Kitabı oku: «Niccoló und die drei Schönen», sayfa 2

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4.

Auch in den folgenden Unterrichtsstunden war es Niccolò nicht gelungen, seine Hypnoseversuche zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Entweder war sein Blick zu schwach, um Paulas Hinterkopf bis zu den Augen zu durchdringen, oder aber er ließ sich zu sehr von seinen Kopfschmerzen, Oles Geflüster und Donnerhalls Getöne ablenken.

Niccolò nahm sich vor, in der Hofpause Paula direkt in die Augen zu blicken. Bei dem Durcheinander und Geschrei im Speiseraum hatte das keinen Sinn. Hier musste man aufpassen, dass man überhaupt am Leben blieb. Aber dann würde er seine Chance nutzen.

Um die drei Rosskastanien, die zwischen ihren grünfingerigen Blättern harzige Knospen austrieben, gruppierten sich Schüler der verschiedenen Altersklassen.

Die „Pampers“, zu denen die Mädchen und Jungen der ersten bis vierten Klasse gehörten, haschten einander um den kleinsten Baum. Die Grundschule und der Hort waren neben dem Gymnasium in einem Flachbau untergebracht. Obwohl ein Drahtzaun die Kleinen von den Älteren trennte, fanden sie immer wieder ein Loch, um durchzuschlüpfen. Die älteren Schüler duldeten sie schließlich wie lästige Insekten, die man zwar für kurze Zeit verscheuchen, aber doch nicht für immer vertreiben kann.

Die mächtigste Kastanie, die den Mittelpunkt des Schulhofes bildete und in deren Stamm Herzen und Liebesschwüre eingekerbt waren, wurde von den „Eierköppen“ besetzt, zu denen man sich ab dem Besuch der zehnten Klasse rechnen durfte. Die Eierköppe wiederum bestanden aus drei Untergruppen. Die größte bildeten die „Neutralen“, die sich aus allem heraushielten und nach guten Zensuren strebten. Dann folgten die „Godzillas“, eben Godzilla mit seiner Anhängerschar. Und in der dritten Gruppe waren die „Glatzen“ vereint, rechte Skins, Faschos eben, die nicht alle wirklich eine Glatze hatten. Sie waren eine Hand voll Jungen und Mädchen, die von Josef aus der Elften kommandiert wurden. Der Junge war groß und durchtrainiert, die meisten Mädchen schwärmten von ihm. Aber die Jungen fürchteten seine kalte Freundlichkeit noch mehr als Godzillas tapsige Kraftmeierei.

Um den dritten Baum schließlich scharten sich die „Halben Pfunde“, die sich aus den Klassen fünf bis sieben zusammensetzten.

Die Jungen und Mädchen aus der Achten und Neunten, die „Hauspflaumen“, lehnten am rechten Ende des Schulgebäudes an der Hauswand, wo um die Mittagszeit die Sonne für ein paar Minuten wärmte.

Am Zaun zur Hauptstraße liefen die „Bolschewiken“ auf und ab. Es waren zwei Mädchen und drei Jungen, deren Familien – wie Donnerhall erzählt hatte – im siebzehnten Jahrhundert mit anderen Deutschen von der russischen Zarin Katharina II. an der Wolga angesiedelt wurden. Im Zweiten Weltkrieg hatte Stalin sie nach Zentralasien verbannt. Nun waren sie nach Deutschland zurückgekehrt und konnten sich einfach nicht an ihre neue Heimat gewöhnen.

