Kitabı oku: «Die letzte Fähre ging um fünf», sayfa 3

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Hotel
Erster Tag nach dem Unwetter
08:00 Uhr

Der nächste Morgen erwachte genauso wie unsere beiden Helden in der Bar: grau und vernebelt. Jemand hatte die Musik gewechselt.

„Soll wohl aufmunternd sein“, stöhnte Kollerup. Bei diesem Musiksirup kam er nicht auf Touren! Er schleppte sich zur Rezeption.

Per Klimmzug zog er sich am Tresen hoch und lallte mit schwerer Zunge: „’allo! Jeman’ da?“ Maik kam aus dem Büro.

„Moin, Herr Kommissar!“, begrüßte er Kollerup.

„Pschscht!“ Kolle zischte mit Zeigefinger am Mund: „Nich’ so laut!“

Entschuldigend hob Maik beide Hände und etwas leiser: „Was kann ich für Sie tun?“

„Sie könn’ mir sagen, wie ich normale Musik hören kann.“

„Normal?“

„Ja, normale Musik. Rockmusik, handgemacht. Normale, wie sie jeder normale Mensch hört.“

„Rock?“

„Ja.“

„Moment.“ Er ging ins Büro. „ACDC und so?“, rief er.

„Nicht heute Morgen! Irgendwas 60er-Jahre oder 70er-Jahre.“

„Pink Floyd?“

Kolle stöhnte erleichtert. „Ja!“

Sekunden später erklangen die ersten Noten von Shine on you crazy diamond.

„Sie haben mir das Leben gerettet, Maik!“

„Aus meiner Privatsammlung. Pink-Floyd-CD-Box.“

Zurück im Restaurant roch es nach Kaffee. Vorsichtigen Schrittes schlich Kollerup zur Anrichte, wo das Frühstück vorbereitet wurde, und schnüffelte an der Kaffeekanne. Hab’ ich es gewusst, triumphierte er innerlich. Letzte Dröhnung der schwärzesten Röstung. Onne schlürfte an einer Tasse und sog dieses Teerzeugs in sich hinein.

„Wenn ich auch so erschossen aussehe wie du, können wir locker in einem Zombiefilm mitspielen!“, begrüßte ihn sein neuer Freund.

„Ja, sicher, und das schwarze Zeugs schmieren wir uns ins Gesicht, das wird hammergruselig.“

Kolle wollte einen normalen Filterkaffee, den er bei Nele bestellte, die heute aussah, als ob sie auf einer Schönheitsfarm übernachtet hatte. Er setze sich. Kaum hatte er seinen Kaffee, kam Budnik, der Hotelchef.

„Guten Morgen, Herr Kommissar. Schlechte Nachrichten. Die Stromzufuhr vom Festland, das Festnetz und Satellitenverbindung sind unterbrochen.“

„Waren Sie schon draußen?“

„Ja. Der Anleger ist total zerstört. Da kann in den nächsten Tagen kein Schiff anlegen.“

„Das ist gut. Dann kann auch niemand flüchten“, freute sich Kolle.

„Ist eh gerade Hochwasser“, meinte Budnik. Kolle nickte und trank dankbar seinen normalen Kaffee.

„Aber“, der Hotelchef hob einen Finger, „wir haben Radioempfang!“

„Super!“

„Aber es sieht auf dem Festland nicht gut aus. Mehrere kleinere Schiffe, die an Land geworfen worden sein sollen, abgedeckte Häuser, entwurzelte Bäume. Gottlob keine Toten, allerdings mehrere hundert Menschen verletzt. THW und Bundeswehr räumen gerade auf. Vor morgen früh ist nicht mit einer Fähre zu rechnen. Die Inseln sind glimpflich davongekommen. Wie es auf den anderen Halligen aussieht, ist nicht bekannt.“

Kolle dachte nach. „Hubschrauber!“, rief er einem Einfall folgend.

„Alle im Einsatz, wie es heißt. In den Nachrichten und Sondersendungen wird berichtet, dass alle verfügbaren Helikopter in der Luft seien. An die Halligen und Inseln wird appelliert, noch einen Tag durchzuhalten.“

„So, heißt es das? Gut.“ Er sah auf seine Uhr. „Ich möchte gerne den Toten untersuchen. Meine dürftigen Kenntnisse müssen dieses Mal ausreichen. Ab elf Uhr werde ich erste Befragungen durchführen. Stellen Sie bitte sicher, dass sich Ihre Gäste dann zur Verfügung halten. Aber jetzt muss ich etwas essen.“

Nach dem Frühstück ging er mit Onne vor die Tür. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Vom Wattenmeer war nicht viel zu sehen. Dichter Nebel begrenzte die Sicht auf höchstens 20 Meter.

