Kitabı oku: «Die letzte Fähre ging um fünf», sayfa 2
„Wir unterbrechen unser Programm für eine aktuelle Unwetterwarnung. An der Westküste kommt es heute Abend und in der Nacht zu Starkregen, heftigen Gewittern mit Orkanböen. Auch Tornados und gefährliche Windhosen sind möglich. Erwartet werden die ersten Ausläufer eines Sturmtiefs gegen 20 Uhr. Das Unwetter hat bereits auf der britischen Insel große Schäden angerichtet. Ein unerwarteter Tornado an der Ostküste hat mehrere Kraftwerke lahmgelegt. Mindestens zehn Ortschaften waren stundenlang von der Stromversorgung abgeschnitten. Wir melden uns wieder, wenn es Neues über das zu erwartende Unwetter gibt.“
Kolle sah zur Nordsee hinaus. Er fand, dass zu viel Panik gemacht wurde, wenn ein Gewitter im Anzug war. Einige Tagesgäste kamen vom Strand. Scheinbar wollten sie wieder zum Festland. Quengelnde Kinder mit genervten Müttern.
„Nein! Du hast gehört, was der Mann im Radio gesagt hat. Und wenn es losgeht, will ich zu Hause sein!“
„Aber Mama, ...!“
Kolle verdrehte die Augen. War er eigentlich auch so gewesen? Aber Mama! Ein Protest, der nichts bringt. Die Bedienung kam und räumte ab. Anschließend brachte sie ein Schild an der Verandatür an. „Heute Abend bleibt die Veranda geschlossen. Danke für Ihr Verständnis.“ Kolle war es egal. Er sah auf seine Uhr. Siestazeit. Als er an der Bar vorbeikam, lief dort der Fernseher. Katastrophenmeldungen aus dem Vereinigten Königreich. Er fand, dass das nun ziemlich übertrieben war. Aufgeregte Reporter standen vor rauchenden Resten einer Umspannstation und berichteten mit gespielt pathetischen Floskeln über die Schäden und die mögliche Zahl der eventuell verletzten Menschen. Ob es Tote gäbe, wurde der Korrespondent vor Ort vom Moderator gefragt, und man sah es dem Journalisten im Studio an, dass er gar nicht froh war, dass diese Frage mit einem Schulterzucken beantwortet wurde. Scheinbar waren nur Orte an der Ostküste betroffen. Da das Umspannwerk einen Teil des Stroms der Offshore-Windräder aufnahm, um ihn ins Land zu transportieren, war die Stromversorgung für drei Stunden abgebrochen. Die Anlagen in der Nordsee mussten vom Netz genommen werden, um nicht durch Überspannung den Schaden zu vergrößern. Dann wurde umgeschaltet auf überschwemmte Gebiete der Marschgebiete, die hier ohne Deiche offen der Nordsee gegenüberlagen. Kollerup schauderte bei dem Gedanken, so ganz ohne Deich zu leben. Gut, die Leute im Husumer Stadtteil Schobüll kannten das. Aber irgendwie fühlte er sich ohne Deich völlig schutzlos.
Kollerup legte sich angezogen auf das frisch gemachte Bett. Trotz der jetzt sengenden Sonne war es angenehm temperiert im Raum. Ob der Haubarg sturmsicher war? Ja sicher, beruhigte er sich selbst. Schließlich stand der mehrere Jahrhunderte, ohne Schaden zu nehmen. Auch die Warft war mit ihrer Höhe von knapp zehn Metern außerhalb jeglichen Wasserstandes der höchsten Sturmfluten. Mit den Gedanken an einen Haubarg, der auf dem Wasser treibend in der Ferne entschwebte, während die Welt unterging, dämmerte er langsam in den Schlaf.
Jemand hämmerte an seine Tür. Was zur Hölle sollte das! Es war der Chef des Hotels. Sah aus, wie gerade vom Golfplatz gekommen. Cremefarbene Kleidung.