Niccolò und Ole standen nebeneinander bei den Hauspflaumen. Ole, der nicht nur wie Burattinos älterer Bruder aussah, sondern auch so phantastisch lügen konnte, sagte: „Die Eierköppe wollen unbedingt, dass ich zu ihnen gehöre. Was soll der gute alte Onkel Ole auch noch bei den Halben Portionen oder den Hauspflaumen? Ich war ja schon erwachsen, als ich noch unter den Pampers herumhüpfte.“

Während Niccolò nach Paula ausschaute, die sich ungewöhnlich lange im Speiseraum aufhielt, schaute Ole sehnsüchtig zu den Eierköppen, wo Godzilla und Loreley eng umschlungen vor und zurück wippten. Godzilla nahm einen Zug aus der Zigarette, schob sie dann Loreley zwischen die Lippen, die daran sog, dass der Tabak aufglühte.

„Ich möchte meine Nase drauf wetten, dass die beiden Hasch kiffen“, sagte Ole abgestoßen und doch bewundernd. „So ein Riesendino, der Godzilla!“

Niccolò entzog sich Oles rüttelndem Griff. Paula hatte den Schulhof betreten. Sein Blick huschte zwischen den drei Schönen hin und her. Frau Mandelstern hatte Hofaufsicht. Sie wurde von den Pampers beschäftigt und musste die Kleinen trennen, von denen ein paar Jungen immer wieder zu Raufen begannen. Er hörte Frau Mandelstern in verschiedenen Sprachen schimpfen, drohen und bitten. Wenn sie mit Worten nichts erreichen konnte, warf sie ärgerlich die Arme empor. Aber bald lachte sie versöhnt, ließ ein Mädchen einen Taschenspiegel halten, kauerte sich davor, schminkte ihre Lippen nach und steckte sich die langen braunen Haare hoch.

Imke Liebstöckel, die zu den Eierköppen gehörte, lehnte abseits an der Gebäudewand und reckte ihr Gesicht der Sonne zu. Niccolò sah bewundernd, dass sie zu den Längsten ihrer Klasse gehörte. Selbst wenn er sich auf die Zehenspitzen wippen würde, überragte sie ihn noch um Kopflänge. Imkes Haare waren schulterlang, tiefschwarz gefärbt, dazwischen schienen winzige Sterne zu glitzern. Niccolò zählte dreizehn schwarze Ringe, die ihre Ohrränder und Nasenflügel zierten. Sie hatte immer lange und weite schwarze Kleider und Mäntel an, als wollte sie von sich so wenig wie möglich zu erkennen geben. Andererseits zog sie mit ihrer auffallenden Erscheinung die Blicke auf sich. Wenn sie sich mit ihren schwarzen Turnschuhen durch die Flure der Schule bewegte, sah es aus, als würde sie flach über dem Fußboden dahinschweben.

Imke Liebstöckel hatte die Augen geschlossen, ihr Körper zuckte kaum merklich. Auf ihren Ohren klemmten die Kopfhörer eines CD-Players, der in der Tasche ihres Kleides steckte. Das schöne Mädchen erschien Niccolò unerreichbar weit weg.

Da hörte Niccolò Paulas Lachen, und obwohl man es gewohnt war, schaute jeder unwillkürlich zu ihr hin. Niccolò fand, die Gelegenheit war günstig, seinen Hypnoseversuch erfolgreich zu gestalten.

Paula lehnte mit ihrer Freundin Carola Sanddorn Rücken an Rücken. Die Schöne hatte die Hände im Nacken verschränkt und sah zu zwei Jungen aus der Achten, die einander eine leere Coladose zuköpften. Der eine Junge hieß René Kiekhahn und galt als großes Fußballtalent. Die Herzbrille saß keck auf Paula Klettes murmeliger Nasenspitze, dass sie neugierig über den Brillenrand sehen konnte.

Niccolò spannte seine Muskeln an, sein Blick schleuderte einen Blitz, der sich in Paulas blaue Augen bohrte.

Und jubelte innerlich, als Paula nun nicht mehr René Kiekhahn, sondern ihn ansah. Sie blickte zwar böse, aber das würde sich schnell ändern.

Paula Klette sagte mit ihrer großartig piepsigen Stimme: „Warum schielst du denn so?“

„Ich schiele doch nicht“, sagte Niccolò, der sich ihre ersten an ihn gerichteten Worte ganz anders vorgestellt hatte.

