwirklichung die Schaffung einer neuen Gesellschaft erforderte, so vereinnahmte das Spektakel diesen Wunsch und verwandelte ihn in den, ein Leben so zu führen, wie es bereits existierte, nämlich in der sich ständig erneuernden Utopie des Spektakels.

»SPEKTAKEL«

war Anfang der achtziger Jahre zu einer modischen Plattitüde der Kritik geworden, zu einem unscharfen, inhaltsleeren Begriff. Er bedeutete nur, dass das Bild einer Sache die Sache selbst überlagerte. Kritiker benutzten dieses Klischee nicht, um nachzudenken oder sich etwas vorzustellen, sondern um sich zu beklagen: Sie beklagten sich, die Leute schienen zu glauben, dass die USA mit Rambo-Filmen den Vietnamkrieg nachträglich gewinnen könne, die Konsumenten würden von Werbung verführt, statt sich rational zwischen Produkten zu entscheiden, Bürger wählten Schauspieler statt Sachfragen. Dies war Theater, aber Debord hatte darauf bestanden, es handele sich um die Kirche: Das Spektakel sei nicht nur Werbung oder Fernsehen, sondern eine komplette Welt. »Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern«, schrieb er und verwarf im Voraus die seinem Buch folgende platte Gesellschaftskritik, »sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen.«

Nichts zu sein würde in dieser gesellschaftlichen Welt alles sein, und alles sein würde nichts sein. »Sadat war ein Held der elektronischen Revolution«, schrieb Mohamed Heikal in Autumn of Fury: The Assassination of Sadat, »aber auch ihr Opfer. Als man sein Gesicht nicht mehr auf dem Bildschirm sah, schien es, als wären die elf Jahre seiner Regierung per Knopfdruck verschwunden.« Der Widerspruch war eine Tautologie, und die Tautologie war das Gefängnis: In der modernen Welt definierte das Spektakel die Realität, und diese Definition definierte die Irrealität. Wenn alles, was direkt gelebt wurde, zu einer Repräsentation geworden war, gab es kein wirkliches Leben, dennoch schien kein anderes Leben möglich zu sein. Der Siegeszug des Spektakels bestand darin, dass zwar nichts wirklich zu sein schien, ehe es in dem Spektakel aufgetaucht war, es aber bereits in dem Moment seines Auftauchens jede Wirklichkeit einbüßte, die es besessen hatte. »Jeder so festgesetzte Begriff gründet sich nur auf seinen Übergang in die Gegenseite«, schrieb Debord, »… das Wahre ist ein Moment des Falschen.«

Debord hatte »das Spektakel« zum Monster erklärt, zum Horrorfilm, zum Godzilla der Entfremdung. Zwanzig Jahre später verfasste er seine Theorie der modernen Gesellschaft, deren Prämissen gleichermaßen plausibel und befremdlich, klar und paranoid, offensichtlich und okkult klangen – und genauso ein Gefühl war es, 1984 in der Welt eines Michael Jackson zu leben. Es bedeutete, dass man die Taue am Liegeplatz kappte, dass man sich zugleich gedemütigt und erregt fühlte, dass man auf die Behauptung: »Das Wahre ist ein Moment des Falschen«, mit einem Achselzucken reagierte: »Warum auch nicht? Hast du sonst noch was zu bieten?« Das Spektakel schuf seine eigene Opposition und vereinnahmte sie: Ein Spektakel abzulehnen hieß, ein anderes zu fordern.

Was geschah in dem Jahr Michael Jacksons? Für die ersten paar Millionen, die Thriller kauften, waren Form und Inhalt, Subjektivität und Objektivität, Selbst und die anderen, Ware und Konsument eins. Diese paar Millionen kauften ein Album, das ihnen gefiel. Dann wurde Thriller ein Bild, ein Bild im Milieu des modernen Kapitalismus, im Himmel des Spektakels, des Guten: ein unwiderstehliches Symbol für Selbstverwirklichung und öffentlichen Triumph. Danach überlagerte die Form den Inhalt, was nicht bedeutete, dass Jacksons Botschaft im Glamour von Thriller unterging; es bedeutete, dass weder Form noch Inhalt auf die Platte als solche beschränkt blieben. Der Inhalt war nicht länger die Musik, die Form war nicht länger die Art, in welcher die Musik produziert wurde oder als Genre fungierte. Wie man auf das gesellschaftliche Ereignis namens Thriller reagierte, war nun der Inhalt, die Mechanik des Ereignisses war die Form.

Für Debord war die Gesellschaft des Spektakels die moderne Gesellschaft schlechthin, in keiner Hinsicht natürlich, ein interessenbestimmtes Konstrukt, aber dessen ungeachtet unveränderlich vollständig: »Realität erhebt sich mit dem Spektakel, und das Spektakel ist real.« Wie Thriller aus dem Popmilieu, der Symbolfabrik, entstand, konnte man die Platte als Spektakel des Spektakels begreifen, als Bindeglied zwischen dem Pop-Spektakel und dem größeren Spektakel, das, wie Thriller zu beweisen schien, das gesellschaftliche Leben war. Die Sex Pistols hatten die Menschen gezwungen, sich zu entscheiden … anfangs für oder gegen die Sex Pistols, dann, falls man einen von Johnny Rottens Auftritten miterlebte, für oder gegen Gott und Staat, Arbeit und Freizeit, den Künstler und sich selbst. Michael Jacksons Triumph bestand darin, den Leuten nicht mehr die Wahl zu lassen. Thriller drückte sein eigenes Realitätsprinzip durch: Die Musik war einfach da, ein Teil jeder Pendlerfahrt, eine Serenade bei jedem Botengang, ein Fixpunkt bei jedem Einkauf, eine Tatsache jeden Lebens. Man musste die Musik nicht mögen. Man brauchte sie nur zur Kenntnis zu nehmen … doch irgendwie hieß zur Kenntnis nehmen im Jahr Michael Jacksons, sie zu mögen.

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