„18 Grad“, sagte Onne mit einem Blick auf das Außenthermometer. Das, was sie sehen konnten, sah auf den ersten Blick nicht anders aus als sonst. Dann schlenderten sie den Rundweg entlang und mussten mehreren Baumresten ausweichen.

„Bäume!“, rief Kolle erstaunt.

„Ja. Vermutlich vom Festland oder von Hooge drüben. Weiß der Geier“, erwiderte Onne.

Vom Anleger war nichts übrig. Bestes Tropenholz und Eichenstämme, einfach weg. Dann wandten sie sich zur Kapelle. Onne war schon sehr nervös.

Als sie dort ankamen, drängelten schon die ersten Schafe ins Freie. Onne zählte schnell durch. Es waren genauso viele wie vorher. Exakt 200 Schafböcke. Der malende Schäfer atmete auf. Nur seine Hütte war nicht schadlos davongekommen. Das Dach fehlte. Außerdem waren sämtliche Fensterscheiben zerstört.

„Kann man wieder reparieren!“, rief Onne munter.

In der Hütte sah es aus wie nach einem Erdbeben. Nicht ein einziges Bild hing an den Wänden. Kolle war entsetzt! Das Werk eines Künstlers, weggewischt. Aber Onne schien guter Dinge zu sein. Ein Lied pfeifend, sah er sein ehemaliges Heim an. Er hob das eine oder andere hoch und sagte dabei: „Kann man alles reparieren.“ Dann ging er in die Ecke, in der die Nasszelle war. Sie gab es noch. Die Tür der Dusche war verschlossen. Mit einem theatralischen „Aha!“ riss Onne sie auf. Da lagen sie! Seine Bilder. Mit einer Plane sorgfältig festgezurrt. „Muss nachher alles ins Haus gebracht werden. Aber momentan liegen sie hier ganz gut.“ Onne verschloss die Tür der Dusche wieder sorgfältig und dann stolperten sie weiter.

„Sag mal, was denkst du über die letzte Nacht?“, fragte Kollerup.

Onne suchte im Schutt nach dem Kühlschrank. Er bemerkte, dass der Maler seine Frage nicht gehört hatte.

„Was machst du da!“

„Bier. Ich suche mein Bier.“

„Scheiß auf dein Bier! Da ist nichts mehr.“

„Doch. Muss.“

„Ist doch ganz normales Bier! Im Hotel gibt es die gleiche Sorte.“

„Nö.“

„Wie. Nö.“

„Im Hotel gibt es das nicht. Würde mich sehr wundern.“

„Da ist er! Hilf mal.“ Kolle stöhnte und half.

„Ha!“ Onne hielt triumphierend zwei braune Flaschen hoch. Sahen unscheinbar aus, fand Kolle. Gar nicht wie Bierflaschen, sondern eher wie alte Weinflaschen. Der Hals mit rotem Wachs versiegelt.

„Weißt du, was DAS ist?“ Onne fuchtelte damit vor Kolles Nase herum.

„Bier?“

„Ja, sicher! Aber welches?“

„Flens?“

„Ich bezweifele, dass die damit zu tun haben.“

„Du willst doch wohl nicht sagen, dass du das Bier unserer verfeindeten Nachbarn trinkst! Dithmarscher!“

„Ah! Nein!“ Onne freute sich wie Rumpelstilzchen.

„Also gut, ich gebe auf.“ Jetzt wollte Kolle es endlich wissen.

„Es ist das älteste Bier, das man hier in dieser Gegend haben kann.“ Onne liebte Rätsel. Jetzt stöberte er wieder herum und fand unter einem Holzstapel einigermaßen trockenes Zeitungspapier. Er wickelte die Flaschen sorgfältig ein und übergab eine davon Kollerup.

„Nicht fallenlassen“, ermahnte er ihn.

„Nicht trinken, wäre angebrachter jetzt“, grinste Kollerup.

Wortlos gingen sie zum Hotel. Kolle konnte warten. Wenn Onne so weit war, dann würde er ihm schon reinen Wein – oder passenderweise reines Bier – einschenken. Soweit sie es überblicken konnten, schienen die Wohnhäuser und das Hotel den Hurrikan fast schadlos überstanden zu haben.