„Moin. Wollte nur nachfragen, ob alles zu Ihrer Zufriedenheit ist.“
„Ja. Ist es.“
„Mit dem Zimmer zufrieden?“
„Ja, bin ich.“
„Ich wollte Sie auch fragen, ob Sie heute Abend im Restaurant essen möchten.“
„Ja, wie ... ja klar.“
„Na ja, es ist so, dass einige Gäste ihr Zimmer storniert haben, und da wollte ich fragen, ob der Koch sich auf spezielle Sachen vorbereiten muss.“
„Ja, wie ... spezielle Sachen ...?“
„Wissen Sie, bei fünf bis sechs Gästen rechnet sich ein reduziertes Angebot eher als bei einem voll belegten Haus.“
„Ach, Sie meinen wegen der Unwetterwarnung? Ach was! Ich bin Husumer und so ein Lüftchen erschüttert mich nicht. Da seien Sie mal beruhigt. Ich bleibe. Und was das Essen angeht, bin ich mit Bratkartoffeln und Fleisch vollauf zufrieden.“
Der Mann schien sichtlich erleichtert zu sein. Er entschuldigte sich und klopfte auch schon an der Zimmertür eines anderen Zimmers.
Storniert haben einige Gäste. Interessant. Er stand am Fenster und bemerkte, dass es schon später Nachmittag war. Vier Uhr durch. Er bediente sich jetzt aus der Minibar. Ein Bier nach Vier. Was Onne und seine Schafe bei dem Wetter wohl machen würden? Ach ja. Die alte Kapelle. Er stellte die leere Bierflasche auf die Minibar, schlüpfte in seine Sneakers und ging hinunter.
An der Rezeption gab es ein Durcheinander, weil mehrere Gäste auschecken wollten, andere wollten unbedingt wissen, wie das Wetter morgen werden würde und ob die Hallig auch sturmflutsicher sei. Die junge Frau hinter der Theke behielt den Überblick und versicherte den Gästen, dass das Unwetter keine Sturmflut auf der Hallig verursachen würde. Eher an der Küste, wo sich das Wasser stauen könne. Auch die Windrichtung mache es sehr unwahrscheinlich, dass es zu Landunter kommen würde. Einige Wellen würden sicher die Salzwiesen erreichen, aber das wäre nun wirklich alles völlig normal und harmlos. Außerdem würde zur Zeit des prognostizierten Sturmes Niedrigwasser herrschen.
Hinter der Rezeption gab es eine Tür zu einem Büro, die jetzt offenstand, und er sah eine Dame mittleren Alters aufgeregt telefonieren. Einiges konnte er verstehen, weil das Telefonat sehr laut geführt wurde. Scheinbar ging es um eine geplante Wattwanderung, die morgen stattfinden sollte. Mehrmals versuchte die Frau ihren Gesprächspartner zu beruhigen. „Ja nun, dafür kann ich ja nichts, wenn einige Gäste abreisen! Das Wetter habe ich nicht zu verantworten!“
Kolle verließ dieses Irrenhaus und war erstaunt, wie heiß es draußen war. Vom drohenden Unwetter war nichts zu bemerken. Strahlend blauer Himmel. Mit einer brennenden Zigarette schlurfte er zum Rundweg, der um die Hallig führte. Wegen des ablaufenden Wassers, das nach seiner Meinung heute besonders ausgeprägt war, roch das Watt in der brütenden Sonne extrem nach Schlick und Salz. Links sah er in der Ferne die Schafe grasen, dahinter die alte Kapelle. Ein kleiner Punkt wieselte herum und begann die Schafe auf die Warft der Kapelle zu treiben. Kein leichtes Unterfangen. Er musste grinsen, als er Onne zwischen den Schafen sah.
Am Anleger machte gerade die Strandkrabbe fest. Eine Gruppe Touristen konnte es kaum erwarten, die letzte Fähre des Tages zum Festland zu nehmen. Es sah aus wie eine Flucht vor einer ganz schlimmen Katastrophe, fand Kolle. Tiere besitzen einen sechsten Sinn für nahende Unwetter, sinnierte er. Vielleicht haben einige Menschen diesen Fluchtinstinkt behalten und andere eben nicht. Just in dem Moment zog ein Schwarm Möwen vorbei und verschwand in Richtung Festland.
Kaum hatte die Fähre um Punkt 17 Uhr abgelegt, kam ein kleines Boot mit Außenbordmotor angetuckert. Ein Mann, ungewöhnlich für das Wetter in Cordhose und gesteppter Weste gekleidet, fand Kolle, stieg aus. Sorgfältig vertäute der Mann seine Nussschale. Dann bemerkte er Kollerup auf der Hotelhallig. Eine Sekunde lang stand der Typ nur so da und sah herüber. Kolle winkte nur mal so zum Spaß. Keine Reaktion. Der Mann nahm seinen Rucksack und kam zum Hotel. Kollerup nahm an, dass das vermutlich der Wattführer war und sich nun persönlich beschweren wollte. Er war der Meinung, dass das nicht sein Problem sei und wendete sich zum Strand.
