Kitabı oku: «Niccoló und die drei Schönen», sayfa 3
7.
Am Abend dann kehrte Niccolò erschöpft und zufrieden zum Affenhaus zurück. Er hatte zwar kein Tor erzielt, aber es war ihm gelungen eins zu verhindern. So hatte seine Mannschaft nicht zwanzig zu null, sondern nur neunzehn zu null verloren. Er hatte mit den „Gartenzwergen“ gespielt, die sich aus Pampers, Halben Pfunden und ein paar Hauspflaumen zusammensetzten. Der Gegner, die „Rentnertruppe“, waren Eierköppe und zwei Lehrlinge, die von dem wild um sich tretenden Godzilla kommandiert wurden. Zu den Schlägen, die Niccolò am Vormittag eingesteckt hatte, waren nun Stöße und Tritte hinzugekommen. Seine Sachen waren durchgeschwitzt und hatten wie seine Haut dunkle Flecken und Risse abbekommen.
Vor der Haustür spuckte Niccolò auf den Ärmel seines Pullis und rieb sein Gesicht ab. Mit ein paar Heftklammern, die er mit anderen nützlichen Dingen wie eine Kastanie vom Vorjahr, einem Radiergummi und ein paar Bonbons, in seiner Hosentasche herumtrug, versuchte er, die Risse in seiner Hose unkenntlich zu machen.
Manuelas zwitschernde Stimme und ihr helles Lachen waren aus dem Haus zu hören. Sie hatte also ihren Optikerladen früher geschlossen. Das konnte nur bedeuten, dass sie Besuch mitgebracht hatte.
Niccolò atmete tief durch, öffnete entschlossen die Tür, trat ins Wohnzimmer und erwartete gefasst Manuelas vorwurfsvolle Frage: „Na sag mal, wie siehst du denn wieder aus?“
Die Mutter saß mit dem Großvater und einem fremden Mann am Tisch beim Abendessen. Eine Kerze brannte, neben dem Essen standen zwei Flaschen Wein und gefüllte Gläser auf dem Tisch.
Niccolò zuckte unwillkürlich zurück. Manuela wechselte in letzter Zeit immer öfter ihren „festen Freund“. Sie pries den Neuen dann jedes Mal an, als sollte Niccolò ihn kaufen. Die Mutter wollte unbedingt einen Vater für ihn finden. Aber kein Mann bekam von ihr die Zeit, ihren Sohn überhaupt kennen zu lernen.
„Setz dich doch, Nico“, sagte Manuela mit ihrer Schönsprechstimme, die ihr Sächsisch in Hochdeutsch verwandelte. „Das hier ist mein – ein Bekannter. Herr Haubentaucher. Aber ich denke, du kannst Freddy zu ihm sagen.“
„Klar doch“, sagte der Mann an Manuelas Seite. „Du bist also der berühmte Niccolò. Ich denke, wir werden schnell Freunde werden.“
Niccolò setzte sich neben Balanca, bestrich eine Scheibe Brot mit Leberwurst und biss kräftig hinein. Er fand den ersten Auftritt des Mannes wenig gelungen. Niccolò war weder berühmt, noch würde er „Freddy“ zu dem Fremden sagen. Und schon gar nicht würde er mit ihm Freundschaft schließen. Er fand, dass der Fremde tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Haubentaucher hatte, obwohl er so einen komischen Vogel noch nie gesehen hatte.
Balanca schmunzelte, er sagte zu Niccolò: „Na, Kollege, wie geht’s uns denn so?“
„Gut“, sagte Niccolò verschwörerisch. Der Großvater wünschte sich, dass seine Tochter endlich einmal einen „richtigen Mann“ anbrächte und nicht immer wieder solche „Muttersöhne“. Er teilte sie ein in „aufgeblasene Schwarzenegger“, in „Strichmännlein“ und „Blabla-Spezialisten“.
