Kitabı oku: «Platon und die Grundfragen der Philosophie», sayfa 5

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4. Die Apologie des Sokrates

Verurteilung und Tod seines Lehrers Sokrates waren für Platon einschneidende Erlebnisse. Es ist schwer zu bestimmen, inwiefern der Text Platons mit den Worten vor Gericht übereinstimmt oder abweicht. Platon lässt in seiner Apologia Sokratous nicht nur seinen Lehrer sich selbst verteidigen, sondern springt ihm umfassend bei, indem er dessen Lebensweise, sein ununterbrochenes Suchen nach der Wahrheit, einige seiner zentralen Ansichten, aber auch die Philosophie insgesamt verteidigt. Mit der Kompromisslosigkeit und der Radikalität, mit der Platon die Art seines Lehrers beschreibt, wollte er offensichtlich seiner maßlosen Bewunderung Ausdruck verleihen. Tatsächlich wurde Sokrates dadurch ein bleibendes Denkmal gesetzt.

4.1 Die Verteidigungsrede

Die Apologie des Sokrates ist die Verteidigungsrede von Sokrates vor dem Athener Geschworenengericht, wie sie uns von Platon überliefert ist.19 Wie wir aus dem Text erfahren, ist Sokrates in zwei gewichtigen Punkten angeklagt, die beide die Todesstrafe nach sich ziehen können – die von den Klägern auch schon bei Klageerhebung beantragt wurde. Der Hauptkläger heißt Meletos. Bei den Nebenklägern handelt es sich um den bekannten Athener Politiker Anytos, der wohl gleichzeitig auch der Strippenzieher der Anklage ist (vgl. Heitsch 2004, 138), und um Lykon. In Athen konnte jeder eine solche Klage führen, es gab keinen Staatsanwalt. Die drei Kläger führten in kunstvollen Reden aus, dass Sokrates verurteilt werden sollte, weil er die Jugend verführt hätte und nicht an die Staatsgötter glauben würde, sondern stattdessen neue Götter einführen möchte. Nach seiner Verteidigungsrede und dem Urteilsspruch, äußert sich Sokrates zur möglichen Strafe, und nach der Verurteilung zum Tod noch einmal in einem Schlusswort.

Sokrates meint, diese direkten Ankläger, die ihn vor Gericht gebracht hätten, seien nun gar nicht die schlimmsten. Weit fürchterlicher und gerade hier vor Gericht wirkmächtiger seien diejenigen, die ihn seit Jahren auf den Plätzen und den Straßen Athens verleumdet hätten. Diese sind den Athenern, die hier gegen ihn zu Gericht sitzen – Asebieprozesse dieser Art verlangten ein Volksgericht mit mehreren hundert so genannten Heliasten, durch Los bestimmte Richter –, jahrelang in den Ohren gelegen, was er doch für ein schlechter Mensch sei. Und das taten sie offenbar, ohne dass ihnen jemand widersprochen hätte. Wie sonst hätten sich die Gerüchte solange halten können? Da behaupteten einige, Sokrates beschäftigt sich mit den Dingen am Himmel und mit dem Unterirdischen. Deswegen meint man auch, dass er nicht an Götter glaube. Andere sagten, er kann durch seine Reden schwarz zu weiß machen und umgekehrt.

Gegen diese Vorwürfe will er sich zuerst verteidigen. Er versteht nämlich gar nichts von solchen „Wissenschaften“. Was den letzten Vorwurf angeht, so muss er zudem gestehen, dass er kein großer Redner sei, weswegen seine Ausführungen auch nicht so kunstvoll wie die seiner Ankläger ausfallen werden. Im Gegensatz zu seinen Vorrednern sage er einfach und frei heraus, was die Wahrheit ist: Er ist unschuldig, denn Unrecht hat er keines getan. Ihn als einen zu bezeichnen, der stark im Reden sei, ist nur angemessen, wenn das gleichbedeutend damit wäre, immer auch die Wahrheit zu sagen.

Zu Recht ließe sich fragen, was er denn getan hätte, dass ihm eine solch schlimme Nachrede entstanden ist, denn irgendwie muss er sich ja schlecht benommen haben, sonst würde man nicht so übel über ihn reden. Es ist, sagt Sokrates, eine „Art von Weisheit“ schuld an dem bösen Leumund. Sokrates hält diese Weisheit allerdings für etwas zutiefst Menschliches. Er erzählt den Athenern den Ursprung des Ganzen: Chairephon, der ein Freund von Sokrates war und den alle Athener offenbar kennen, hatte beim Orakel von Delphi gefragt, ob irgendjemand weiser sei, als er, Sokrates. Woraufhin die Pythia, die Seherin des Apoll, damals prompt geantwortet hatte, dass niemand weiser sei als er.