Auf den Liegen räkelten sich einige Gäste herum und schlürften aus Gläsern bunte Getränke, während Reggae leise dahinplätscherte. Er erkannte den Titel Whole Lotta Love von Led Zeppelin. Nein! Als Reggae! Er setzte sich an die Südseebar-Imitation und schnippte nach dem Kellner.
„Sagen Sie mal ... wer sucht eigentlich die Musik aus?“
„Ich verstehe nicht?“, grinste der Keeper.
„Diesen Musiksirup da im Hintergrund, meine ich.“
„Ach, Sie meinen die Loungemusik!“
„Ja, genau. Diese trübe Suppe, Musik genannt.“
„Das macht irgend so ein Typ im Internet.“
„Wie Internet?“
„Das kommt aus dem Internet.“
„Die Musik?“
„Ja, Internetradio.“
Internet! Hat den niemand mehr eigene CDs? An LPs wagte er erst gar nicht zu denken. Oder wenigstens einen MP3-Player? Kolle sah die Musikbranche den Bach runtergehen. Aus Trotz bestellte er einen „Swimmingpool“. Eigentlich wollte er fragen, was der Barkeeper denn heute empfehlen könne, aber wenn die Musik aus dem Internet kam und von irgendeinem anonymen Menschen ausgesucht wurde, wollte er erst gar nicht daran denken, welche Getränke das Internet bei dem Wetter empfehlen würde.
Er schlürfte lange an dem Cocktail, der eigentlich ein Longdrink war. Anschließend verwickelte er den Mann hinter der Theke in ein Gespräch über Swimmingpools und die Farbe der Bikinis der Frauen, die in einem Swimmingpool schwimmen. Und dann kamen sie zum Thema Klimawandel und heiße Sommer. Der Typ hinter der Theke, er hieß Maik, war der Meinung, dass das nur gut für den Tourismus sei. Kolle war da anderer Meinung. Denn globaler Klimawandel würde nicht bedeuten, dass es hier schlagartig dauerhaft wärmer werden würde. Er verwies auf die Unwetterwarnung, dass heute Abend ein Unwetter auf die Westküste treffen solle.
„Ach. Unwetter! Was die als Unwetter bezeichnen, ist doch nicht zu vergleichen mit einem Herbststurm Stärke 12. Und selbst das“, der Barkeeper wies auf den Haubarg, „macht diesem alten Kasten nichts aus. Alte, gute Wertarbeit. Absolut sturmsicher und sturmflutsicher. Allerdings“, er sah zum Hotel hoch, „müssen wir den Strand vermutlich nach dem Sturm neu aufspülen lassen.“
Kolle fand, dass das das geringere Problem war. Er dachte an die Schafe und Onne. Er fragte Maik danach.
„Och, der kommt dann heute Abend zu uns, wenn es zu dolle wird“, winkte er ab. „Aber ansonsten ist seine Hütte auch sicher und hoch genug für ein Sommerhochwasser. Genauso sicher wie die Schafe in der alten Kapelle.“
Hinter ihm wurde es nun laut. Jemand beschwerte sich über irgendwas, und er hörte: „Scheißegal, was passieren würde! Ich lasse mich nicht so abschieben! Das haben SIE zu verantworten!“
Dann eine weibliche Stimme: „Was kann ICH dafür, wenn es ein Unwetter gibt!“
„Ach, es geht doch nicht um das Wetter! Es geht darum, dass SIE dem Frerk Carstens MEINE Tour gegeben hatten! MEINE!“ Die Stimme des Mannes kippte ins Hysterische. „DAS wird ein Nachspiel haben! NACHSPIEL!“
Nachspiel? Wird denn hier auch Fußball gespielt? Kolle amüsierte sich. Es gibt einen Minigolfplatz, aber einen Fußballplatz habe ich hier auf der Hallig noch nicht gesehen. Vielleicht ein juristisches Nachspiel, wer weiß das schon?
Maik verdrehte die Augen und flüsterte vertraulich über die Theke: „Das ist Kai, der Wattführer. Der ist sauer, weil die Chefin eine andere Tour mit einem anderen Wattführer gebucht hatte. Aber das fällt ja nun flach.“ Kolle sah auf die Uhr. Sechs Uhr durch. Holla, wie die Zeit vergeht! Er gab Maik seine Zimmernummer und ging hoch zum Duschen.
