Kitabı oku: «Ein Schlüssel zur inneren Biografie», sayfa 2
2RELIGION IM ICH
DIE INNERE KRAFT VON NATASCHA KAMPUSCH
Am 2. März 1998 wurde Natascha Kampusch als zehnjähriges Mädchen entführt. Sie hatte sich vorgenommen, dass dieser Tag der erste Tag eines neuen Lebens sein sollte. Auf dem Weg zur Schule wird sie von einem Mann in einem weißen Lieferwagen entführt. In einem Verlies unter einem gewöhnlichen Einfamilienhaus hält er sie achteinhalb Jahre gefangen. Nach und nach gestattet er ihr »Ausflüge«, bis sie in einem unbewachten Moment fliehen kann.12
IM RINGEN UM DIE INNERE FREIHEIT
Wie hat dieses Mädchen das ausgehalten, ohne zu zerbrechen? Wie hat sie den Täter in Schach gehalten, der zugleich über acht Jahre lang ihre einzige Bezugsperson war? Wie hat sie es geschafft, an ihrem Plan: »Mit 18 will ich frei sein!« festzuhalten und ihn gegen alle Widerstände zu realisieren? Ihr ungebrochenes Überleben ist umso bewundernswerter, als sie sich selber als unsicheres Mädchen schildert, das eine schwierige Kindheit hatte, im Wechselbad von Aufmerksamkeit und Vernachlässigung. Ihr starker Kern zeigt sich aber schon früh in dem Willen, zu lernen, Schwierigkeiten allein zu meistern.
Mit zehn Jahren sehnte sich Natascha Kampusch schon nach der Vollendung ihres 18. Lebensjahres, denn dann würde sie ausziehen und endlich selbstbestimmt leben können. Dieser Wille zur Zukunft, der Zeitbogen hin zum 18. Lebensjahr bildet die entscheidende Kraft, aus der Natascha Kampusch sich aufrechtgehalten hat. Sie hat aus der Zukunft überlebt!
Einige Wochen vor ihrer Entführung hatte sie durchgesetzt, allein zur Schule gehen zu dürfen. Sie wollte das, um ihre Angst selbst zu besiegen, von innen heraus stark zu werden. Die Entführungssituation zeigt dieses Ringen: Als sie den weißen Lieferwagen sieht, schrillen in ihr die Alarmglocken. Hat sie auf irgendeine Weise gewusst, was sie erwartet? Sie entschließt sich, nicht auf die andere Straßenseite zu wechseln, sondern an dem Unbekannten vorbeizugehen – als Mutprobe. Als sie ihm näher kommt, schwindet ihre Angst! Er strahlt etwas Schutzbedürftiges aus, verloren und sehr zerbrechlich ... In dieser Erstbegegnung blickt sie tief in die Psyche des kranken Täters. Er wirkt schutzbedürftig, verloren, schwach. Hier zeigen sich bei Natascha schon zwei dem menschlichen Ich zugehörige Stärken: Mut und Empathie.
In den Jahren zuvor waren in den Medien verschiedene Fälle von Entführungen, von Missbrauch an Kindern bekannt geworden, die auch in der Schule besprochen wurden. Psychologen hatten geraten, sich gegen Übergriffe nicht zu wehren, um nicht das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Natascha hielt sich daran. Der Täter befahl ihr, ruhig zu sein, doch Natascha setzte sich über seine Anweisung hinweg und fragte ihn – nach seiner Schuhgröße! Man müsse den Täter genau beschreiben können, hatte sie gelernt. Offenbar hat sie den ersten Schock zurückdrängen können, indem sie ihre ganze Aufmerksamkeit in die Sinneswahrnehmung schickte.
In ihrem Gefängnis angekommen, fragt sie offen: »Werde ich jetzt missbraucht?«, und erhält die Antwort: »Dazu bist du viel zu jung, das würde ich nie tun.« Der Missbrauch durch den Täter ist sublimer. Er ist auf die Wahnidee verfallen, sich mit absoluter Macht die Nähe eines Menschen zu erzwingen, sich eine Sklavin heranzuziehen.