„Und doch schielst du“, beharrte Paula. Sie wischte sich energisch mit dem Ärmel ihres Hemdes über die Nase.

Niccolò blickte zur Seite, dann nach oben und unten, und rollte seine Augen schließlich links- und dann rechtsherum. Dann sah er Paula wieder an.

„Ist es so besser?“

Paula nahm ihre Hände vom Nacken und löste sich von Carola Sanddorns Rücken.

„Was soll denn besser sein?“, sagte sie. „Du schielst, als wolltest du dreimal links um die Ecke sehen.“

Niccolò beauftragte seinen Hypnoseblick, Paula freundlicher zu stimmen. Sie sollte sagen: Das war doch nur Spaß, Niccolò. Wie geht’s denn so?

Doch Paula rief: „Sieh doch mal, Carola. Wie gemein der Rosenbusch schielt!“

„Soll er doch schielen“, sagte Carola Sanddorn gelangweilt. „Alle Jungen sind schwer behindert und schielen. Wusstest du das denn noch nicht?“

„Wusste ich nicht“, sagte Paula Klette. „Ich weiß nur, dass Rosenbusch mächtig schielt.“

An Paula versagte anscheinend die Macht der Hypnose. Niccolò begann am Wahrheitsgehalt des Buches Die Kraft der Gedanken zu zweifeln. Er sagte freundlich: „Es macht mir nichts aus, wenn du sagst, dass ich schiele, Paula. Aber du schielst ja viel mehr. Einfach wunderbar, wie du schielst.“

Paula errötete jäh, für einen Augenblick schienen sogar ihre Igelhaare in Flammen zu stehen. Sie flüsterte krächzend, als hätte sie Niccolò ein Geheimnis mitzuteilen: „Ich schie-le doch ni-cht.“

Niccolò, der sich in den Gefühlen der Mädchen nicht auskannte, meinte, dass eine Freudenwelle Paula überrollt hätte. Also hatte Ole recht, wenn er behauptete: „Die Weiber wollen doch nur Komplimente hören.“

„Ich habe noch nie jemand so schielen sehen wie dich, Paula. Ich finde, du schielst wundervoll.“

Paula wurde von einer zweiten Hitzewelle erfasst, nach der sie jedoch erbleichte. Sie zischelte: „Du spinnst doch wohl dreimal, Rosenbusch! Sag bloß nicht noch einmal, dass ich schielen würde!"

Niccolò wurde stutzig, irgend etwas stimmte da nicht. Er wollte sich vorsichtshalber entschuldigen, da sagte Ole: „Niccolò hat schwer recht. Na klar, du schielst umwerfend, Klette.“

„Halt du dich da raus, Grabow!“

„Ich sage dir, du schielst wie das Schielmonster im Gruselschocker Wenn der Tod eine schwarze Brille trägt.“

Paula schnappte nach Luft, ihr Mund stand weit offen, ihre Zahnspange blitzte im Sonnenlicht. Sie wollte etwas sagen, aber es war nur ein rabenähnliches „Krrchz, krrchz“ zu hören.

„Halt den Mund, Ole“, befahl Niccolò seinem Freund. Er konnte nicht mit ansehen, wie Paula Klette litt. Er sagte tröstend zur ihr: „Vielleicht schielst du ja auch gar nicht, Paula. Du schielst sogar kein bisschen.“

„Sie schielt aber doch“, beharrte Ole. „Mit dem Blick kannst du gleichzeitig nach oben und unten und nach rechts und links gucken.“