Die Salzwiesen selber sahen natürlich nicht mehr so idyllisch aus wie vorher. Treibgut jeder Größe und Art lag herum. Sogar einige Wellblechdächer, vermutlich von einem Schuppen der Nachbarhallig. Ein großes Stück steckte wie ein abgestürztes Raumschiff schräg im Gras. Ansonsten alles das, was man nach einer Sturmflut üblicherweise immer vorfindet: Plastikflaschen, Kisten, Balken und Kanister. Und auch ein Kinderwagen, was Kolle zu denken gab. Er hoffte, dass die Mutter hoffentlich so schlau gewesen war, das Kind vorher in Sicherheit zu bringen.

„Sag mal. Hörst du das?“ Er blieb stehen und lauschte.

„Nö. Ich höre nichts.“

„Das meine ich doch!“

„Diese Ruhe?“

„Ja!“

Kein Wind, keine Möwen, selbst das Wasser lag irgendwo im Nebel völlig lautlos da. Keine Signalhörner der Schiffe. Sogar das bei einer solchen ruhigen Wetterlage kaum wahrnehmbare Wummern der Schiffsmotoren fehlte. Es war totenstill.

Hallig
Drei Tage vor dem Unwetter
12:00 Uhr

Unerbittliche Hitze und eine Luftfeuchtigkeit, die sich mit der in tropischen Breiten messen konnte, schlug dem Rentnerpaar Sievertsen entgegen, als es die klimatisierte Passagierkabine der Fähre verließ und die Hallig betrat.

Etwas verloren standen sie am Anleger der Hallig und wussten zunächst nicht, wie sie sich verhalten sollten. Wollte das Hotel nicht einen Wagen schicken, um sie abzuholen? Ihr Gepäck – vier Koffer und zwei Taschen – hatte der freundliche Mitarbeiter der Fähre ihnen zum Steg gebracht. Ratlos sahen sie sich an.

„Wir könnten schon mal zwei Koffer zum Hotel bringen.“, schlug Kurt Sievertsen vor.

Heidi Sievertsen schien das absolut nicht recht zu sein. „Nein. Wir haben bezahlt“, erwiderte sie resolut und fügte hinzu: „Und die Gepäckbeförderung gehört zum Service!“

„Sieh mal!“ Kurt deutete zur Hotelwarft, die mit dem wuchtigen Bau des Haubargs die Hallig beherrschte. Strahlend weiß leuchteten die frisch gekalkten Wände vor einem blauen Sommerhimmel, der mit kleinen Wölkchen dekoriert jeden Ansichtskartenfotografen vor Freude hätte jubeln lassen. Ein kleines blaues Auto bewegte sich lautlos auf sie zu und schlängelte sich auf der gewundenen einspurigen Straße in Richtung Anleger. Ein junger Mann sprang mit einem „Moin!“ aus dem Elektrofahrzeug.

„Moin“, erwiderten Kurt und Heidi im Chor.

„Ich bin Knut, willkommen auf Grienoog!“

Mit einem kräftigen Händedruck begrüßte er die beiden und bat sie, im Wagen Platz zu nehmen. Als er das Gepäck verstaut hatte, glitten sie geräuschlos zum Hotel.

„Zum ersten Mal auf Grienoog?“ Lässig, eine Hand am Lenkrad, beugte Knut sich nach hinten.

„Jo“, erwiderte Kurt. Heidi litt unter der Hitze und sagte nichts.

„Dann werden Sie Ihren Aufenthalt sicher genießen.“ Ihr Fahrer deutete auf eine Kirche und sagte: „Das da hinten ist unsere Attraktion. Die Kapelle ist über 300 Jahre alt. Davor das nächste Highlight: unsere Schafe.“ Etwa 80 Schafe hechelten wiederkäuend auf einer großen Wiese vor der Kapelle, die wie jedes Haus hier auf einer Warft stand.

Etwas abseits stand eine kleine Hütte, vor der ein Zwerg im Unterhemd an einer Staffelei saß und eine Leinwand mit dunkler Farbe beschmierte.

„Onne“, erklärte der junge Mann. „Unser Hirte, Maler und die dritte Attraktion von Grienoog.“

Als sie die Auffahrt zum Eingang des Hotels hochfuhren, war es fast so, als ob sie flögen. Sanft kamen sie zum Stehen und Knut half ihnen beim Aussteigen.

Im Foyer wurden sie von einer friesischen Schönheit begrüßt: „Moin, ich bin Nele. Willkommen auf Grienoog! Wenn Sie bitte hier zur Rezeption entlangkommen würden? Knut kümmert sich um Ihr Gepäck.“

Als sie die Formalitäten erledigt hatten, bekam jeder einen Beeper ausgehändigt.

„Damit können Sie jederzeit das Elektrofahrzeug rufen, und Knut wird sie dann abholen.“

Kurt wollte zunächst ablehnen.