Für den ersten Tag seines Urlaubes gar nicht mal so schlecht, fand er. Eine interessante Bekanntschaft gemacht und ansonsten hatte er absolut nichts mit Mord und Totschlag zu tun gehabt. Manchmal dachte er, dass die Menschheit verrückt geworden war. Die Fälle, mit denen er zu tun hatte, ließen ihn oft am Verstand der Menschen zweifeln. Nicht weil einige zu leicht zu lösen waren, denn es gab ja auch harte Nüsse, die er zu knacken hatte, sondern weil seit Bestehen der Menschheit die Motive immer dieselben waren. Rache, Habsucht, Eifersucht, Neid und so weiter.
Vorsichtig stieg er in die Duschkabine und ganz sachte zog er an den Hebeln und drehte nur an den Wasserhähnen, die für das Wasser von oben zuständig waren. Irgendwann gibt es sprachgesteuerte Duschen, wie in den Science-Fiction Filmen, dachte er. „Wasser von oben, 23 Grad!“, rief er probeweise. Er fiel fast durch die Glastür der Kabine, als eine weibliche Stimme antwortete: „Wenn Sie jetzt noch freundlich ‚Bitte‘ sagen, kommt das Wasser.“
„Was ist das denn!?“
„Ich bin die automatische Duscheinstellung Betty.“
„Bitte, ich hätte gerne warmes Wasser von oben.“
„Gerne. Wie viel Grad?“
„23.“
„Das Zauberwort?“
„Bitte?“
„Im ganzen Satz.“
„Bitte, ich hätte gerne 23 Grad warmes Wasser von oben.“
„Mit welchem Druck?“
„Welchen kannst du mir anbieten?“
„Hart, Mittel und Weichei.“
„Weichei?“
„Ja, für Warmduscher und Dünnbrettbohrer.“
„Mittel.“ Er bemerkte sofort seinen Fehler und fügte ein „Bitte“ hinzu.
„Gerne. Wenn Sie fertig sind, beenden Sie den Duschvorgang mit ‚Stopp‘. Ich wünsche Ihnen angenehmes Duschen.“
„Danke sehr.“
„Bitte sehr.“
Nach dem Duschen, aufdringliche Düfte der hoteleigenen Hygieneartikel verströmend, bewunderte er die schwarze Wand, die sich von Westen heranschob und die Sonne verschluckte. Schlagartig wurde es deutlich dunkler. Er liebte Unwetter. Da merkt man doch erst, dass man lebt, sagte er immer, wenn sich jemand über schlechtes Wetter beschwert. Stundenlang konnte er am Fenster sitzen und wenn möglich draußen die Atmosphäre genießen, die ein nahendes Gewitter verströmte. Die Luft schien jedes Mal elektrisch geladen zu sein und die Wolkenformationen mit ihren gelb-schwarzen Fetzen, die als Vorhut das Unwetters ankündigten, waren wie das Intro zu einem bombastischen Konzert. Thunderstruck von ACDC war die Musik, die ihm bei diesen Gelegenheiten einfiel. So war es auch dieses Mal, als die Wand sich am Himmel hochschob. Und es war drückend schwül dabei. Er schloss bedauernd das Fenster und ging nach unten in den Restaurantbereich.
Nele, die junge hübsche Dame, die er von der Rezeption kannte, führte ihn zu seinem Tisch. Der Raum war mit Kerzen beleuchtet, und leise Musik plätscherte aus versteckten Lautsprechern. Er schien der Erste zu sein. Während er seine Bestellung aufgab, persönlich und Auge in Auge mit einem Menschen, füllten sich die Tische mit den Gästen. Aber das interessierte ihn nicht, wer wo und warum saß. Durch die Verandatür konnte man das Naturschauspiel im zweiten Akt bewundern. Er schien der Einzige zu sein, der es genoss. Alle anderen schienen sich kopfschüttelnd über die Gefährlichkeit und die möglichen tödlichen Folgen zu grämen. Kolle schnaubte verächtlich. Memmen!