„Eigenartig“, habe Sokrates sich damals gedacht, „ich weiß doch eigentlich gar nichts, und da soll ich der Weiseste sein?“ Der Gott musste das irgendwie anders verstanden haben, denn er dürfte wohl nicht Unrecht haben – Götter täuschen sich höchst selten. So fasste Sokrates den Entschluss, zu prüfen, was es mit dem Wort des Gottes auf sich hat. Er ging zu jemandem, den alle für unglaublich gescheit halten, ein Politiker war es, und fragte ihn daraufhin aus, was der denn so alles wisse. Es stellte sich heraus, dass der Mann zwar vielen und vor allem sich selbst weise vorkam, fühlte man ihm aber auf den Zahn, bemerkte man recht schnell, dass das gar nicht der Fall sei. Besonders beliebt hat sich Sokrates dabei allerdings bei dem Mann nicht gemacht. Derjenige, den er gefragt hatte, war vielmehr ziemlich wütend, zumal wegen der Umstehenden, die alles gehört hatten. Sokrates aber dachte sich, weiser als dieser Mann, ist er nun jedenfalls. Und er kommt zu dem Schluss:

„Denn es mag wohl keiner von uns beiden etwas Rechtes oder Besonderes wissen; aber dieser meint etwas zu wissen, weiß aber nichts; ich aber, wiewohl ich nicht weiß, glaube ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses winzige Etwas weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube” (Apologie 21d).

Nachdem er noch mehrere Politiker befragt hatte, ging er zu den Dichtern. Diese stehen allgemein im Ruf, allerhand zu wissen. Sokrates fragte sie zu ihren besten Gedichten. Nun schienen wiederum alle Dabeistehenden weit mehr und sehr viel Sinnvolleres über diese Gedichte sagen zu können, als die Dichter selbst, was denen, als es so offen zutage trat, auch nicht behagte. Zuletzt ging er zu den Handwerkern. Diese wissen wenigstens etwas von ihren Künsten und tatsächlich, sie verstanden etwas davon. Weil sie aber das verstanden, meinten sie auch, in allen anderen wichtigen Dingen ganz hervorragend Bescheid zu wissen, womit es freilich auch wieder nicht weit her war. Diese Dummheit aber überragte ihren Sachverstand bei weitem, und weil Sokrates das zutage gefördert hatte, war er auch bei diesen verhasst. Andererseits, dachte er, musste man den Spruch des Orakels genau in diese Richtung interpretieren.

„Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein und mit diesem Orakel dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist und gar nichts. Und er scheint den Sokrates hier zu nennen, sich aber nur meines Namens dabei zu bedienen, indem er mich zum Beispiel erwählt, wie wenn er sagte: unter euch, ihr Menschen ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert sei, was die Weisheit anbelangt“ (Apologie 23af.).

Seitdem er das eingesehen hat, geht er überall herum, und fragt die Leute, die etwas zu wissen glauben, in Wirklichkeit aber gar keine Ahnung von dem haben, worüber sie reden. Viele Jüngere haben daraufhin angefangen, nachdem sie mit ihm zusammen gewesen waren, die Leute auf dieselbe Art zu fragen, und auch diese stießen auf den gleichen Befund. Die Befragten aber, statt sich an die eigene Nase zu fassen, schimpften dann auf Sokrates, er verderbe die Jugend, erforsche die Dinge am Himmel und könne Unrecht zu Recht machen. So jemand glaube aber gewiss an keine Götter. Wegen der Dichter nun habe ihn Meletos angeklagt, wegen der Handwerker und Politiker Anytos und wegen der Redner Lykon.