„Auf einer Hallig? Kann man doch bequem zu Fuß ...“, aber Heidi knuffte ihn in die Seite und nahm beide Beeper entgegen. Svenja, die Rezeptionistin, lächelte und erklärte ihnen das Übliche zu den Frühstückszeiten und den Annehmlichkeiten, die die Gäste hier genießen konnten: „Außerdem können Sie die E-Bikes nutzen. Für Hotelgäste kostenlos.“

Im Zimmer bestaunten sie die technischen Neuigkeiten der Sanitärtechnik. Eine sprechende Dusche! Daran, dass es keinen Wasserhahn im Waschbecken gab, mussten sie sich zunächst gewöhnen. Fotozellen steuerten die Wasserzufuhr und die Temperatur. Und die Toilette reinigte sich selbst. Im Schlafbereich gab es einen Fernseher, der sie mit Neuigkeiten der ganzen Welt versorgte, daneben ein Tablet, mit dem sie im Internet surfen oder ihre Tageszeitung online lesen konnten.

Bis zum Abendessen hatten sie noch reichlich Zeit die Hallig zu erkunden und so beschlossen sie, ausnahmsweise die E-Bikes auszuprobieren. Beide waren sie zwar nicht unsportlich, aber warum nicht, wenn es nichts kostete? In leichter sommerlicher Bekleidung schwangen sie sich auf die Räder und radelten auf dem Rundweg los. Auf den Wiesen blühten zu dieser Jahreszeit viele Blumen. Neben dem violetten Strandflieder, dessen Blühphase jetzt begann, sah der helle Wermut ganz entzückend aus, fand Heidi Sievertsen.

An der Schafweide hielten sie kurz an und sahen dem malenden Zwerg zu, der immer noch mit der Leinwand beschäftigt war. Als der sie bemerkte, sah er kurz rüber und winkte freundlich mit dem Pinsel.

„Moin!“, rief er ihnen zu.

Sie winkten zurück und fuhren zur Kapelle. Leider war der Zugang von einem niedrigen Zaun versperrt und nur mit Mühe konnten sie einen Blick ins Innere werfen. Von Weitem sah der Bau wesentlich größer aus, als er wirklich war. Die Kapelle war eher einem kleinen Häuschen ähnlich als einem ehemaligen Gotteshaus. Sie hatte zwar einen kleinen Glockenturm, um den Mauersegler halsbrecherisch ihre Kreise zogen, ansonsten wirkte das Gebäude schäbig. Das Dach des Schiffes war zugekotet, einige Fenster mit Holzlatten provisorisch vernagelt. Der Eingang an der Westseite, ein gähnendes Loch, dürftig mit einer Wellblecheinfassung vor den schlimmsten Wetterbedingungen geschützt. Einige Schafe standen am Zaun und sahen neugierig zu den beiden Menschen. Andere lagen im Schatten des Turmes hechelnd an einem Wassertrog.

Dann fuhren sie an einem extrem gut gepflegten Stückchen Rasen vorbei, in dessen Mitte ein großes H mit gelben Platten gelegt war. Ein Hubschrauberlandeplatz! Man hatte an alles gedacht auf der Hallig.

Ein großes Wohnhaus stand abseits des Platzes, wie jedes Haus auf den Halligen auf einer Warft. Dem Helikopterplatz schloss sich eine Minigolfanlage an, die eher Maximaße hatte. Neben dem Platz eine Hütte, die allerdings verschlossen war. Ein Schild über der Tür verriet ihnen, dass die Anlage zum Hotel gehören würde, und daneben waren die Öffnungszeiten zu lesen. Vormittags von 9 bis 14 Uhr und nachmittags von 15 bis 20 Uhr konnte man kleine Bälle in die Salzwiesen schleudern. Dann fuhren sie am Anleger vorbei und weiter den Rundweg zum Strand des Hotels entlang.

Der war allerdings auch erstaunlich groß. Er zog sich von der östlichen Seite der Hallig bis zur südlichen direkt unterhalb des Hotels. Mehrere Strandkörbe standen hier großzügig verteilt mit Blick auf das Wattenmeer. Holzwege, edelstes Tropenholz, verbanden die Warft mit der Strandbar, wo sie heute essen würden.

Die ganze Zeit, in der sie unterwegs waren, sprachen sie nur wenig. Außer einem „Sieh mal da!“ oder einem „Guck mal, ist das Amrum da hinten?“ redeten sie nichts weiter.