Sein erster Gang, Eisbergsalat mit Fenchel, begann von einem Gewitterblitz begleitet. Der zweite Gang wurde von prasselndem Hagel an den Verandatüren beklatscht. Stimmt, der Applaus ist berechtigt, dachte er. Selbst er als Hobbykoch hätte es nicht besser machen können. Der erste Biss vom Steak wurde mit einem rollenden Donner kommentiert, der so lange dauerte, bis Kollerup das zerkaute Rindfleisch schluckte. Sein Bier wurde gebracht und der erste Schluck hatte eine Sturmböe im Gefolge, die die Bar draußen umwarf. Hach! Herrlich! Kollerup genoss die Vorstellung. Während die Mitarbeiter gelassen durch aufgeregt debattierende Gäste schreitend die Bestellungen aufnahmen oder Menüs servierten, ging es draußen jetzt zur Sache. Im Dämmerlicht über der Nordsee, kurz grell erhellt von Blitzen, sah man dichte Regenschauer hinwegziehen. Er sah auf seine Uhr. Verdammt! Das musste er sich abgewöhnen, immer auf die Uhr zu sehen. Urlaub, Kolle! Es war jetzt 21 Uhr. Die Zeit hatte hier auf der Hallig scheinbar ihre eigenen Gesetze. Er rülpste verhalten und dann gingen das Licht und die Musik aus. Kolle war der Meinung, dass das kleine Bäuerchen ja nun nicht diese Aufregung wert sei.
Eine Dame gab ein quietschendes Geräusch von sich und ein Glas zersprang mit einem Klirren auf dem Boden.
„Ruhe bewahren, meine Damen und Herren! Die Generatoren werden sofort anspringen!“, rief eine männliche Stimme irgendwo aus dem Dunkel. Und schon wurde es wieder hell. Ein weiterer Blitz zuckte vor den Fenstern und eine bleiche männliche Gestalt erschien an der Verandatür, die mit blutigen Händen dicke rote Schlieren hinterlassend, an der Glasfläche langsam zu Boden rutschte. Dann wurde es zum zweiten Mal schwarz im Raum. Ein weiterer Blitz zuckte, der die auf der Veranda liegende Gestalt kurz beleuchtete. Seine Intuition sagte ihm, dass dieser Mensch tot war. Ein doppelter Donner, der die Gläser auf den Tischen klirren ließ, beendete diese Szene.
Hotel
Der Tag des Unwetters
21:00 Uhr
Wenn es vorher ein chaotisches Durcheinander gegeben hat, wurde es jetzt gefährlich. Tische wurden umgestoßen, panische Menschen riefen durcheinander, Kindergeschrei, scheppernde Gläser. Kolle tat, was das Beste in so einem Fall war: Er blieb sitzen.
Jemand stieß ihn an und er musste sich am Tisch festhalten. Dann zückte er sein Handy, klappe es auf und hielt es in die Höhe. Dieser Lichtschein genügte ihm, um gefahrlos auf einen Tisch zu steigen. Oben angekommen steckte er zwei Finger in den Mund und pfiff derart laut, dass es ganz sicher auch auf Föhr zu hören war. In Bruchteilen von Sekunden war es mucksmäuschenstill. „Jeder bleibt jetzt, wo er ist! Hier ist die Polizei! Kann mich der Chef dieses Hotels hören?“
„Ja ...“, kam es zögerlich aus der Richtung, wo Kollerup die Bar vermutete.
„Was ist mit Taschenlampen?“
„Haben wir!“
„Haben Sie eine dabei?“
„Nein. An der Rezeption liegen welche.“
„Hat jemand ein Smartphone?“
Plötzlich glommen vereinzelt mehrere bleiche Lichter im Raum. Man konnte wieder etwas erkennen. Kolle fand, dass es aber noch heller ging.
„Was ist mit den Tablets? Das Display von den Dingern gibt mehr Licht. Schalten Sie ihre Telefone aus. Schonen Sie Ihre Akkus!“
Kurz wurde es wieder dunkel und dann erhellten Tablets mehrere Personen an der Bar.
„Kommen Sie mit zwei von diesen Dingern hierher“, befahl Kollerup. Die fahlen Lichter der mobilen Geräte wankten zu ihm herüber. „Jemand verletzt?“, fragte er laut in die Runde.
„Ich hab’ mir mein Knie gestoßen“, beschwerte sich jemand kleinlaut.
„Sonst nichts?“ Knie gestoßen! Die Welt geht unter, dachte Kolle.
„Dem Kind geht es gut?“, wollte er jetzt wissen.