„Blabla-Spezialist“, flüsterte Niccolò, und Balanca antwortete: „Volltreffer, Kollege.“
Manuela blieb nicht verborgen, dass der Neue von ihrem Sohn und ihrem Vater abgelehnt wurde. Niccolò beobachtete seine Mutter aus den Augenwinkeln und bemerkte, wie es hinter ihrer Stirn gewitterte. Wenn seine Hand sich jetzt ihren Haaren näherte, würden sie wie kleine helle Flammen züngeln und knistern. Niccolò fand seine Mutter einmalig schön, und wenn sie Wut im Bauch hatte, war sie am allerschönsten. Manuela hatte lange blonde Haare, eine „Pferdemähne“, wie Balanca sagte, blaugrüne Augen, die nie still stehen konnten und spöttisch blickten. Ihre Lippen schminkte sie, je nach Laune, in allen erdenklichen Farbtönen, sie bevorzugte aber Pink. Für Niccolò stand jedenfalls fest: Manuela war viel zu schön für diesen Haubentaucher.
„Setz dich bitte gerade hin, Niccolò.“ Manuela ging also zum Angriff über. „Du musst nicht alles nachmachen, was dein Großvater dir vormacht.“
„Na hör mal, Tochter“, entgegnete Balanca. „Ich sitze wie ein rechter Winkel. Schließlich war ich mal Artist.“
„Artist?“ Freddy Haubentaucher horchte auf. „Das klingt ja interessant. Erzählen Sie doch mal, Herr Rosenbusch.“
„Nun“, sagte Balanca und schob seine schwarze Pudelmütze, die er nur im Bett und unter der Dusche absetzte, hin und her. Er rückte den Teller von sich weg, lehnte sich zurück, atmete tief ein und kämmte mit gespreizten Fingern seinen grauen Vollbart. Balanca erzählte gern aus seiner „Zirkuszeit“. Selbst wenn er manche Geschichte schon viele Male erzählt hatte, so klang sie für Niccolò doch immer wieder neu, denn er „verbesserte“ sie ständig.
„Eigentlich bin ich gelernter Möbeltischler“, sagte Balanca. „Aber der Zirkus hat mich schon von Kind an geradezu magisch angezogen. Als Kartenanreißer habe ich angefangen. Dann habe ich als Clown gearbeitet, später in einer Akrobatiknummer als Untermann, und am Flugtrapez war ich Fänger. Schließlich habe ich mit Miss Lilly Li, der Tigerbraut, eine gemischte Raubtiergruppe vorgeführt.“
Balanca hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er streifte einen Hemdsärmel hoch und hielt Freddy Haubentaucher seinen muskulösen Arm hin, der drei breite rote Narben zeigte, die vom Handgelenk bis zum Oberarm führten.
„Diese kratzigen Viecher“, sagte Freddy Haubentaucher anerkennend und beugte sich zurück, als könnte ihn aus einer Zimmerecke ein Raubtier anspringen. „Die können bestimmt unverschämt zulangen.“
„Du sagst es, mein Junge.“ Balanca knöpfte seine blaue Kombi auf, um seinem Publikum weitere Verletzungen vorzustellen. Vor allem aber wollte er seinen Waschbrettbauch zeigen, den er längst hatte, als der in Mode kam. Er erklärte: „Eins sollst du wissen, Haubentaucher: Nicht am Kopf, sondern am Bauch stößt sich alles. Da muss man schon was abprallen lassen können.“
„O-ha ...!“ Freddy Haubentauchers Mund öffnete sich bei der zweiten Silbe, als wollte er ein ganzes Ei reinstopfen.