Das Entscheidende im Leben ist es offenbar, das Gute zu wissen und es lehren zu können. Es gibt eine ganze Menge von Leuten, die von sich behaupteten, eben das zu können. „Sophisten“ heißen diese und sie unterrichten für viel Geld die Söhne von Leuten, die sich das leisten können. Sokrates aber gibt an, von alledem nichts zu verstehen. Er ist sich also des Nichtwissens bewusst in Fragen, bei denen es um die Lebensführung geht. Was aber den Tod angeht, so fürchtet er diesen nicht. Denn wer weiß denn, ob der Tod wirklich ein Übel ist. Vielleicht ist der Tod ja für den Menschen das größte von allen Gütern (Apologie 29af.). Er, Sokrates, weiß nichts Genaueres darüber, aber wer meint, darüber mehr zu wissen, der lügt und weiß in Wirklichkeit wieder nichts.

Walter Bröcker (1999, 30) schreibt zu all dem: „Sokrates geht an die Grenze des Menschseins; das, was dem Menschen gut tut, kann er zuletzt nicht wissen. Dieses Wissen darüber, was das Gute ist, fehlt nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern dem Menschen eben als Menschen. Der Mensch gerät bei der Frage zu wissen, was das Gute für ihn sei, an eine Grenze, die er nicht überschreiten kann, mit der er sich für die Zukunft abfinden muss.“

Sokrates zählt noch seine Verdienste um die Stadt auf, im Rat und in den Ämtern, die er bekleidet hatte. Vor allem aber gebührt ihm der größte Dank, weil er sich so um die Bürger kümmert, dass sie besser würden. Wie der Sporn (myops – die Stechmücke) ein Ross antreibt, so ermahnt er sie immer wieder, indem er sie auf den öffentlichen Plätzen über ihre eingebildete Weisheit ausfragt.

Zudem berichtet er von einer besonderen inneren Stimme, die er besitzt, das Daimonion. Dieses warne ihn stets, wenn er im Begriff sei, etwas Unrechtes zu tun. Wahrscheinlich entstand ihm auch von daher der Vorwurf, er glaube nicht an Götter, sondern führe neue ein.

Die Athener verurteilen ihn dennoch als schuldig. Sokrates fordert indirekt die Todesstrafe für sich. Jede andere Strafe, Gefängnis oder Verbannung, hält er für sinnlos. Eine Geldstrafe könne er anbieten, für deren allergrößten Teil aber einige beim Prozess Anwesende, z. B. Kriton und Platon, bürgen müssen. Den Tod fürchtet er erstens nicht und zweitens kann ihn niemand auffordern, die Tätigkeiten, die er bisher ausgeübt hat, nämlich die Leute zu fragen, einzustellen. Das würde er in jedem Fall weitertun, schon weil es ihm der Gott Apoll befohlen habe. Auch nach der Verurteilung ist er hochgradig uneinsichtig und stur. Am Ende seiner Verteidigungsrede und nach der Verkündung des Todesurteils, fordert Sokrates die Richter auch noch dazu auf, seine Söhne mit seiner Methode zu prüfen, und wenn sie nicht, so wie er, das Richtige für die Seele, sondern Ehre und Reichtum suchten, zu verklagen und zu bestrafen. Und er ermahnt sogar die Richter, seinem Beispiel zu folgen, um die Menschen zu bessern. Sie leben schließlich weiter, er dagegen werde sterben müssen. Wer das bessere Los dabei ziehen wird, weiß Sokrates nicht, denn was es zuletzt mit dem Tod und dem Leben auf sich habe, wisse nur der Gott, nicht aber der Mensch.

4.2 Die Umstände des Prozesses

Zur Zeit des Prozesses gegen Sokrates, 399 v.Chr., herrschte in Athen eine große politische Krise. Das fünfte Jahrhundert hatte auch schon mit einer solchen begonnen, als die Perser in Griechenland einfielen. Die Griechen mit ihren Stadtstaaten und ihren internen Streitereien waren damals hoffnungslos überfordert gegen die zahlenmäßige Übermacht der Perser. Dennoch haben sie es geschafft, über Jahre hinweg den persischen Angriffen zu trotzen. Marathon, Salamis, Plataia sind die Orte der großen griechischen Siege über die Perser. Die Welt sähe heute ganz anders aus, wenn vor allem Athen dabei nicht eine so große Rolle gespielt hätte. Die Athener holten sich irgendwann die Kriegskasse des delisch-attischen Seebunds, in welche die Mitglieder, die keine eigenen Schiffe stellen konnten, einzahlten, in ihre Heimatstadt. Zur Abwehr der Bedrohung durch die Perser wurde nämlich eine ständige Militärflotte unterhalten. Der Unterhalt der Flotte und die Bauten auf der Akropolis wurden daraus finanziert, so dass das meiste Geld in Athen blieb.