Auf dem kalten, nackten Boden ihres Verlieses findet sich Natascha in absoluter Dunkelheit. Als der Täter mit einer Glühbirne zurückkommt, geschieht in ihr etwas, ohne das sie wohl nicht überlebt hätte: »Ich akzeptierte, was passiert war.« Ihre Panik weicht einem gewissen Pragmatismus. Sie fügt sich, passt sich äußerlich an. Sie hat diese Form der Anpassung an die gegebenen Verhältnisse später eine Regression in ihre Kindheit genannt, durch die sie sich geschützt habe. Dadurch bewahrte sie sich einen inneren Raum, in dem Widerstands- und Durchhaltekraft wachsen konnten.
Der Täter übt einen sublimen Terror aus. Auf der einen Seite erfüllt er ihr nach und nach viele äußere Wünsche (Videogerät, Radio, Bücher ...), andererseits foltert er sie durch quälende Helligkeit in den Nächten, Reizentzug zu anderen Zeiten, Hungerfolter, Beschallung. Von körperlichen Misshandlungen, die im Laufe der Jahre zunehmen, kann sie sich nur durch minutiöses Aufschreiben einigermaßen distanzieren: Sinneswahrnehmung und Leiblichkeit als primäres »Zuhause«, als Grundlagen der Identität werden vom Täter attackiert. Er versucht nach und nach, ihr diese Identität zu nehmen.
Er verlangt, dass sie sich einen neuen Namen sucht: Natascha wählt »Bibiana«. Sie darf nicht mehr von ihrer Lebensgeschichte, der Zeit vor der Entführung sprechen. Er will sich einen Menschen »züchten nach seinem Bild«. Ihr eigenes Bild verweigert er ihr: Sie bekommt keinen Spiegel, sie soll sich vergessen. Hinter seiner Fassade ist der Täter so schwach, dass er ihr verbietet, ihm frontal ins Gesicht zu sehen!
Als Natascha nach sechs Monaten zum ersten Mal ihr Verlies für kurze Zeit verlassen darf, wird ihr schmerzlich bewusst, wie perfekt und praktisch unauffindbar das Versteck ist. Das fällt ihr schwer auf die Seele. Sie realisiert, dass sie auf äußere Befreiung nicht rechnen kann.
Vom ersten Tag der Entführung an lebt sie weiter auf das entscheidende Datum hin: ihren 18. Geburtstag. Um ihre Identität zu bewahren und zu stärken, versucht sie, ganz bewusst in der Zeit zu leben, sie putzt und pflegt und verschönert ihren »Kokon«. Sie begibt sich in Form von »Zeitreisen« in den Laden der Großmutter, baut sich an glücklichen Erinnerungen wieder auf, entdeckt ein inneres Reich, das ihr niemand nehmen kann. In diesem Reich erblüht für sie das Wunder der Sprache neu: »Es waren Worte, die mich damals retteten.« (S. 87)13 Sie verwebt Worte ineinander, schreibt sich selbst lange Briefe und kleine Geschichten, macht sich selber Mut:
»Nicht unterkriegen lassen, wenn er sagt, du bist zu blöd für alles.
Nicht unterkriegen lassen, wenn er dich schlägt.
Nichts drauf geben, wenn er sagt, du bist unfähig.
Nichts drauf geben, wenn er sagt, du kannst ohne ihn nicht leben.