Manuela rief energisch: „Lass jetzt bloß nicht noch die Hosen runter, Vater! Ich denke, du hast Freddy restlos überzeugt!“
Balanca winkte ab, knöpfte die Kombi gehorsam wieder zu und erzählte weiter: „Als dann die Gebrüder Frediani – keine drei Tage nacheinander – beim Salto vom Hochseil stürzten und der eine sich das Genick brach und der andere nicht mehr aufs Seil wollte, habe ich die Nummer übernommen. Und siehe da, ich hab’s wohl nicht ganz schlecht gemacht: Aus dem Tischler Karl Rosenbusch ist schließlich der berühmte Balanca geworden.“
Niccolò kramte ein Stück Kreide aus seiner Hosentasche und zog einen weißen Strich auf den bunten Teppich. Balanca verbeugte sich und lief gewandt auf dem Phantasieseil hin und her, zeigte hohe Sprünge und schwankte nach links und rechts, als könnte er jeden Moment in die Tiefe stürzen.
„Vater!“ Manuela sprang auf und warf die Hände in die Luft, als wollte sie einen Schwarm Vögel verscheuchen. „Jetzt reicht es aber!“
„Schade“, meinte der Großvater. Er rückte an seiner Mütze und sagte schmunzelnd: „Vielleicht hätte ich euch den Einfingerstand vorgeführt, den ich in meiner besten Zeit in fünfzehn Meter Höhe als Spezialtrick gezeigt habe.“
„O ja!“, rief Niccolò. „Den Einfingerstand muss ich sehen!“
„Untersteh dich“, drohte Manuela, die auf dem Teppich kniete und den Kreidestrich mit einer Serviette wegzureiben versuchte. „Denke an deinen Hexenschuss und dass du dich manchmal kaum noch bewegen kannst.“
„Nun ja“, sagte Balanca bedauernd. „Meine große Zeit ist wohl vorbei. Die Knochen werden langsam spröde. Aber hier drinnen“, – er klopfte sich auf die Brust, dass es dröhnte – „das Herz ist jedenfalls immer noch jung.“
Niccolò spürte Balancas Hand kräftig und warm auf seiner Schulter. Er liebte seinen Großvater, manchmal sogar mehr als seine Mutter. Für Niccolò war Manuela oft eher wie eine große Schwester, die ihn mit ihrer Unruhe und ihren schnell wechselnden Meinungen verwirrte. Balanca aber behielt die Ruhe, wenn es um ihn herum auch noch so hektisch zuging. Mit schier endloser Geduld versuchte er, jedes Problem zu lösen.
Für Niccolò war der Großvater noch kein alter Mann, obwohl er schon über sechzig Jahre alt war. Balanca trug zu seiner Strickmütze einen verwaschenen Pullover, darüber eine Schlosserkombi und ehemals weiße Basketballschuhe. Sein Gang war leicht und federnd, als liefe er noch immer sicher über ein Drahtseil. Niccolò wünschte sich, einmal so zu werden wie sein Großvater.
Freddy Haubentaucher, der wohl zuviel Rotwein getrunken hatte, sagte weinerlich: „Ich würde ja doch gern den Einfingerstand sehen.“
Manuela fuhr hoch und sagte scharf: „Halte du dich da raus!“
„Aber ...“ Freddy Haubentaucher hob den Zeigefinger und schnippte mit Mittelfinger und Daumen.
Manuela stand auf, sie war nicht groß, aber sie brachte es fertig, auch ohne Leibesfülle bedrohlich zu wirken. Sie hatte ihre Schönsprechstimme wohl vergessen, denn sie sagte auf Sächsisch: „Ich will davon nischt mär hörn! In meiner Wohnung gibt’s geen Einfingerschdand!“
„Aber ...“ Freddy Haubentaucher verharrte halb aufgerichtet, die Hand hochgestreckt, wobei der Zeigefinger wie das nach oben gerichtete Pendel eines Metronoms hin und her klickte.
„Ruhe!“, gebot Manuela mit Bassstimme. „Hier schbrischt geiner, der nichd zur Famielie gehörd!“
Balanca lachte über die ungewollte Komik. Manuela fuhr gereizt zu ihm herum. Der Großvater hob die Hände, als würde er sich ergeben.