Kurt machte ab und zu Fotos mit seinem Smartphone und Heidi beschränkte sich darauf, ihm zu sagen, wovon ihr Mann Bilder machen sollte. Sie waren schließlich nicht zum Vergnügen hier, auch wenn ihr Aufenthalt heute etwas von Karibikurlaub hatte.

Im Zimmer zurück speicherten sie die Fotos auf ihrem Notebook und sahen sie sich noch einmal genau an. Als das der Kapelle auf dem Monitor erschien, waren sie sich wortlos einig. Dort sollte die Rache vollzogen werden. Die Kirche war ideal.

*

Beim Abendessen waren sie nicht alleine. Am Nebentisch saß eine Familie mit einem sehr braven Jungen, der völlig untypisch für Kinder seines Alters absolut stillsaß und sich mit seiner Mutter unterhielt. Frisch gekämmte Haare, eine Designerbrille für Kinder auf der Nase. Er trug ein Hawaiihemd, das noch die Legefalten aus dem Geschäft zeigte.

Armer Bursche, wie alt mag der sein? Fünf Jahre oder schon sechs, dachte Kurt Sievertsen.

Er sah seine Frau an, der offensichtlich dasselbe durch den Kopf ging, und lächelte. Da war ihre Tochter damals ganz anders gewesen. Kaum zu bändigen. Hatte immer eine Frage parat, die ein unendliches Interesse an der Welt gezeigt hatte.

Die Eltern des Jungen sahen so aus, als ob sie sich in dem modernen Ambiente des Hotels zu Hause fühlten. Kurts Welt war das nicht. Sie konnten es sich locker leisten, aber er fand, dass weniger besser wäre, wenn er an die 70er-Jahre zurückdachte. Kein Flachbildschirm in jedem Raum.

Im Foyer, an der Bar und auch hier an der Wand der Restaurantbar liefen die neuesten Nachrichten aus aller Welt. Früher war man im Urlaub, basta. Kein Fernseher, vielleicht das Radio leise im Hintergrund, und maximal die lokale Tageszeitung am Abend. Er hatte auch nichts gegen gebrauchte Möbel, wenn sie wirklich alt waren. Nur ging ihm dieses „Auf-Alt-Getrimmte“ auf die Nerven. Sie rochen und fühlten sich neu an, sahen aber aus wie aus Opas Gartenlaube. Hellgrau gestrichen. Betonung auf „gestrichen“, denn jedes Pinselhaar hatte im Used Look der Möbel seine weißgraue Spur hinterlassen. Dann hatte man es abgeschliffen und eine Nuance dunkler getüncht und das so oft, bis vier Schichten Farbe sichtbar waren. Dann lieber die alte verklebte Theke seiner alten Dorfkneipe mit den dunkelbraunen Holzstühlen, von denen immer einer gewackelt hat, ging es ihm wehmütig durch den Kopf.

Der etwa 40-jährige Mann redete mit seinem Smartphone. Satzfetzen waren zu hören.

„Ja ... Maybach hier. Wie, morgen geht nicht ... ach ... ja gut, dann nächsten Sonntag? ... Gut, noch vor der Wattführung ... ja, alles gut. Kein Problem. Bis dann, Herr Wolters.“

Als Maybach das Smartphone zur Seite legte, bestellte er mit einem Fingerschnippen die Bedienung zu sich. Kurt schnaubte verächtlich. Yuppiearsch. Er lächelte seine Frau an. Sie hatte auch den Namen gehört.

Eine schlanke Dame betrat das Restaurant. Sie schien die 50 überschritten zu haben, aber Kurt ahnte, dass sie in ihren jüngeren Zeiten der Schwarm aller Männer gewesen sein musste. Kurze graue Haare, brauner Teint. Unsicher sah sie sich um und setzte sich neben die offene Verandatür, mit Blick auf das Meer.

Kurts Frau schien in Gedanken weit weg zu sein. Er berührte ihre Hand und sie kam zurück in die Realität. Er beugte sich vor und flüsterte: „Bald ist es vorbei.“ Sie nickte und aß den Rest ihres Desserts.

„Na dann“, sagte er laut. Sie standen beide auf, verließen das Restaurant durch die Verandatür und schlenderten hinunter zum Strand. Ein wunderschöner Sonnenuntergang. Trotzdem war es immer noch schwülwarm und eine leichte Brise verschaffte ihnen kaum Abkühlung. Träge schwappten kleine Wellen an den künstlich aufgeschütteten Strand.