„Krrchz! Krrchz!“

Paula verschluckte sich, sie hustete und stieß Carola Sanddorn weg, die ihr auf die Schultern klopfen wollte. Dann spuckte sie aus, wischte sich mit dem Ärmel kreuz und quer übers Gesicht, rückte die Herzbrille zurecht, dass ihre Augen wieder hinter den getönten Gläsern verborgen waren. Sie sagte mit abgrundtiefer Verachtung: „Du bist ein saublöder, hundsgemeiner, ochsendummer Kerl, Rosenbusch. Und quatsche mich nur nie wieder an. Sonst haue ich dir auch noch dein anderes Auge blau.“

Für einen Augenblick verlor Niccolò sein Gleichgewicht, er musste sich an Oles Schulter festhalten. Er hörte sich stottern: „A – aber, aber ich wo – wollte dir doch nur sa – sagen ...“

„Dass du schielst, Klette“, ergänzte Ole ungerührt.

Da gab es einen Knall, Niccolò sah in ein Feuerwerk und schwankte. Als er endlich wieder klar sehen konnte, erklärte Ole ihm, dass Paula ihm eine einwandfreie Ohrfeige versetzt hätte.

5.

Auf dem Nachhauseweg schwiegen die beiden Freunde. Niccolò stand noch immer unter Schock. Ole fühlte sich anscheinend auch nicht gut. Er wurde schweigsamer, je näher er seinem Zuhause kam.

Niccolò ging mit Ole, obwohl das ein Umweg für ihn war. Der Freund wohnte mit seinen Eltern am anderen Ende der Siedlung, in der „Gammel- Bude“, wie Ole das heruntergekommene Einfamilienhaus nannte, das in einem großen verwilderten Garten stand. Das Grundstück wurde von einem Bahndamm begrenzt, hinter dem die Züge vorbeipfiffen. Wenige Meter entfernt führte eine neue gebaute Bundesstraße zur Autobahn und zum nahegelegenen Flugplatz.

Sie standen vor dem wackeligen Holzzaun und schwiegen. Ole lauschte zum Haus hin. Hastig trug er dem Freund eines seiner vielen Mathe-Rätsel vor, als wollte er verhindern, dass der ihn allein ließ.

„Hör doch mal zu, Alter, welche Nuss der gute Onkel Ole da wieder geknackt hat: Charly, ein abenteuerlustiger und stets zu Rätseln und Denkaufgaben aufgelegter Globetrotter, berichtet am Lagerfeuer: ‚Ich ritt auf dem Rücken eines Maulesels mit gleichbleibender Geschwindigkeit von Bixley über Pixley nach Quixley.‘ Nach 40 Minuten fragte ich Don Pedro, den eingeborenen Führer, wie weit wir inzwischen wären. Don Pedro antwortete: ‚Wir haben gerade halb soviel hinter uns, wie wir bis Pixley vor uns haben.‘ Nach weiteren 7 Meilen fragte ich: ‚Wie weit ist es noch bis Quixley?‘ Und er sagte: ‚Halb so weit wie von hier bis Pixley.‘ Eine Stunde später erreichten wir Quixley.“

„Ja und?“, fragte Niccolò, der wenig Interesse an Oles Leidenschaft zeigte.

„Und nun, mein Alter, sollst du aus diesen Angaben folgendes rauskriegen“, fuhr Ole eifrig fort. „Erstens: Wie viele Meilen ist Bixley von Quixley entfernt? Zweitens: Wie viele Meilen legte mein Maulesel in einer Stunde zurück? Drittens: Wie viele Meilen ist Bixley von Pixley entfernt?“

Niccolò tat so, als überlegte er angestrengt, bis er die angehaltene Luft zischend ausstieß und sagte: „Teuflisch schwer.“

„Kindisch einfach“, entgegnete Ole zufrieden, er präsentierte Niccolò auch gleich die Ergebnisse und den Rechenweg mit der Flüchtigkeit eines Genies.