Eine paar Sekunden war es still. Dann kroch zum dritten Mal ein „Aber ...“ aus Freddy Haubentauchers rotumfleckten Mund.
Niccolò hätte gewettet, dass Manuelas neuer Freund nicht noch einmal zu widersprechen wagte. Mit jedem Aber nahm seine Abneigung gegen den Haubentaucher ab. Er nahm sich vor, im Lexikon nachzuschlagen, was für ein komischer Vogel das überhaupt war. Doch erst einmal hatte er sich eines Angriffs seiner Mutter zu erwehren. Die unvermeidliche Frage kam spät, aber sie kam: „Na sag mal: Wie siehst du denn eigentlich aus?“
Zu spät bemerkte er Großvaters warnendem Blick, es rutschte ihm das Dümmste heraus, was man seiner Mutter in solcher Situation antworten kann.
„Ich?“
„Ja du! Schiele isch vielleichd? Oder schbresche ich edwa mid dem Bräsidenden von Ameriga? Vielleichd gar mit dem Babsd oder dem Dalai-Lahma?!“
Schlagartig kehrte der Weltschmerz in Niccolò zurück. Ihm fiel wieder ein, wie seine Hypnoseversuche und Komplimente bei Paula Klette versagt hatten. Das Selbstmitleid überfiel ihn, er sagte traurig: „Du sprichst nur mit mir, Manuela. Rege dich bitte nicht so auf, Mama.“
„Aber ich will mich aufregen!“, rief die Mutter, die nun wieder Hochdeutsch und zwischendrin auch Italienisch sprach, das sie seit ein paar Monaten zusammen mit Niccolò lernte. „Das kann mir schließlich niemand verbieten! Grazie a Dio viviamo finalmente in una democrazia!“
„Was höre ich denn da?“ Freddy Haubentauchers Mund bildete ein tennisballgroßes Loch, in dessen Tiefe das rote Zäpfchen zuckte.
„Ich sagte: Gott sei Dank leben wir endlich in einer Demokratie! Mamma mia, der Junge sieht aus, als käme er aus einem verdammten Krieg zurück!“
„Wir haben nur ein bisschen Fußball gespielt. Nonè successo nulla, mamma. So gut wie gar nichts ist passiert.“
Nun sprach auch Niccolò italienisch, denn damit konnte er die Mutter milder stimmen. Manuela schwärmte von Italien. Wenn sie einmal mit ihrem Brillenladen genug Geld verdient hätte, wollte sie mit ihrer Familie nach Italien ziehen und für immer dort leben.
„Zeig mal her, Bambino. Nun hab dich nicht so. Tut weh, was. So was kommt doch nicht von eurer Kickerei. Du hast dich wieder verprügeln lassen, du dummer Junge. Für wen hast du denn diesmal den Kopf hingehalten?“
„Beruhige dich doch, Tochter“, sagte Balanca. „Er lebt ja noch. Es ist ja nichts weiter passiert. Das heilt alles wieder.“
„Nichts passiert?“, rief Manuela empört. „An dem Jungen ist kaum noch etwas ganz! Da redest du von nichts passiert! Ich habe dir doch gesagt, Niccolò – was habe ich dir gesagt? Sag es, los doch!“
Niccolò antwortete widerstrebend: „Du hast gesagt, wenn ich einen Schlag bekomme, soll ich zweimal zurückschlagen.“
„Und?“
„Und wenn mir einer gegen den Fuß tritt, soll ich ihm zweimal gegen das Schienbein treten.“
„Brutal. Das ist ja barbarisch!“ Freddy Haubentaucher stieß mehrmals hinter vorgehaltener Hand auf.