Sie bestellten sich an der Strandbar Longdrinks und setzten sich in einen der Strandkörbe. Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach. Dann zog Heidi Sievertsen ihre Kamera aus der Umhängetasche und sie sahen sich die Bilder an, die sie auf ihrer Halligrundfahrt gemacht hatten. Ja. Absolut. Die alte Kapelle war ideal. Dorthin würden sie ihn locken und dann bestrafen.

Sie waren auf der Hallig, um den zur Rechenschaft zu ziehen, der für den Tod ihrer Tochter verantwortlich war.

Hallig
Erster Tag nach dem Unwetter
09:00 Uhr

Kolle und Onne standen noch lauschend eine Weile einfach nur da. Als es Onne zu langweilig wurde, stupste er Kolle an und forderte ihn auf, zum Hotel zu gehen. Der Husumer Kommissar war plötzlich sehr nachdenklich.

„Ich weiß nicht ...“, seufzte Kollerup und schüttelte seinen Kopf.

„Was weißt du nicht?“

„Na, denk mal darüber nach. Wir sind hier auf einem Stück Land, das irgendwann mal Teil des Festlandes war. Eine Hallig.“

„Ja, und?“ Onne sah seinen Freund an.

„Der Untergang vieler Orte und Dörfer war die Folge von immer höheren Sturmfluten. Hatte wohl was mit der Klimaerwärmung und ihren Folgen zu tun.“

„Na ja.“ Onne wackelte mit dem Kopf.

„Ja, wie?“

Onne hob einen Finger. „Nach der großen Eiszeit, als die Mammuts verschwunden waren, und die Menschen wieder vermehrt in den Norden zogen, wurde es ständig wärmer. Das kann nicht die Ursache eines von Menschen verursachten Klimawandels gewesen sein.“

„Ja, ich weiß.“ Kolle wusste auch, dass es ein ständiges Abkühlen und Erwärmen in den letzten Jahrhunderten gegeben hat.

„Aber, was ich sagen will ist, dass wir jetzt scheinbar wieder in einer Zeit der Erwärmung leben. Allerdings ist diese Erwärmung auf der ganzen Erde spürbar und sie geht schneller voran als die letzten Warmzeiten der Erdgeschichte. Der Orkan, der möglicherweise ein Hurrikan war, ist so ein Zeichen.“

Onne wiegte skeptisch seinen Kopf. „Mag ja sein, aber ob es ein Hurrikan war?“ Er zuckte mit den Schultern. „Sieh mal“, sagte er und blieb stehen. „Selbst wenn es so wäre, was willst du dagegen machen?“

„Nichts. Ich fand es eben nur bezeichnend, dass wir jetzt wieder in einer Zeit der Erwärmung mit steigenden Sturmfluten leben. Und wir befinden uns auf einem Zeitzeugen der Folgen eines steigenden Meeresspiegels.“ Er stampfte mit einem Fuß auf. „Diese Hallig.“

„Tja. Alles fließt.“ Onne war in dem Punkt pragmatischer. „Nichts bleibt wie es ist.“

„Apropos fließen ...“, Kolle hob eine in Zeitungspapier verpackte Bierflasche. „Ist das trinkbar?“

„Nichts bleibt wie es ist“, wiederholte Onne grinsend.

Im Hotel schritten sie zur Tat. Leichenschau. Und natürlich die Verdächtigen befragen. Es sah nicht so aus, dass bald vom Festland Hilfe kommen würde. Also musste Kollerup improvisieren. So gut er konnte. Vom Haustechniker Jan-Ole lieh er sich eine Digitalkamera mit Stativ, aus der Küche einen Karton mit Einweghandschuhen. Auf die obligatorischen Overalls musste er heute ausnahmsweise verzichten.

Zunächst ließ er den Toten aus der Kühlkammer in eines der unteren Zimmer bringen. Wolters war kein Leichtgewicht. Onne, Herr Maybach und er hatten ziemliche Mühe, die Leiche auf den improvisierten OP-Tisch zu hieven. Er verbat sich jegliche Störung, baute die Kamera auf und begann, den Toten oberflächlich zu begutachten.

„Todeszeitpunkt steht ja fest.“ Kollerup notierte sich die Zeit und sah dabei Onne an. Der zuckte nur mit den Schultern.

„Haben ja alle Gäste gesehen, dass er gestorben ist.“

„Genau, Onne“, bestätigte Kolle.

„Jetzt müssen wir den Toten vermutlich auf äußere Wunden untersuchen und so?“ Onne schien ganz aufgeregt zu sein. „Cool. Wie im Fernsehen.“

„Jepp.“

„Lupe?“

„Jepp!“

„Hier!“

In den nächsten Minuten war es so still im Zimmer, dass man die Schafe auf der Wiese blöken hören konnte. Onne nahm die Kamera in die Hand und begleitete Kolle, der die derzeitige Uhrzeit, wer anwesend war und wer untersucht wurde, bekanntgab.