Niccolò wusste, dass Ole zu Hause Probleme hatten. Früher hatten sie in Oles Bodenkammer Spielerporträts von ihren Lieblingsfußballern getauscht, an Oles Computer experimentiert und miteinander geschwatzt. Wenn dann Oles Eltern nach Hause kamen, hatte es zwischen ihnen lauten Streit gegeben. Der Vater war fast zwei Meter lang, kantig und wortkarg. Er arbeitete auf dem Bau und war zwischendrin immer wieder arbeitslos. Es hieß, dass er mehr in den Kneipen des Städtchens als zu Hause sei. Die Mutter war klein und muskulös, sie trainierte Bodybuilding und hatte schon Wettkämpfe gewonnen. In ihrer Jugend hatte sie zu den Punks gehört, noch immer färbte sie ihre Haare grellrot oder hellgrün. Sie arbeitete in einem Supermarkt als Kassiererin. Ole hatte auch eine Schwester, die „Große“, sie verschwand öfter von zu Hause und tauchte dann wieder auf, ohne ein Wort zu verlieren.

Die Nachbarn waren sich einig, dass die Grabows „Assis“ wären, eben Leute, die sich nicht in das normale Leben einfügen könnten. Balanca, Niccolòs Großvater also, hingegen meinte, dass solche Reden „verschimmelter Schlauquark“ seien. Manche Menschen passten eben nur nicht zusammen, und je eher sie sich trennen würden, um so mehr Unheil könnten sie verhindern.

Dass Ole überhaupt das Gymnasium besuchte, war wohl nur einem Lehrer zu verdanken, der frühzeitig die außergewöhnliche mathematische Begabung des Jungen erkannt hatte. Es war ihm gelungen, Oles Eltern zu überzeugen, dass sie nicht das Recht hätten, ihrem Sohn einen höheren Bildungsweg vorzuenthalten. Ole löste im Handumdrehen die schwierigsten Matheaufgaben, und wo andere sich quälten, begann bei ihm der Spaß.

Manchmal fehlte Ole tagelang in der Schule. Es hieß, er sei krank. Wenn Niccolò bei ihm zu Hause klingelte, öffnete niemand. Oles Zimmerfenster blieb dann auch geschlossen, wenn Niccolò kleine Steine gegen die Scheibe warf. Nur die Gardine wurde leicht bewegt.

„Ist noch was?“, fragte Ole, als Niccolò sich schon verabschiedet hatte und doch stehen blieb.

Niccolò stöhnte leise und druckste dann: „Sag mal, Ole, wie sehe ich eigentlich aus?“

„Wie sollst du denn aussehen? Wie immer, denk ich mal.“

„Versuch doch mal zu gucken, als ob du ein Mädchen wärst.“

Ole bohrte mit dem kleinen Finger in der Nase, ein sicheres Zeichen, dass er schwer am Überlegen war. Schließlich fragte er: „Wie guckt denn so ein Weib? Weißt du das vielleicht?“

Niccolò zuckte bedauernd die Schultern und sagte: „Guck einfach mal.“

Er hielt sein Gesicht dicht vor Oles Augen.

„Hast du überhaupt eine Ahnung, wie schwer das für einen Mann ist“, sagte Ole, hielt den Kopf schief und klimperte mit den Augenlidern.

„Nun? Wie findest du mich?“

„Tja“, sagte Ole und rieb sich das Kinn. „Wenn ich wie ein Mädchen gucke, siehst du ziemlich blöd aus. Aber wenn ich dich wie ein Junge ansehe, siehst du ganz normal aus.“

„So ist das also.“ Niccolò senkte betrübt den Kopf. „Danke, Ole. Nun weiß ich also die Wahrheit.“

„Was denn für eine Wahrheit, Mann?“ Ole war selbst schlechter Laune, wenn sein Freund nicht froh war.