Manuela rüttelte Niccolò an den Schultern, und sie führte ihm energisch, wenn auch wenig geschickt vor, wie er sich zu wehren hatte. „Du weißt doch, wie es geht! Warum tust du es dann nicht? Es ist eine harte Zeit. Wer nicht gewinnt, der ist der Verlierer. Wann begreifst du das endlich!“
Auf ihrer Stirn standen winzige Schweißtropfen, ihre Lippen waren schmal gespannt und die Augen sprühten grün. „Nun antworte endlich! Sag mir, ob du es begriffen hast!“
Niccolò zwang sich zu nicken. „Aber ...“
„Es gibt kein Aber!“, rief Manuela. „Es gibt nur ein Da musst du durch! Was denkst denn du, wie ich in meinem Geschäft zu kämpfen habe. Gleich um die nächste Straßenecke ist noch ein Optiker. Ein paar Straßen weiter ein dritter. Die breiten sich aus wie Wühlmäuse. Jeder nennt sich die Nummer eins und tut so, als hätte er was zu verschenken. Sonnenbrillen und anderen Brillenschrott bekommst du jetzt auch noch in jedem Supermarkt und an jedem Kiosk zu kaufen. Und da hältst du still, wenn andere dich grün und blau prügeln!“
Niccolò schüttelte den Kopf und sagte: „Ja ...“
„Was, ja? Nun rede endlich, Junge! Sage mir, wer dich so zugerichtet hat?“
Balanca zog Niccolò von seiner Tochter weg und sagte ruhig: „Du hast das gleiche Temperament wie deine Mutter, Manuela. Die gute Hanni, sie verlor auch so schnell die Beherrschung. Aber nur die Ruhe bringt’s, Tochter. Mit Gewalt geht schließlich alles kaputt.“
„Nun komm du mir nur nicht mit deinen gesammelten Lebensweisheiten, Vater“, entgegnete Manuela. „Ich muss mir jeden Tag von meiner verehrten Kundschaft jede Menge schlaue Sprüche anhören.“
Balancas Einwurf und seine beruhigende Stimme stimmten sie aber doch friedfertiger. Sie zuckte mit den Achseln und begann das Geschirr abzuräumen, pfiff ein paar Takte eines Schlagers, weinte und lachte abwechselnd.
„So beruhige dich doch“, sagte Balanca. „Hast du wieder Ärger mit deinem Geschäft? Was ist denn?“
„Nichts ist! Nichts, nichts, nichts!“
Der Mutter rutschte ein Teller aus den Händen, den Balanca reaktionsschnell auffing und auf den Tisch zurückstellte. Manuela wandte sich ruckartig Freddy Haubentaucher zu und fauchte: „Sie gehen jetzt besser. Ihre Brille können Sie in einer Woche in meinem Fachgeschäft abholen. Arrivederci und Auf Wiedersehen, Signor Haubentaucher.“
Manuela drängt den verdutzten Mann zur Haustür hinaus, die sie mit einem Knall schloss, als sollte nie wieder ein Mann über ihre Schwelle treten. Sie ging in die kleine Küche, pfiff nun eifrig, ohne allzu oft die Töne des jeweiligen Schlagers zu treffen, und ließ beim Spülen das Geschirr klirren.
Balanca rückte seine Mütze zurecht, nickte Niccolò aufmunternd zu und machte sich mit dem Rad auf den allabendlichen Weg. Nach Feierabend betrieb er eine kleine Kneipe am westlichen Rand des Städtchens unmittelbar am Auenwald. „Zum schiefen Affen“, von den Spießbürgern auch abfällig „Pennertreff“ genannt, wurde von allerlei Käuzen aufgesucht, denen das Leben oft übel mitgespielt hatte. Bei Balanca fanden sie ein trockenes Plätzchen, wo sie nicht allein waren und ihre Weisheiten zum Besten geben konnten.
Niccolò ging unaufgefordert unter die Dusche und dann gleich in sein Zimmer. Er erledigte flüchtig die Hausaufgaben, legte sich schließlich ins Bett, hörte Radio und blätterte in einem Buch. Aus dem Erdgeschoss hörte er Manuela wirtschaften. Wie immer, wenn ihr etwas gegen den Strich gegangen war, stellte sie im Wohnzimmer die Möbel um.