„Ich beginne bei den Füßen. An den Schuhsohlen ...“, er schnupperte daran und fuhr fort: „Schafskot.“

„Bleibt auf dieser Hallig nicht aus“, murmelte Onne und zoomte die Sohle mit Kot heran.

„Kleidung.“ Kolle setzte seinen Rundgang um die Leiche fort.

„Leichte Sommerkleidung. Hose, leichtes Hemd. Unbeschädigt. Unterarme weisen Schürfwunden auf. Ante mortem.“

„Häh?“

Kollerup verdrehte seine Augen. „Weil die Schürfwunde verschorft ist. Nach dem Tod fließt kaum noch Blut.“

„Ah so. Ja, klar“, entschuldigte sich Onne kleinlaut.

„Weiter. Hose ist in Kniehöhe stark verschmutzt. Außerdem sind die Handflächen verletzt.“

„Auch ante?“

„Wie bitte?“

„Vor dem Tod, nach dem Tod oder Todesursache?“ Onne sah ihn grinsend an.

„Wenn du so weiterfragst, bekommst du gleich ein Ante-mortem-Veilchen.“ Kolle grinste zurück und schwenkte die Lupe bedrohlich. „Gesicht und Kopf, keine Verletzungen. Aber ...“, er kam jetzt zum Wesentlichen und Offensichtlichen, „am Hals eine etwa zehn Zentimeter lange Schnittwunde. Unregelmäßiger, gewellter Rand. In der Wunde steckt etwas.“

Während Onne intensiv die Wunde aufnahm, eilte Kollerup zur Tür, riss sie auf und stieß mit dem Techniker zusammen. „Eine Spitzzange, bitte. Schnell.“

Jan-Ole rannte los. Der Hotelchef sah ihn an. „Schon was entdeckt?“

„Nein.“ Kolle fiel etwas ein: „Ach ja, sagen Sie bitte allen, dass ich sie in einer Stunde befragen werde.“

„Selbstverständlich, Herr Kommissar!“

Jan-Ole kam mit einer Zange zurück. Kollerup schnappte sie sich und schloss die Tür. Vorsichtig zupfte er an der Wunde herum. Dann hielt er einen länglichen Gegenstand ins Objektiv.

„Hey. Nicht so schnell, sonst wird es unscharf!“ Onne zoomte etwas zurück, bis es auf dem Display scharf sichtbar war.

„Sieht aus wie ein Stück Wellblech. Etwa zehn Zentimeter lang. Und etwa vier Zentimeter breit“, dozierte Kolle. Er sah sich um und stellte fest, dass er keine Plastiktüten hatte. Er rief nach dem Hotelchef, der kurz darauf seinen Kopf ins Zimmer steckte.

„Plastiktüten brauche ich!“, schimpfte Kollerup, über sich selbst sauer. Keine Minute später hatte er einen Karton mit Zippertüten. Vorsichtig tütete er das Beweisstück ein. Alles unter dem scharfen Auge der Kamera.

Er hob einen Zeigefinger und zeigte auf die Tüte, dazu redete er wie ein Fernsehmoderator in die Linse hinein: „Also erstes vorläufiges Ergebnis: Kurz vor seinem Tod zog sich der zu der Zeit noch Lebende vermutlich bei einem Sturz Schürfwunden an Händen, Armen und Knien zu. In seinem Hals, auf der rechten Seite, eine Wunde, in der das eben gezeigte Stück Wellblech steckte. An der ansonsten sauberen Wunde keine Kruste mit getrocknetem Blut. Ich werde den Toten jetzt entkleiden.“

Fluchend ging er, von der Kamera verfolgt, zur Tür und bat den Hotelchef um einige Mülltüten. Nach und nach tütete er die Kleidungsstücke ein, nachdem er sie auf sichtbare Spuren untersucht hatte. Als der Tote nackt vor ihm lag, bat er Onne, die Kamera am Stativ zu befestigen. Gemeinsam drehten sie die Leiche auf den Bauch. Keine Totenflecken. Kollerup sprach laut, damit die Aufnahme deutlich genug war: „Der Körper zeigt keine Hinweise auf Hypostase. Das bedeutet, dass nicht genug oder kein Blut im Körper vorhanden war, das die typischen Flecken nach einem Tod hervorruft.“

Sie drehten den Körper wieder auf den Rücken. Jetzt wurde die Haut gründlich auf Verletzungen untersucht. Eine unangenehme Prozedur, da Kolle noch nie Leichen mochte, denen er auf Nasenlänge nahekommen musste. Er war schließlich Polizist und kein Mediziner oder Spurensicherer. Aber auch das hatte er irgendwann hinter sich. Als er der Meinung war, dass nichts weiter herauskommen würde, wickelte er die Leiche in Mülltüten und verklebte sie wie ein Paket. Kleidung, das Stück Wellblech und der Leichnam selber kamen wieder in die Kühlkammer. Die Speicherkarte kam ebenfalls in eine Tüte, die in Kollerups Hosentasche wanderte. Sicher ist sicher, dachte er. Dann hatte er Hunger.