Als Niccolò beharrlich schwieg, sagte Ole: „Denke nicht, dass ich völlig ahnungslos bin. Ich weiß nämlich, was mit dir los ist. Denn geisteskrank bin ich nicht.“

„Was soll denn mit mir los sein?“

„Du bist krank, Mann. Schwer krank bist du. Dich hat nämlich die Liebe gepackt!“

„Meinst du wirklich?“, fragte Niccolò zaghaft. „Na, wie geht denn so was?“

„Das geht ganz einfach“, antwortete Ole, als könnte er auf ein erfahrungsreiches Leben zurückblicken. Er angelte eine zerknitterte Zigarette aus der Jackentasche, zündete sie an, paffte wie eine alte Dampflok, hustete und spuckte angeekelt aus. „Willst du auch mal zie-ziehen? Schme-schmeckt einwand-frei.“

„Nein, danke“, sagte Niccolò. „Und wie einfach geht die Liebe nun?“

„Du musst dir einen Schnupfen vorstellen“, erklärte Ole und sog mit verdrehten Augen erneut an der Zigarette. „Manchmal kann es auch wie eine Grippe sein. Ich kenne das von Ramona, unserer Großen. Die ist jeden Monat mindesten dreimal liebeskrank. Manchmal will sie sogar sterben.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Niccolò mit leidender Stimme. „Und weiter?“

„Sie stirbt aber eben nicht“, berichtete Ole weiter. „Manchmal wäre es mir ganz recht. Sie nervt nämlich mit ihrem Geseufze und Gestöhne. Vor allem will das Weib dann immer ein anderes Fernsehprogramm sehen als ich.“

Nun seufzte und stöhnte auch Niccolò. Er malte sich aus, wie er an der Liebeskrankheit sterben würde. Die drei Schönen würden an seinem Grab stehen. Imke Liebstöckel würde ein Kirchenlied rappen. Rebekka Mandelstern müsste sich auf den Grabstein stützen und würde ihm eines der Bücher, die er aufzuheben geholfen hatte, unter die kalte Erde schieben. Paula Klette schließlich müsste sich von ihren Eltern führen lassen, unter ihrer Herzbrille würden die Tränen wie kleine Bäche hervorströmen. In der Trauerweide, die an seinem Grab stand, würden die Krähen sitzen und lautlos mit den Flügeln schlagen.

Niccolò musste die aufkommenden Tränen unterdrücken, da sagte Ole: „Es gibt etwa sechs Milliarden Menschen auf der Welt. Wie konntest du dich nur in die dusselige Sehkuh Klette verlieben? Das hätte selbst ich nicht ausrechnen können. Aber keine Bange, der gute Onkel Ole wird sich was ausdenken, womit du dich grausam an ihr rächen kannst.“

Die Freunde schlugen zum Abschied die Handflächen gegeneinander. Ole stieg über den Holzzaun und verschwand auf dem schmalen Weg durch das Gesträuch zur Haustür. Niccolò stapfte müde nach Hause.

6.

Als Niccolò zu Hause ankam, ließ auch er das Gartentor unbeachtet und stieg über den Zaun, wie sich das gehörte.

Das „Affenhaus“ seines Großvaters war nicht so fein herausgeputzt wie die meisten Nachbarhäuser. Die Siedlung war vor dem Krieg von arbeitslosen Eisenbahnern erbaut wurden, meist einstöckige Doppelhäuser mit ein paar kleinen Räumen und angebauten Hühner- und Kaninchenställen. Die Gärten waren schmal und lang, und wo jetzt Tannen und Ziersträucher wuchsen, wurden früher Gemüse und Futterrüben für ein Schwein angebaut. Jeder Quadratmeter Erdboden wurde genutzt, selbst noch um die Stämme der Obstbäume hatte man Kohl gepflanzt.

Die Urgroßeltern hatten auf der ehemaligen Müllhalde Stein auf Stein gesetzt, bis endlich das erträumte Haus stand. Wenn Niccolò nach „damals“ fragte, ließ der Großvater mit ein paar Bleistiftstrichen auf einem Blatt Papier Bilder entstehen, dass Niccolò sich gut vorstellen konnte, wie es hier ausgesehen hatte.