Niccolò konnte sich weder auf das Buch noch auf die Radiostimme konzentrieren. Er zog sich die Decke bis zum Kinn und rollte sich zum Schlafen zusammen. Einmal erwachte er, durch den Türspalt fiel Licht herein, er sah die Umrisse von Manuelas Kopf und hörte sie atmen. Dann wurde die Tür leise geschlossen. Niccolò drehte sich auf den Bauch, erhaschte mit einem Augenaufschlag hinter dem geöffneten Fenster ein Stück Himmel, in dem die Positionslichter eines aufsteigenden Flugzeugs blinkten, und schlief wieder ein.
8.
Am nächsten Morgen erwachte Niccolò ausgeruht und frohgestimmt. Nichts schien ihm heute unmöglich, er hatte noch das gute Gefühl des nächtlichen Traums in sich, als er bei einem Sprung die Arme ausbreitete und fliegen konnte.
In der großen Pause, als die Schüler wieder auf dem Schulhof versammelt waren und ihre angestammten Plätze belegten, ging Niccolò entschlossen auf Paula Klette zu und sagte: „Buon giorno, Paula. Come sta?“
Niccolò liebte die italienische Sprache, sie war wie Musik, und selbst wenn man italienisch fluchte, klang es noch fröhlich.
Paula reckte ihr Kinn vor, ihr Näschen stupste in die Luft, ihr Blick durch die Herzbrille war herablassend. Sie sagte ruppig, doch immerhin redete sie noch mit ihm: „Was quakst du mich an wie ein hässlicher Quakfrosch?“
Niccolò konnte gerade noch sein erstauntes „Ich?“, das ja schon Manuela in Wut brachte, unterdrücken. Er erklärte behutsam: „Das ist Italienisch und heißt: Guten Morgen, Paula. Wie geht es Ihnen?“
„Weiß ich doch“, erwiderte Paula geschmeichelt. „Denkst du vielleicht, ich bin dreimal bekloppt.“
„Denke ich nicht.“
„Denkst du doch. Denn sonst würdest du wie jeder normale Mensch deutsch mit mir reden. Redo hcstued sträwkcür.“
„Sprichst du vielleicht türkisch?“
„Himmel, seid ihr Männer viermal dumm. Das ist Deutsch rückwärts.“
„Deutsch rückwärts spreche ich nicht besonders gut“, gab Niccolò freimütig zu. „Aber Italienisch spreche ich schon einigermaßen. Das sagt jedenfalls meine Mutter. Wir lernen zusammen Italienisch.“
„Das finde ich ziemlich bekloppt.“ Paula trat bald einen Schritt nach links und dann wieder nach rechts, um an Niccolò vorbeizusehen, hinter dem René Kiekhahn einen Ball köpfte.
„Wer spricht denn schon Italienisch?“, sagte Paula Klette wegwerfend.
„Die Italiener natürlich“, sagte Niccolò, der sich von Paulas Hampelei nicht stören ließ.
„Was hast du eigentlich mit den Spaghettis zu tun?“
„Mein Vater – er könnte eventuell Italiener sein.“
„Du spinnst doch zehn Bund Wolle, Junge. Wie heißt er denn – dein Vater?“
„Er heißt – ich glaube – ich weiß nicht. Vielleicht – Luciano Laurana.“
„Onaicul Anarual also. Na so was. Mein Vater ist ein grünes Männlein vom Planet Pluto und heißt Chi ehcal hcim knark.“
Paula Klette piepste schrill auf und lachte sprudelnd. Sie schlug ihre Hände gegen die von Carola Sanddorn. Die Freundinnen stimmten in René Kiekhahns Fanchor ein, der seine Kopfstöße zählte: „ ... dreiundsiebzig, vierundsiebzig, fünfundsiebzig ...!“
Ole, den Godzilla hatte überraschend zu sich rufen lassen, kam zu Niccolò zurückgerannt und berichtete freudig: „Mensch, Niccolò, hast du das mitgekriegt? Godzilla hat mit mir gesprochen. Er mit mir. Nur Loreley war noch dabei. Was sagt der Mensch denn dazu?“
„Was wollte er denn?“, fragte Niccolò. Er überlegte, wie er das Gespräch mit Paula fortsetzen könnte.