Im Restaurantbereich wurden die Tische für das Mittagessen gedeckt. Der Hotelchef hatte beschlossen, dass alle an einem Tisch essen sollten. Schließlich war man gemeinsam hier eingeschlossen. Niemand hatte etwas dagegen.

Die Gäste waren in gedämpfter Stimmung. Nur der sechsjährige Malte, der Sohn der Maybachs, plapperte wie ein Wasserfall. Für ihn war alles ein riesiges Abenteuer. Selbst als gestern Nacht der Tote an ihm vorbeigetragen wurde, wirkte er eher aufgeregt als ängstlich.

Nur langsam kam ein zähes Gespräch unter den Gästen auf. Wie lange es wohl dauern würde, ihr Robinson-Dasein? Wie ging es ihren Angehörigen und Verwandten auf dem Festland? Wie groß waren die Schäden? Fragen kursierten und niemand hatte eine befriedigende Antwort. In den Nachrichten der Radiosender hieß es immer wieder, dass die Schäden erheblich waren, die Zahl der Verletzten wurde stündlich nach unten korrigiert. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, auf Überlandfahrten mit dem Auto zu verzichten. Die Stromversorgung war in fast allen Gemeinden wieder gesichert. Da der Katastrophenfall ausgerufen wurde, waren zurzeit mehr Rettungsfahrzeuge unterwegs als Privatfahrzeuge. Die Nachrichtensprecher wiederholten immer wieder den englischen Slogan aus dem Zweiten Weltkrieg: „Bleiben Sie ruhig und machen Sie weiter“.

Als die ersten Gäste scheinbar keinen Appetit mehr hatten, räusperte sich Kollerup vernehmlich und stand auf. Solche Aufmerksamkeit machte ihn verlegen und er wusste nicht so richtig, wo er anfangen sollte.

„Einige werden mich vermutlich noch nicht kennen. Mein Name ist Kollerup und ich bin Hauptkommissar bei der Husumer Mordkommission. Eigentlich wollte ich Urlaub machen, aber leider ist es dann doch anders gekommen.“ Kolle suchte nach den richtigen Worten. „Egal. Jedenfalls kennen Sie unsere Lage. Ein Mann ist vor unseren Augen gestorben. Meine Aufgabe ist es nun, die Todesursache herauszufinden, Spuren zu sichern und Zeugen zu vernehmen. Da Sie ja wissen, dass wir momentan auf uns gestellt sind, bitte ich Sie um Ihre Mithilfe.“

Kollerup beobachtete die Reaktionen der Gäste, während er sprach. „Ich werde also heute mit Ihnen ein Gespräch führen. Bitte versuchen Sie sich an den Tag und die Zeit vor dem Unwetter zu erinnern. Ist Ihnen etwas aufgefallen? Was kam Ihnen seltsam vor? Je mehr Sie mir erzählen, desto besser. Es ist auch egal, wie unwichtig es Ihnen erscheint.“ Er sah sich um. Nach einer Kunstpause fügte er hinzu: „Alles kann wichtig sein.“

Onne raunte ihm zu, dass er sehr stolz auf ihn sei. Aber er sollte den Leuten schon noch sagen, wie er weiter vorgehen wolle. Kollerup setzte sich und bestellte einen Kaffee. Bevor er seinen Fehler bemerkte, stand auch schon eine Tasse mit bestem Filterkaffee vor ihm. Dankbar lächelte er Nele an. Nach einem tiefen Schluck erhob er sich erneut.

„Leute! Eine Sache noch.“

Damit hatte nun niemand gerechnet und es war totenstill.

„Da wir inzwischen relativ ruhiges Wetter haben und ich durchaus verstehen kann, dass es Sie nach draußen zieht, muss ich dem üblichen Vorgehen folgen.“ Er nannte die Namen der Gäste und forderte sie auf, sich in der genannten Reihenfolge im Abstand von 30 Minuten im Büro an der Rezeption einzufinden.

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