Nicht reagieren, wenn er dir das Licht abdreht.« (S. 232)
In äußerster Abhängigkeit erringt sie sich eine bewundernswerte Unabhängigkeit und Widerstandskraft. Das Erstaunlichste aber in ihrem Verhalten ist, dass sie die Gefahr des Hasses von Anfang an durchschaut, nämlich, dass der Hass auch den Hassenden allmählich auffrisst und vernichtet. In einem Buch von Michel del Castillo (geb. 1933) findet sich ein weisheitsvoller Ratschlag an den Jungen Tanguy:
»Nein, Tanguy, du darfst nicht hassen! Der Hass ist eine traurige Krankheit. Weil du viel gelitten hast, musst du viel verstehen und alles verzeihen. Überlasse den Hass jenen, die zu schwach sind, um lieben zu können.«14
Anstatt Hass zu entwickeln, erwachen in ihr der Wille und die Kraft zu verzeihen. Sie versucht, den Täter als Menschen zu sehen, der nicht von Grund auf böse ist, sondern es erst im Laufe seines Lebens wird. Dies ist keine Relativierung oder gar Entschuldigung des Täters, aber es hilft Natascha, ihm zu verzeihen und dadurch sich selber immer wieder von den Misshandlungen zu befreien. »Ich habe ihm die Entführung verziehen und jedes einzelne Mal, wenn er mich schlug und misshandelte. Dieser Akt des Verzeihens gab mir Macht über das Erlebte zurück und ermöglichte mir, damit zu leben.« (S. 184)
Instinktiv spürt sie, dass sie sonst zugrunde gegangen wäre. »Ich wäre auf eine Weise ausgelöscht worden, die viel schwerer gewogen hätte als die Aufgabe meiner alten Identität, meiner Vergangenheit.« Durch das Verzeihen – nicht durch den Hass – kann sie sich innerlich befreien; das Böse, das ihr zugefügt wird, kann sie nicht mehr erniedrigen und zerstören.
Sie hat nicht sympathisiert und kooperiert, sie hat aus innerer Stärke hinter der Fassade der Unterdrückung und des Terrors den Menschen gesucht.
»Stärker sein.
Nicht aufgeben.
Niemals, niemals aufgeben.« (S. 232)
Wo ist die Quelle dieser inneren Stärke? Wir stehen vor einem großen Rätsel, ja vor einem Geheimnis, das Natascha Kampusch nur an wenigen Stellen andeutet: Sie lebt in einem inneren Dialog mit dem, was sie ihr »zweites Ich« nennt.
VERTRAG MIT DEM ZWEITEN ICH
Indem Natascha Kampusch ins Jugendalter kommt, tritt eine neue Dimension in ihr Leben. In jedem Jugendlichen lebt der gesunde Impuls, die Jahre der Kindheit, die selbstverständliche Verbundenheit mit der Welt, in die man hineingeboren wurde, zurückzudrängen, um für das Eigene, das noch nicht da ist, einen Werde-Raum zu schaffen. So empfindet Natascha erstaunlicherweise, dass ihr die totale Freiheitsberaubung zugleich innere Freiräume eröffnet! »Im Schatten dieser Macht, die mir alles vorschrieb, konnte ich paradoxerweise zum ersten Mal in meinem Leben ich selbst sein.« (S. 147)
Doch zugleich vertiefen sich Angst und Einsamkeit, besonders an den Wochenenden, an denen sie immer allein ist. Sie wacht nachts schweißgebadet auf und ringt in der Dunkelheit darum, innerlich nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr kommt die Idee, sich selbst als die erwachsene Natascha und ihre eigene Zukunft als ermutigendes Gegenüber vorzustellen. Sie sieht ihr Leben vor sich wie einen leuchtenden Zeitstrahl, der weit in die Zukunft reicht, sie sieht ihr eigenes 18-jähriges Ich, groß und stark, selbstbewusst und unabhängig!
In diesem inneren Erlebnis kommt ihr verborgenes Ich ihr entgegen, sie gehen aufeinander zu, in der Mitte reichen sie sich die Hand! Sie fühlt die warme Berührung, fühlt, »wie sich die Kraft meines großen Ich auf das kleine übertrug«. (S. 172)
Die bewegende Nachtszene in völliger Dunkelheit und Einsamkeit schenkt Natascha große Zuversicht. Das höhere Selbst, das in jedem Menschen schlummert, erwacht in ihr. Dies ist weder eine subjektive Einbildung noch ein starres Über-Ich, das herrscht, sondern ein Partner in Freiheit. Aus dieser lebendigen, immer neuen Beziehung erfährt sie Stärkung. »In dieser Nacht schloss ich einen Vertrag mit meinem eigenen, späteren Ich. Ich habe mein Wort gehalten.« (S. 172)
Dennoch gelingt ihr die Flucht zunächst nicht! Bei mehreren »Ausflügen«, unter anderem in einen Baumarkt, und sogar bei einer zufälligen Polizeikontrolle (!) ist sie wie gelähmt. Ihr wird klar, dass sie von außen keine Hilfe bekommt und dass sie sich nur allein befreien kann. Als sie 17 wird, spitzt sich die Situation zu, es kommt sogar zu Selbstmordversuchen. Der Kontakt zu ihrem höheren Wesen droht abzureißen. Sie spürt, dass ihre Kraft schwindet und sie immer tiefer in die paranoide Welt des Täters hineinrutscht. Es kommen ihr Zweifel: Wie soll ihr kleines, verzagtes Ich zu dem starken Ich werden, das sie aus diesem Gefängnis befreien wird?