Die finanziellen Ressourcen, die rege Bautätigkeit, der Flottenbau und die notwendigen Seemanöver hatten über Jahre hinweg Vollbeschäftigung zur Folge und den Athenern ging es in wirtschaftlicher Hinsicht sehr gut. Sie engagierten sich immer mehr in Literatur (die Tragödiendichter Aischylos, Sophokles, Euripides; der Komödiendichter Aristophanes; die Historiker Herodot und Thukydides stammten aus Athen oder lebten lange Zeit hier) und Kunst (uns sind in erster Linie die Architekturreste vor allem auf der Akropolis, dann Kleinkunst und Plastiken – häufig nur als römische Kopie – erhalten); die Sophisten fanden ein weites politisches und erzieherisches Betätigungsfeld vor; und Perikles baute die Demokratie aus, indem der politisch aktive Bürger durch Tagegelder von seiner Tätigkeit leben konnte.

Das schöne Leben ließ die Athener leichtsinnig werden. Am Ende des Jahrhunderts brachen sie einen fast dreißig Jahre dauernden Krieg mit Sparta vom Zaun, den so genannten Peloponnesischen Krieg, der von 431–404 v.Chr. dauerte. Dieser Krieg dehnte sich bis Nordgriechenland und Kleinasien, in den ganzen Ägäisraum und bis nach Sizilien und Unteritalien aus. Einige waghalsige Unternehmungen brachten die militärische Niederlage und den staats- und machtpolitischen Ruin. Danach ging es politisch recht turbulent zu, und Athen hat sich letztlich von den Verlusten des Krieges nie mehr erholt. Nach dem großen Krieg kamen durch die Unterstützung Spartas die Dreißig an die Macht, welche eine totalitäre Herrschaft errichteten und politische Pogrome veranstalteten. Auch Sokrates soll angestiftet worden sein, Unschuldige, die nicht mit dem Regime kollaborieren wollten, auszuliefern. Da er sich weigerte, kam er selbst ins Visier der Dreißig; und wie es in der Apologie (32c–e) heißt, soll er nur durch deren Sturz davongekommen sein.

Athen war zur Zeit des Sokrates ständigen politischen, ökonomischen und sozialen Krisen ausgesetzt. Es besteht der Verdacht, dass solche Situationen der Orientierungslosigkeit für den einzelnen und eine ganze Gesellschaft für philosophische Neuanfänge besonders anfällig sind, da die traditionellen Antworten auf die Fragen des Lebens nicht mehr ausreichen. Wenn in der äußeren Welt kein rechter Halt mehr für den Menschen zu finden ist, sucht er sich einen neuen.

Die Krise des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts ist durch die Demokratie und die Rolle der Sophistik in Athen20 ausgelöst worden und endete in einem großen, jahrelangen Krieg; Augustinus schrieb zur Zeit, als das römische Reich zerfiel, an der Grenze der Antike zum Mittelalter; Descartes versuchte zu Beginn der Neuzeit das gesamte Wissen auf eine neue Basis zu stellen und gegen alle Zweifel abzusichern. Eher philosophische Auslöser für Neuanfänge finden wir bei Kant, Husserl, Heidegger oder Wittgenstein – der letzte allerdings ohne Traditionsbezug. Aber auch diese wollten einen absoluten Neubeginn in der Philosophie.

Die Hilflosigkeit im Äußeren soll oftmals durch Sicherheit im Inneren überwunden werden. Das Äußere ist durch Vielfalt und Unübersichtlichkeit gekennzeichnet, das Innere durch Einfachheit und Durchschaubarkeit. Die Welt wird von einem Punkt aus erklärt, archimedisch sozusagen: Habe ich einen genug langen Hebel und einen festen Punkt, kann ich die Welt aus den Angeln heben. Von daher ergibt sich eine unbezweifelbare Ausgangslage und eine Übersicht über alles, was sich in der Welt findet. Am Anfang steht eine einfache Entscheidung, wie die Platons zwischen Meinung (doxa) und Wissen (epistêmê). Daraus wird ein theoretisches Konstrukt geschmiedet, das danach eine praktische Relevanz entfalten soll.