Eine Mutter meldete sich: „Nichts passiert. Alles gut.“
„Niemand verlässt den Raum.“ Er fügte ein „bitte“ hinzu, weil er ja durch die sprechende Dusche etwas gelernt hatte. „Sobald wir die Lage geklärt haben, dürfen Sie auf Ihre Zimmer. Aber hier ist es momentan am sichersten.“
Draußen hörte man den Sturm ums Haus pfeifen und die Wassermassen aus den Regenwolken auf das Haus und auf die Fenster prasseln.
„Kolle!“, schallte es von Eingang her. Onne!
„Onne!“ Kolle freute sich, den Knirps zu sehen.
„Den Schafen geht es gut!“, rief der Schafhüter.
„Was ist los, Onne? Weißt du mehr?“
„Ein Blitz muss im Generatorhaus eingeschlagen sein.“
„Wir müssen sehen, ob wir den da draußen noch retten können, Onne“. Kolle deutete in Richtung Veranda.
Zwei Angestellte kamen jetzt mit Taschenlampen. Kolle nahm eine, zwei weitere gab er an Onne und an den Hotelchef weiter.
„Folgendes: Ihre Leute bleiben hier bei den Gästen. Jemand sollte sich um die Verletzten kümmern und kleinere Blessuren versorgen. Kaffee oder Tee wären jetzt nicht schlecht.“ Allgemeines Murmeln erhob sich. Stühle und Tische wurden wieder auf ihre Plätze gestellt. Das Küchenpersonal machte sich in der Küche zu schaffen und irgendwie kam wieder Normalität auf.
Da der Eingang und somit das Foyer im Windschatten lagen, ließ Kolle es darauf ankommen und öffnete vorsichtig die Tür. Er wusste, dass auf der Leeseite eines Hauses im Sturm der Sog nicht zu vernachlässigen war. Die meisten Dachschäden durch sich lösende Dachziegel entstanden auf der windabgewandten Seite. Der Sog war vergleichbar mit dem Effekt, der oberhalb einer Tragfläche dafür sorgte, dass ein Flugzeug Auftrieb bekam. Die Hölle war eine nachtschwarze Regenwand.
„Äh“, Onne zögerte.
„Was?“, Kolle sah ihn an.
„Ich hoffe, dass du nicht wasserscheu bist. Du bist ruckzuck durch bis auf die Haut“, sagte Onne mit unschuldigem Augenaufschlag.
„Bin ich aus Zucker?“, fragte Kollerup.
„Ich meine ja nur.“ Damit war die Sache erledigt.
Nach zwei Minuten wünschte Kolle sich eine Regenjacke. Aber bei dem Sturm war es egal, ob man sich mit einer Regenjacke draußen aufhielt oder nicht, weil der Sturm, der jetzt zum Orkan geworden war, den Regen waagerecht vor sich hertrieb. Breitbeinig wie echte Seemänner auf einem stampfenden und rollenden Schiff, stramm gegen den Orkan, wankten sie zur Veranda. Stockfinster war es, nur die zitternden Lichtbalken der beiden Taschenlampen wiesen ihnen den Weg. Sie hätten genauso in einem schwarzen Windkanal sein können. Kolle ahnte es bereits, bevor sie um die nächste Ecke schlichen. Instinktiv riss er Onne zu Boden. Etwas Großes flog mit flappendem Geräusch über sie hinweg.
„Das war knapp!“, brüllte Onne in Kolles Ohr. Auf Händen und Füßen krabbelten sie zur Veranda. Dort lag der Tote. Oder zumindest ging Kolle davon aus, dass der Mann tot war.
Gesicht nach oben. Augen und Mund offen. Kein Puls, kein Atem. Seitdem der Mann an der Verandatür zusammengebrochen war, waren mindestens 15 Minuten vergangen. Die Farbe der Haut, der fehlende Puls und Kolles Intuition sprachen für seine Vermutung. Er sah zum Verandafenster und deutete den Zusehern im Restaurant mit einem Schulterzucken an, dass da nichts mehr zu machen sei.
„Rein mit ihm!“, nickte er Onne zu, und beide hoben den schweren, schlaffen Körper an.