Das Affenhaus, dem der Großvater den Namen gegeben hatte, weil Niccolòs Mutter mit ihrem oft überschäumenden Temperament manchmal „verrückt spielte“, hatte zwei Gesichter. Während die Vorder- und Rückseite noch den oft ausgebesserten grauen Putz zeigte, war die Giebelseite frisch verputzt und lindgrün angestrichen. Die eine Dachhälfte war mit glasierten roten Ziegeln neu gedeckt, während auf der anderen Hälfte bei Sturm die alten Schindeln klapperten. Einige Fenster waren erneuert und der Schornstein neu gesetzt worden. Aber die Haustür war aus altersschwachem Holz und von einem Dieb, wie Balanca lachend meinte, mit einem Büchsenöffner zu knacken.

Nach dem Deutschland wieder eins wurde, hatte auch in der Siedlung eine rege Bautätigkeit begonnen, und aus manchem armseligen Häuschen war eine Villa geworden. Aber während in den Villen immer wieder einmal eingebrochen wurde, blieb das Affenhaus verschont. Die Diebe ahnten wohl, dass bei den Rosenbuschs keine Schätze zu finden waren.

Niccolò schloss die Haustür auf, blieb aber unentschlossen stehen. Heute verspürte er keine Lust, sich in seinem Zimmer an den Schreibtisch zu setzen und Hausaufgaben zu erledigen. Es zog ihn auch nicht an den Computer oder zu den Bolzern, die täglich auf dem Rasenflecken hinter dem „Kulturhaus“, der Siedlungskneipe, kickten.

Niccolò überlegte, ob er Manuela anrufen sollte. Aber die Mutter hatte ihm gesagt, dass er das nur in Ausnahmefällen, wenn es „lebenswichtig“ war, tun dürfe. Niccolò rief sie trotzdem täglich ein paarmal an. Aber heute wusste er nicht, was er ihr sagen sollte.

Und „Balanca“, so nannte Niccolòs Großvater sich seit seiner Zirkuszeit, war auch in der Arbeit. Er versuchte die Welt zu retten, wie er schmunzelnd sagte, dass sie nicht in ihrem eigenen Dreck, den sie täglich produzierte, erstickte. Er war beim Stadtreinigungsamt als Kehrwalzenfahrer angestellt; er aber nannte sich einfach nur Straßenkehrer. Manuela hörte das nicht gern, doch Balanca entgegnete, die Straße zu kehren sei eine ebenso ehrenwerte Tätigkeit wie als Clown im Zirkus aufzutreten oder als Bundeskanzler Deutschland zu regieren.

Niccolò setzte sich auf einen Baumstumpf und ließ sich von den Vögeln, die im Geäst der Birke hockten, etwas vorzwitschern. Er beneidete sie, wie sie ihr Gefieder in der Sonne plusterten und mit sich und der Welt zufrieden waren. Passte ihnen etwas nicht, erhoben sie sich in die Luft und flogen einfach davon.

Doch lange hielt Niccolò das Stillsitzen nichts aus; er schlenderte durch den Garten und blieb vor Großvaters „Atlantik“, dem Goldfischteich, stehen. Er nahm etwas Trockenfutter aus der Büchse, die zwischen Kieselsteinen steckte, ließ es auf die Wasseroberfläche rieseln und beobachtete die rot und silbern glänzenden Fische, die danach schnappten.

Als sich das Wasser wieder glättete, sah er vom Grund das Gesicht eines Jungen auftauchen. Es musste sein Gesicht sein, und doch erschien es ihm fremd. Wenn er bisher in einen Spiegel gesehen hatte, dann nur flüchtig und ohne mehr wahrzunehmen als eben irgendein Gesicht.

Doch heute sah er genauer hin.