4.3 Die Verteidigungsrede als Schrift Platons

Es lassen sich vier einschlägige Gründe anführen, die Schriften Platons mit der Apologie beginnen zu lassen: Die Verteidigungsrede steht am Anfang der Verurteilung und Hinrichtung von Sokrates durch den athenischen Staat, die für Platon so unfassbar gewesen war, dass er den Glauben an diesen Staat und den Einfluss der Philosophie auf die Politik schier verlor. Mit der Apologie hat Platon seine Verzweiflung aufgearbeitet. Zweitens handelt es sich weitgehend um einen Monolog, während die anderen Schriften Platons Dialoge darstellen. Als Platon mit dem Schreiben beginnt, so könnte man meinen, ist er sich seiner darstellerischen Mittel noch nicht sicher gewesen. So verlegt er sich erst einmal auf das Ausführen dessen, was Sokrates vor Gericht gesagt hat. Das ist einfacher als das Konstruieren von Dialogen, das Platon erst später lernen wird. Drittens handelt es sich immerhin um die Verteidigungsrede seines Lehrers Sokrates. Platon mag die Sprache etwas geglättet und stilisiert, und das, was Sokrates in Wirklichkeit vor dem Athener Gericht gesagt hatte, in eine gewisse Ordnung gebracht haben, aber er wird wohl kaum die Worte seines Meisters in dieser entscheidenden und existentiellen Situation verschwiegen und statt dessen seine eigene Rede überliefert haben. Später kann die Verteidigungsrede aber nicht verfasst worden sein, weil er sich dann nicht mehr erinnert haben wird. Viertens gibt es in der Apologie keinen Verweis auf die späteren sogenannten Lehren Platons, die „Erinnerungslehre“ oder die „Ideenlehre“, und keine für die anderen Dialoge typischen Begriffsbestimmungen (vgl. hierzu Heitsch 2004, 163).

Was Sokrates vor Gericht gesagt hat, wissen wir nicht. Als Platons Schrift erschien, mögen sich noch einige daran erinnert haben, denen dann gleich aufgefallen wäre, dass Platon uns da seinen eigenen Text unterjubelt. Sollte Platon allerdings tatsächlich so dreist gewesen sein, uns seinen Text als den Wortlaut von Sokrates auszugeben, stellt sich die Frage: Was hat Sokrates denn tatsächlich vor Gericht gesagt? Und: Welche Inhalte oder Überzeugungen stammen dabei von ihm und welche sind gedankliche Weiterentwicklungen von Platon?

Tatsächlich glaubt niemand, dass Sokrates das alles vor Gericht wortwörtlich gesagt hat, wie es bei Platon steht. Ebenso gibt es berechtigte Zweifel daran, dass die Apologie die erste Schrift Platons ist. Diese Ansicht ist auch sehr gut zu begründen:

Die Apologie steht im Zusammenhang mit anderen Texten rund um den Prozess. Der textimmanenten zeitlichen Ordnung nach steht an erster Stelle der Eutyphron. In diesem spricht Sokrates mit dem gleichnamigen Theologen darüber, was das Fromme ist. Sokrates trifft Euthyphron vor dem Prytaneion, dem staatlichen Amtsgebäude, in dem er Formalitäten wegen der gegen ihn eingereichten Klage zu erledigen hat. Dann folgt die Verteidigungsrede vor Gericht, die Apologie des Sokrates, dann der Kriton über das rechte Tun, in dem Kriton Sokrates überreden will, aus dem Gefängnis zu fliehen, nachdem die Wächter bestochen wurden. Am Ende steht das letzte Gespräch vor dem Tod, der Phaidon, in dem es um die Unsterblichkeit der Seele geht und in dem am Ende geschildert wird, wie Sokrates den Giftbecher trinkt und stirbt. Dass Platon diese vier Episoden zusammen komponiert hat, steht außer Frage.