Ole rieb seine Nasenspitze rot und flüsterte heiser: „Godzilla hat viel mit mir vor, sagt er. Ich wäre aus dem richtigen Material gemacht, sagt er. Erst einmal soll ich Loreleys Butler sein. Wenn sie pfeift, habe ich anzutanzen. Ich hab ein Glück, was?“
Er stellte sich mit dem Rücken zu Niccolò, dass er auf Godzillas Wink und Loreleys Pfiff gleich lossprinten konnte.
Niccolò schob sich zwischen Paula Klette und René Kiekhahn, der immer noch den Ball köpfte. Er sagte: „Weißt du, Paula, das Lied, das ich gestern im Unterricht gesungen habe – das habe ich nur für dich gesungen.“
„Stolpere mir doch nicht immer vor der Nase herum!“, rief Paula Klette wütend. „ ... siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig! Hundert! Einhunderteins! ...“
„Hat es dir gefallen – ich meine, wie ich gesungen habe? Wenn du willst, kann ich dir noch viele andere Lieder vorsingen.“
Paula stöhnte auf, denn René Kiekhahns hundertneunter Kopfball war der letzte gewesen, dann hatte der Ball den Erdboden berührt. Sie sagte bissig: „Auf Italienisch, was?“
„Wenn du willst, auch auf Italienisch. Da klingt es besonders schön.“
„Komm wieder, wenn du auf Deutsch rückwärts singen kannst“, sagte Carola Sanddorn, und sie und Paula gaben sich lachend einen Hüftstoß.
„Bitte“, sagte Niccolò, als Paula sich beruhigt hatte, „bitte, nimm doch mal deine Brille ab.“
„Warum denn das?“ Paulas Misstrauen war hellwach.
Niccolò wollte gerade erklären, wie einwandfrei Paula geradeaus sehen konnte, da sagte Ole: „Er will ja nur sehen, ob du immer noch so seehundsmäßig schielen kannst!“
„Du blöd blöder und noch blöderer Blödmann!“
Paula Klette holte weit aus. Doch sie traf nicht Ole, denn der war unschlagbar im Ausweichen und Weglaufen. Die Ohrfeige traf wieder Niccolò, der dazwischen gehen wollte. Er sank – wie in Zeitlupe – vor Paula auf die Knie.
Der Gong kündigte das Ende der Pause an. Ole war wie von Geisterhand verschwunden. Während die Pampers in den Hort stürmten, schlenderten die Älteren gemächlich ins Schulhaus zurück.
Paula Klette streckte Niccolò ihre Hand hin und zog ihn hoch. Er stand noch etwas wackelig; aber es war wunderbar, von Paulas Hand gehalten zu werden. Das also war eine Mädchenhand, sie fühlte sich gut an: klein, warm und zappelig.
„Du bist selbst schuld.“ Paula Klette versuchte ihre Hand zurückzuziehen, aber Niccolò drückte unwillkürlich fester zu. „Warum stehst du mir in der letzten Zeit auch immer fünfmal vor der Nase herum.“
Jetzt waren sie allein auf dem Schulhof. Die Sonnenstrahlen fielen wie bunte Bänder aus den Kastanien. Von der Straße her roch es nach Benzin. Die nur selten abreißende Autokette erzeugte ein dumpfes Rollen, das manchmal von ungeduldigem Hupen unterbrochen wurde.