Ein Blitz zuckte aus dem abziehenden Unwetter, und der Orkan ließ ein wenig nach. Aber immer noch blies er so heftig, dass sie beide sich lieber vorsichtig bewegten, als von fliegenden Gegenständen erschlagen zu wurden. Es war egal, sie waren jetzt eh so nass, als ob sie mit Kleidung geduscht hätten. Langsam wurde es Kolle auch zu kühl. Der Temperatursturz musste mindestens zehn Grad betragen, so kam es ihm jedenfalls vor. Als sie zur windabgewandten Seite kamen, wurde es schlagartig still. Ein Hurrikan, fragte sich Kolle. Er sah zum Himmel. Aus einem riesigen Loch im Himmel blinkten Sterne. Triefend nass patschten Kolle und Onne ins Haus und trugen den Toten durch das Restaurant.
„Wir haben nicht viel Zeit!“, rief er in die Runde. „Wo ist der Kühlraum?“
„Da lang! Hinter der Küche.“ Das Gesicht des Chefs wurde jetzt bleich wie Schnee. „Das ist ja der Wolters!“, rief er.
„Wer ist Wolters?“ Kollerup sah ihn scharf an.
„Unser Wattführer!“
„Ex-Wattführer, meinen Sie.“
„Ja. Er sollte heute eine Wattwanderung machen. Fiel ja aus.“
„Was hat er dann hier noch zu suchen gehabt?“
„Er hatte sich bei meiner Frau beschwert, und dann war es zu spät, um gefahrlos zurück durch das Watt zu laufen. Für solche Fälle haben wir ein Zimmer im Angestelltenhaus. Dort kann man dann übernachten.“
„Egal. Ab in den Kühlraum mit ihm!“
Zu dritt trugen sie die Leiche in den Kühlraum und legten sie auf einen Tisch.
„Machen wir, dass wir hier rauskommen!“ Kollerup war total durchgefroren. Onne hatte in der Zeit die Fragen der Anwesenden beantwortet. Ein Hurrikan! Kannte man eigentlich nur aus dem Fernsehen. Aber hier? An der Nordsee? Wasserhosen, ja, die kannte man, oder die in der letzten Zeit auftretenden Tornados, die auf dem Meer riesige Wassermassen in große Höhen sogen. Aber vielleicht war es ja nur ein Orkan. So genau kann man das bei den heutigen Wetterkapriolen ja nie sagen.
„Haben wir ein Netz, Onne?“
„Kolle, du willst jetzt Fische fangen?“
„Nein. Kein Netz“, kam ihm der Hotelchef zuvor.
„Scheiße.“ Kolle dachte nach.
Kollerup wandte sich an den Hotelchef. „Gibt es in diesem Haus Satellitenverbindung?“
„Das hängt am Stromnetz und ist nicht autonom. Wer rechnet denn auch mit so einem Blitz, der alles lahmlegt?“ Fast schien es, als fühlte sich der Chef verantwortlich für den Blackout. „Das Einzige, was wir noch haben, ist das Gas für die Küche.“
„Ich brauche eine Liste der Gäste.“ Kolle betete im Stillen, dass es eine solche Liste gab. Aber als er das Gesicht des Chefs sah, sank seine Zuversicht.
„Aber Nele kann Ihnen sagen, wer eingecheckt hat. Warten Sie.“ Er wandte sich zum Restaurant und rief: „Nele! Komm mal bitte.“ Die schlanke nordische Schönheit mit dem blonden Pagenschnitt kam.
„Ja?“ Große braune Augen sahen ihren Chef an.
„Sag mal bitte dem Herrn Kommissar, wer alles eingecheckt hat.“
Und sie begann ohne Zögern, alle Gäste aufzuzählen.
„Moment, Moment!“, lachte Kolle und bat Onne, die Namen zu notieren. Der bekam ein Tablet und einen Stift, mit dem man auf dem Display schreiben konnte. Dauerte eine Sekunde, bis Onne die App aufgerufen hatte und bereit war.
„So“, Kolle sah Nele an. Als sie fertig war, bekam sie bewundernde Blicke.
„Eidetisches Gedächtnis“, hauchte der Chef des Hotels ergriffen. „Nele ist Gold wert.“
„Das ist sicher hilfreich in Ihrem Beruf“, sagte Kolle trocken. Die Angesprochene schien das kaltzulassen.
„Ist aber auch manchmal ein Fluch. Man vergisst so schnell nichts“, sagte sie und etwas schien sie plötzlich traurig zu stimmen.
Insgesamt gab es zehn Zimmer im Hotel. Oben sechs und unten vier. Im Obergeschoss waren vier belegt, unten zwei. Dann bedankte er sich bei Nele und dem Chef.