„Na, Niccolò“, sagte er aufmunternd zu dem Gesicht im Teich. „Nun lass dich doch mal ansehen.“

Das Gesicht, das da von bunten Fischen umspielt wurde, wirkte blass gegen die schwarzlockigen Haare. Niccolò spuckte auf seine Handflächen und versuchte, die ungeliebten Locken zu glätten. Aber so sehr er sich auch mühte, die Haare wellten und kringelten sich bald wieder.

Nicht nur der Locken wegen erschien ihm sein Gesicht zu „niedlich“ oder gar „süß“, wie es manchmal Manuelas Kundinnen sagten, wenn die Mutter ihn als ihren Sohn vorstellte. Er wünschte sich auszusehen wie der vollbärtige und narbige Seeräuber „Stachelrochen“ aus dem Film „Kalt kommt der Tod auf hoher See“. Nur gegen seine Augen hatte Niccolò nichts einzuwenden. Sie waren fast so groß und dunkel wie die von Rebekka Mandelstern. Insgesamt aber fand er sein Aussehen einfach zu mädchenhaft. Er hoffte auf Großvaters Voraussage, dass bald die ersten Barthaare um sein Kinn und über der Oberlippe sprießen würden. Aber solange konnte er nicht warten, um Paula Klette zu erobern.

Niccolò wischte mit der Hand über das Wasser, dass es sich kräuselte. Die Fische huschten davon, das Spiegelbild erzitterte und verschwand schließlich. Als er aufstand war das Wasser grau und undurchsichtig, als sei es eine glänzende Steinplatte.

Niccolò musste etwas tun. Vielleicht war er ja wirklich liebeskrank, wie Ole behauptete. Bestimmt hatte er hohes Fieber und phantasierte stark. Jedenfalls fühlte er sich so. Man hatte ihm gelehrt, dass die mittlere Anzahl der Knochen eines jungen Menschen 200 beträgt, und nun erfuhr er, dass jeder einzelne ihm weh tat. Was aber sollte ein Mensch mit zweihundert kaputten Knochen und zweiundvierzig Grad Fieber tun? Balanca, der behauptete, sich in der Welt auszukennen wie in seiner Brieftasche, würde wohl sagen: Das Allerdümmste ist, sich selbst im Weg zu stehen.

Niccolò warf die Schultasche in den Hausflur, schloss die Tür wieder ab, zog sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr eilig zur „Bolzacker“ hinter dem Kulturhaus. Er kam gerade recht zur Aufstellung der Mannschaften. Für die Nachmittagsstunden vergaß er alle Sorgen und Schmerzen. Selbst Paula Klette war in weite Ferne gerückt. Sein ganzes Leben schien an diesem runden Ding zu hängen, das meist dort herum sprang, wo man selbst nicht war. Er musste ihm nur pausenlos nachjagen, um es dann doch einmal zu erwischen und kräftig zu treten, dass es wie eine Kanonenkugel in die Maschen donnerte und alle „Tooor!“ schrien. Für das Glück eines Jungen bedurfte es eben nur – wie Niccolòs Großvater Manuela aufgeklärt hatte, wenn sie wieder einmal über das „idiotische Mannsgezappel“ schimpfte – eines aus einem Stück Leder gefertigten Hohlballes von achtundsechzig bis siebzig Zentimeter Umfang und vierhundertzehn bis vierhundertfünfzig Gramm Gewicht. Balanca selbst war zwar nie Fußballer gewesen, aber als Drahtseilartist hatte er einen blauen Ball auf der Spitze seines Zeigefingers drehen lassen, dass jeder sehen konnte, wie wunderbar die Erde sich im All bewegte.

„Gib doch ab!“, schrie Niccolò seinem Mitspieler zu. „Her mit dem Leder! Sei bloß nicht so ballverfressen!“

Als er den Ball endlich hatte, dribbelte er keuchend, die Rufe der anderen, den Ball doch endlich abzuspielen, missachtend, auf das gegnerische Tor zu.