Ernst Heitsch nennt eine Reihe von Gründen, die dafür sprechen, dass die Apologie etwa 15 Jahre nach der Hinrichtung des Sokrates geschrieben wurde (vgl. Heitsch 2004, 164 f.): Zunächst einmal sprechen sprachliche Untersuchungen gegen eine ganz frühe Abfassung des Textes. Der Euthyphron ist dagegen auf jeden Fall nach Platons erster Sizilienreise entstanden (vgl. ebd.). Die Qualität der „Selbstdarstellung“ von Sokrates ist so gut, dass es sich schon um ein reiferes Werk handeln muss, und in keinem Fall ein Erstling sein kann. Anytos ist der berühmteste der Ankläger gegen Sokrates, er erhält aber in der Apologie nur wenig Raum (Sokrates führt darin seine Unterredung nur mit dem Hauptkläger Meletos). Diesen Umstand hat Platon im Menon ausgeglichen, in dem Anytos ausführlicher charakterisiert wird. Zudem ist dort seine Vernachlässigung in der Apologie dadurch ausgeglichen, dass Anytos eine Reihe von Drohungen gegen Sokrates ausspricht, die zum Prozess passen. Da der Menon später geschrieben wurde und die beiden Schriften diese Parallele aufweisen, muss die Apologie ebenfalls später geschrieben worden sein. Die Inhalte der Anklagen in der Apologie (Meletos) und im Menon (Anytos) sind identisch. Anytos bringt diese selbstbewusst vor, während der „politische Aktivist“ Meletos im Dialog mit Sokrates vor Gericht immer nur das zugibt, was dieser ihm gerade abnötigt. In Apologie 39cd beschreibt Sokrates den politischen Mord an ihm als unergiebig, denn seine Nachfolger werden seine Sache heftiger vertreten. Nach Heitsch dürfte Platon damit auf den schon erschienenen Gorgias anspielen, welcher die politische Agitation der Zeit heftig kritisiert. Dieser Dialog muss also schon vorher geschrieben worden sein. Und der letzte Grund: Sokrates befragt auf ihr Wissen hin zuerst die Politiker, dann die Dichter und schließlich die Handwerker. Die ersten wissen gar nichts, die zweiten nur aufgrund „göttlicher Inspiration“ und die dritten wissen tatsächlich etwas Bestimmtes, glauben aber deswegen, dass sie auch über alles andere Bescheid wüssten. In der Apologie heißt es allerdings nach der Schilderung der Prüfung der Dichter, dass Sokrates „auch wieder“ (Apologie 22b) den gleichen Eindruck hatte wie bei den Politikern. Das kann nicht sein, weil diese nach der ersten Textstelle gar nichts wussten. Allerdings gibt es im Menon eine Stelle (99bc), in der Sokrates behauptet, die Politiker wissen etwas aufgrund von Vermutung genauso wie die Orakelsänger und Seher, aber eben nicht aufgrund von Einsicht. Das „auch“, das nicht in die Apologie passt, bezieht sich also offenbar auf die Erinnerung Platons an die Argumentation im Menon. Platon ist also ein kleiner Fehler unterlaufen, der uns darauf führt, dass er die Apologie nach oder zusammen mit dem Menon geschrieben hat.

Dem philologisch unbedarften Leser mag so etwas spitzfindig erscheinen; wegen eines kleinen „auch“ so weitgehende Folgerungen abzuleiten. Wir ersehen daraus aber vielmehr, wie wichtig ein sehr genaues Lesen ist. Dann fällt einem nämlich auf, dass das „auch“ nicht zur Argumentation an der anderen Stelle passt, und man muss sich fragen, wie es dahin gekommen ist. Es könnte z. B. später durch eine Abschrift eingefügt worden sein, also gar nicht von Platon selbst stammen. Aber eine solche Deutung kann man durch einen Vergleich ausschließen, wenn es verschiedene Handschriften gibt, die unabhängig voneinander sind. Das „auch“ gehört aber in den Text. So ein „auch“ ist letztlich keine Kleinigkeit, wenn es tatsächlich nicht in den Text passt, und schön ist es, dass es hineingerutscht ist, weil wir dadurch die anderen Argumente noch einmal unmittelbar durch eine Textstelle stützen können.

4.4 Der historische Sokrates

Was heißt das jetzt aber für den Wortlaut von Sokrates vor Gericht? Ist doch alles von Platon stilisiert? Spricht hier gar nicht Sokrates, sondern ausschließlich Platon zu uns, deswegen, weil er seinen Meister als den vollkommenen Menschen und Philosophen schildern und hervorheben will?