„Ach ja, ...“, ihm fiel etwas ein. „Wer kümmert sich eigentlich um die Haustechnik?“
„Jan-Ole“, antwortete der Hotelchef. „Soll ich ihm sagen, dass er sich den Schaden mal ansehen soll?“
„Ja. Gute Idee!“ Kolle nickte zufrieden. „Wie ist es mit der Verbindung zum Festland?“, wollte er wissen.
„Das müssen wir sehen, wenn wir Strom haben. Das Festnetz ist jedenfalls tot. Und wann wir Strom vom Festland bekommen, wissen wir, wenn die Smartphones wieder über Satellit funktionieren.“ Der Hotelchef sah hinaus und meinte trocken: „Aber bei diesen dichten und hohen Wolken sieht es schlecht aus.“
„Hoffen und beten“, murmelte Kolle. „Schicken Sie jemand nach oben, der sich die oberen Stockwerke ansehen soll. Ich müsste mal duschen und etwas Trockenes anziehen. Und der da auch.“ Er deutete auf Onne, der jetzt in eine Decke gehüllt auf einem Stuhl saß und etwas Heißes trank. Der Chef gab einen Wink, und ein junger Bursche trabte los. Nach 15 Minuten kam er zurück.
„Alles klar oben. Fenster haben gehalten und das Dach scheint unbeschädigt zu sein. Das grenzt an ein Wunder, Chef.“ Der erwiderte nur: „Ist ja alles für viel Geld sturmsicher gemacht worden.“ Damit schien für ihn der Fall erledigt zu sein.
Kolle war es egal. Während draußen der Orkan wieder zunahm, freute er sich unter der Dusche, dass er noch warmes Wasser hatte. Allerdings ohne Kommentare der sprechenden Dusche Betty.
Als er nach seiner Kleidung im Schein der Taschenlampe suchte, gingen die Lichter wieder an. Nach einem Flackern erloschen sie wieder. Dann gab es wieder Strom. Kolle wartete etwas ab, bevor er seine Lampe ausschaltete. Als er nach zwei Minuten immer noch Licht hatte, atmete er auf.
Auf dem Flur traf er Onne, der gerade eines der nicht belegten Zimmer verließ. Die Hose, die man ihm gegeben hatte, war an den Beinen mehrmals umgeschlagen und das viel zu große Sweatshirt schlabberte an seinem Körper.
„Sag nichts!“, wies dieser Kolle mit einem Finger drohend zurecht.
„Ich sag ja nichts. Ich stelle mir vor, wie deine geliehene Unterhose aussehen mag.“
„Welche Unterhose?“, erwiderte Onne trocken.
Jetzt mussten beide lauthals lachen. An der Bar orderte er als Erstes zwei dreifache Whiskeys. Irischen wollte er jetzt haben. Ohne Eis und ohne Wasser.
Zum Hotelchef, der in der Küche stand, um mit dem Koch die Lebensmittellisten durchzugehen, sagte er: „Sie können die Gäste in ihre Zimmer schicken. Wir versuchen, eine Runde zu schlafen. Bei dem Wetter flüchtet niemand. Schließen Sie aber alle Türen sorgfältig ab. Und ihre Angestellten bleiben bitte auch im Haus. Niemand verlässt das schwankende Schiff.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Gibt es was Neues vom Techniker?“
Der Hotelchef schien erleichtert zu sein, als er sagte: „Ja. Er hat sich eben über sein Funkgerät gemeldet. Sieht übel aus, aber er meint, er könne es provisorisch richten.“
Als Kollerup und Onne in den tiefen Clubsesseln hingen, zündete Kolle sich zwei Zigaretten an. Mit Spezialtabak. Das hatte er sich verdient, fand Kolle, und bot Onne auch einen Joint an. Der zuckte nur einmal mit einer Augenbraue und nahm das Angebot an. Irgendwann saßen sie kichernd und trinkend – der Barkeeper war so nett gewesen, die Flasche auf die Theke zu stellen – in den bequemen Loungesesseln und lauschten leiser Fahrstuhlmusik. Es blieb nicht bei einem Joint. Stunden später dämmerten sie zu den Klängen von ACDCs Whole lotta Rosie, natürlich in einer kitschigen Piano-Lounge-Version, in einen leichten Schlaf.
„Gottlob hat Angus damals nicht Klavier gelernt, sondern Gitarre“, hauchte Onne noch.