„Entschuldigung“, sagte Paula Klette. „Diesmal wollte ich deinen neunmal bekloppten Freund Grabow treffen.“
Niccolò nickte nur. In diesem Augenblick hätte er Paula alles verziehen, selbst wenn sie eine gesuchte Serienmörderin gewesen wäre. Ihre Stimme war noch piepsiger als sonst, einmalig ulkig, fand er. Paula hätte ewig mit ihm reden können, er hätte ihr zugehört.
„Könntest du mir meine Hand wiedergeben“, sagte Paula und zog sie mit einem kräftigen Ruck zurück. „Weißt du, ich brauche sie nämlich noch.“
„Klar“, sagte Niccolò. „Du hast eine wunderbare Hand, Paula.“
Paula sah erstaunt auf ihre Hand, die rote und blaue Tintenflecke und unter manchem Fingernagel einen dunklen Rand hatte. „Meinst du?“ Sie ließ beide Hände in den Hosentaschen verschwinden.
„Soll ich dir was sagen, Paula?“
„Sag’s oder sag’s nicht. Ich bin nicht neugierig. Also, sag’s schon.“
Plötzlich verließ ihn der Mut. Es war gar nicht so einfach, einem Mädchen etwas wirklich Wichtiges zu sagen. Er zeigte zu den Sperlingen hinauf, die im Geäst der Kastanie saßen und drauflos zwitscherten. „Hör doch mal. Hör nur, was die Vögel singen.“
Paula drehte erst ihr linkes und dann ihr rechtes Ohr den Spatzen zu, lauschte und sagte dann: „Ich höre nur: Piep, piep, piep.“
„Ja“, sagte Niccolò eifrig. „Das ist genau das, was ich dir sagen will.“
„Piep, piep?“
„Ja, und weißt du, was das heißt?“
„Was weiß denn ich.“ Paula zupfte ärgerlich an ihren Haarbüscheln. „Bin ich vielleicht ein dreimal blöder Vogel?“
„Bist du nicht“, beruhigte Niccolò. Seine Stimme sollte fest klingen, war aber doch ziemlich bröcklig. „Also, ich sage es dir jetzt auf Italienisch. Ich sage dir: Io ti amo.“
„Verstehe nicht die Erbse. Sag’s mir doch lieber auf Deutsch rückwärts.“
„Na schön. Ich werde es versuchen, Paula: Chi – ebeil – hcid.“ „Was höre ich da?“
„Chi ebeil hcid!“
„Na, du kannst vielleicht Witze machen, Niccolò Rosenbusch.“
Sie standen sich gegenüber mit glühenden Köpfen. Niccolò hörte aus dem Grün die Vögel singen. Und irgendwo mussten auch die Glocken läuten. Er drückte fest die Daumen und wünschte, dass jetzt die Zeit stehen bleiben sollte. Alles sollte so bleiben, wie es war. Denn es war genau richtig so.
Aber Paula atmete hörbar aus, rückte energisch ihre Herzbrille zurecht, ihre Stimme klang fraulich tief, als sie sagte: „Nur keine Aufregung. Es hat längst zum Unterricht geklingelt. Wir müssen zurück in das siebenmal verdammte Klassenzimmer.“
Paula Klette lief mit kleinen festen Schritten zur Schultür. Niccolò folgte ihr taumelnd. Bismarck hielt die Tür auf und ließ sie passieren, als hätte er nur auf ihr Kommen gewartet. Das Männlein stand stramm, die Enden seines überdimensionalen Schnauzbartes stießen spitz nach oben. Als Paula vorbei war, flüsterte er Niccolò ins Ohr: „Haltung, Junge.“ Das klang, als wüsste er über alles Bescheid.
Niccolò nickte verwirrt, ihm war, als sei er ein Kreisel, der von Paula Klette in Bewegung gesetzt, sich nun endlos drehen musste.