Das Auffälligste am Inhalt der Verteidigungsrede ist die Skepsis des Sokrates, soweit sie sich gegen das für die Lebensführung des Menschen entscheidende Wissen stützt. Offenbar kann ein solches Wissen nicht positiv, also in ganz konkreten Inhalten, angegeben werden. Wie schon in der Einleitung betont, bleibt dieses Nicht-Wissen aber nicht bei der zynischen Konstatierung, dem Eingeständnis, nichts zu wissen oder nichts wissen zu können, stehen. Genauso wie die von ihm Geprüften muss Sokrates sich wohl vorher schon selbst geprüft haben, was man über das richtige Tun und Leben wissen kann. Die Prüfung selbst wird ausgelöst durch die Sorge um die eigene Seele. Die Ergebnisse muss man verantworten können. Die Voraussetzung dafür ist aber wieder die genaue Prüfung dessen, wovon man überzeugt ist. Das ist letztlich keine Skepsis mehr, denn ein Ergebnis darüber, was man für richtig hält, mag später wieder zur Disposition stehen, zum momentanen Zeitpunkt aber steht fest, dass das Urteil einer Prüfung standgehalten hat. Die größere Gefahr liegt darin, die kritische Prüfung von vorne herein bleiben zu lassen (vgl. auch Wolf 1999, 36–41).

Bei Sokrates kommt noch ein wesentliches Merkmal hinzu: Er stellt sein ganzes Leben in den Dienst einer solchen Prüfung von Überzeugungen über die Lebensführung. Was philosophisch sinnvoll ist, tritt aber in Widerspruch zum Selbstverständnis derer, die eine solche Prüfung lieber unterlassen, weil sie mühsam ist und am Ende zu keinen gesicherten Ergebnissen führen kann. Diese Unsicherheit aber ist schwer zu ertragen. Sokrates hebt sich dagegen von allen ab, weil er völlig unerschrocken und kompromisslos, ja geradezu radikal, für sein Leben nur die Prüfung von Überzeugungen und damit seiner eigenen Seele wählt, sich also vollständig in die Zerrissenheit und Ambivalenz des menschlichen Lebens selbst stellt – und das in voller Konsequenz, die auch den eigenen Tod nicht scheut.

Wenn das der Kern dessen ist, wie Sokrates tatsächlich vor Gericht agierte, so hat Platon das in seiner Verteidigungsrede exakt getroffen. Platon hat mit seiner Darstellung das Geschehen in seiner Bedeutung sicher überhöht und stilisiert. Aber das ist zu verstehen, wenn wir bedenken, wie einschneidend und existentiell die Hinrichtung seines Lehrers für ihn war. Neben einigen Inhalten, welche Sokrates wahrscheinlich tatsächlich von sich gegeben hat, z. B. dass niemand freiwillig Unrecht tut, dass Unrecht tun übler als Unrecht leiden ist und dass die Glückseligkeit vom rechten Tun abhängt (vgl. Heitsch 2004, 168), sind für die Darstellung Platons insbesondere die formalen Anforderungen an die Gattung der Prozessrede ausschlaggebend. Insgesamt kann mit Erler gesagt werden: „Die Sokratesfigur in der Apologie ist jedoch so gestaltet, daß Komponenten historischer Wirklichkeit mit Idealvorstellungen verbunden werden, die Platon als Merkmal des wahren Philosophen ansieht“ (Erler 2006, 70).

4.5 Die Widerlegung der Anklage

Der formale Aufbau einer Prozessrede, an der sich Platon orientiert, besteht aus einer Einleitung, dem Inhalt der Anklage, deren Widerlegung und einem Abschluss (vgl. Heitsch 2004, 166). Nach der Widerlegung fügt Platon eine Selbstcharakterisierung von Sokrates ein (Apologie 28b bis 34b). Vorgesehen sind nach der Verkündigung des Urteils die Anträge zum Strafmaß. Die Kläger hatten für die Todesstrafe plädiert. Der Verurteilte kann nach seiner Verteidigung einen Gegenvorschlag einbringen, über den durch die Richter abgestimmt wird. Ein Schlusswort nach der Verhängung der Strafe war dagegen üblicherweise nicht vorgesehen (vgl. ebd., 180).

Das Gericht setzt sich aus 500 Laienrichtern zusammen, einfachen Bürgern, die über schuldig oder nicht schuldig im Sinne der Anklage und im Falle der Schuld über das Strafmaß abstimmen. Es geht dabei klarerweise nicht um die hermeneutisch gesicherte Einordnung in Straftatbestände, sondern um einen allgemeinen Eindruck. Vor einem solchen Gericht war es sinnvoll, an das Mitleid der Richter zu appellieren (Apologie 38de, 35cd, 34 de), oder eigene persönliche Verdienste um die Stadt und ihre Bürger hervorzuheben. Sokrates betont dagegen, dass es ihm allein um die Wahrheit und das Recht geht (ebd. 29b, 32de, 40a).

Er schildert sein Tun, für das er angeklagt ist, als alternativlosen Gottesdienst.21 Dass er kein Unrecht begangen hat, versucht er dadurch zu erweisen, dass er den Spieß umdreht: Die Richter müssen sich von ihm prüfen lassen, ob sie auf dem rechten Weg sind (ebd. 35c, 39c). Dann wundert er sich über das knappe Ergebnis des Schuldspruchs (es hatten nur 30 Stimmen zu seinen Gunsten gefehlt), da er schließlich jahrelang verleumdet wurde. Er verspricht, wenn er den Prozess überlebt, so weiterzumachen, wie bisher, und beantragt gegen die Todesstrafe seine lebenslange Speisung im Prytaneion (die höchste Staatsehre) wegen seiner Verdienste um die Bürgerschaft, die er als einziger wirklich gebessert hätte. Am Ende erwähnt er noch einmal sein Daimonion, das während des ganzen Prozesses ruhig gewesen sei. Das zeige ihm, dass er offensichtlich alles richtig gemacht habe, da ihn seine innere Stimme sonst gewarnt hätte, wie sie es immer tat; dabei veranlasste ausgerechnet sein Daimonion, dass es zu dem Vorwurf kam, er führe neue Götter ein. Diese Rede, wenn sie tatsächlich so gehalten worden wäre, musste vor dem Hintergrund der damaligen Prozesspraxis als handfeste Provokation gewirkt haben. Sokrates dürfte dennoch etwas Ähnliches gesagt haben: Das Todesurteil fiel jedenfalls mit einer größeren Mehrheit aus als der Schuldspruch zuvor.

Das ganze Vorgehen des Sokrates vor Gericht erinnert an seine Ironie, die er auch sonst in den platonischen Dialogen zum Besten gibt. Allerdings geht es hier um seinen Kopf! Als ihm im Kriton angeboten wird, zu fliehen, bezeichnet er eine solche Tat als Unrecht gegen den Staat. Sollte er sich etwa, nachdem er sich das ganze Leben um die Besserung der Bürger bemüht hatte, nur weil er sterben muss, gegen das wenden, für das er sein Leben lang eintrat, gegen den Staat und sein Recht (Kriton 50a–52d)?

4.6 Weitere Fragen

Die Verteidigungsrede stellt uns noch vor weitere Fragen: Was ist das für eine Geschichte mit dem Orakelspruch aus Delphi? Was ist die spezifische Tätigkeit des Sokrates? Ist es eine Form des Unterrichts? In welchem Verhältnis steht der Vorwurf, er führe neue Götter ein, zum Daimonion? Und: Ist sein öffentliches Wirken als Politik zu deuten? Die Schwierigkeit dieser Fragen liegt darin, dass sie ineinander verwoben sind. Zudem bringen die Ankläger weitere, sehr verbreitete Vorwürfe gegen Sokrates vor: Er vermag die schwächere zur stärkeren Sache zu machen, ist einer von den Sophisten, welche für das Unglück der Stadt verantwortlich sind, beschäftigt sich mit Naturphilosophie und verdirbt durch seine öffentliche Tätigkeit die Jugend. Die jungen Menschen verlieren durch die Art, wie Sokrates die Leute befragt, den schuldigen Respekt vor den Älteren!

Den Einwand gegen seine spezifische Gesprächstechnik von Frage und Antwort, diese mache die stärkere zur schwächeren Sache, kontert Sokrates mit seinem Wissen um das Nichtwissen und mit der Behauptung, es gehe ihm immer nur um die Wahrheit. Der Hintergrund des Vorwurfs besteht natürlich nicht darin, dass man ein Element, das man in einer Beurteilung zu kurz hat kommen lassen, durch die Hervorhebung überbetont, wodurch es an Überzeugung gewinnt (das ist sozusagen der rhetorische Sinn), sondern dass man sich wider besseren Wissens für etwas moralisch Schlechteres, für ein Unrecht entscheidet (Apologie 23d). Daher ist es wichtig, dass Sokrates immer wieder betont, dass er entweder kein Unrecht getan hat, oder dass ihm ein solches nicht bewusst sei. Der Vorwurf müsste also inhaltlich stärker konturiert werden.

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