Sie berichtet, dass ihr in dieser Situation nur die Selbstgespräche mit dem zweiten Ich (S. 231) geholfen haben. Dieser Ausdruck zeigt die ganze Paradoxie ihrer Situation: Es sind Selbst-Gespräche, aber das Selbst spannt sich zwischen dem kleinen, gewöhnlichen Ich und dem zweiten, starken, zuversichtlichen Ich. Natascha Kampusch kann sich in dieser Spannung halten und wird durch sie gehalten.
Eines Morgens bleibt ihr aus der Nacht ein vages Gefühl, dem sie erstaunt nachsinnt. Aus dem Schlaf bringt sie tiefe Entschlossenheit mit. Sie ist inzwischen 18 Jahre, fühlt sich stark und selbstbewusst. »Ich war nun erwachsen, mein zweites Ich hielt mich fest in der Hand.« (S. 249)
Aber es kommen neue Krisen, Phasen der Verzweiflung, verpasste Gelegenheiten ... Die Beziehung zum Täter spitzt sich zu. Er spürt, dass sie sich ihm mehr und mehr entzieht. In einem letzten Versuch, seine absolute Macht zu beweisen, befiehlt er ihr, einen schwarzen Farbeimer rot zu nennen. Als sie sich weigert, wird sie fast bewusstlos geschlagen.
Es ist sein letzter verzweifelter Versuch einer absoluten »Machtergreifung«. Er will nicht nur ihren Bewegungsraum, ihre Zeit, ihr Essverhalten, er will zuletzt ihr Bewusstsein kontrollieren und beherrschen. Wahrheit soll nicht sein, was sie durch Wahrnehmung und Denken schafft, sondern allein, was er ihr vorgibt. Schließlich konfrontiert sie ihn: er solle sie umbringen oder freilassen. Er spürt, dass er mit seinen Plänen gescheitert ist. Dann gelingt ihr doch noch die Befreiung! Bei der Gartenarbeit klingelt sein Handy, er lässt sich ablenken, zum ersten Mal seit dem Beginn der Gefangenschaft lässt er sie aus den Augen. In einem »übermenschlichen Gewaltakt«, angefeuert durch die Stimme ihres zweiten Ich, gelingt ihr die Flucht.
VERTRAUEN: EINE RELIGION IM ICH
Haben religiöse Aspekte in den Jahren der Gefangenschaft für Natascha Kampusch eine Rolle gespielt? Sie spricht wenig über dieses Thema, aber zwischen den Zeilen ist tiefes religiöses Vertrauen zu spüren. Vertrauen in eine Instanz, die übersinnlicher Natur ist, ein Wesen, das auf sie stärkend und ermutigend wirkt. Es kommt nicht darauf an, ob es zweites Ich, höheres Ich oder Genius genannt wird. Es sind dies alles Aspekte ein und desselben.
In ihrem Buch berichtet Natascha, noch sehr kindlich, von dem tiefen Trost eines Liedes, dessen Text sie direkt zu betreffen scheint, ein Gebet an die Muttergottes:
Es will das Licht des Tages scheiden;
nun bricht die stille Nacht herein.
Ach, könnte doch des Herzens Leiden
so wie der Tag vergangen sein!
Ich leg mein Flehen dir zu Füßen;
o, trag’s empor zu Gottes Thron,
und lass, Madonna, lass dich grüßen
mit des Gebetes frommem Ton:
Ave, ave Maria!
Es will das Licht des Glaubens scheiden;
nun bricht des Zweifels Nacht herein.
Das Gottvertraun der Jugendzeiten,
es soll uns abgestohlen sein.
Erhalt, Madonna, mir im Alter
des Glaubens frohe Zuversicht;
schütz meine Harfe, meinen Psalter;
du bist mein Heil, du bist mein Licht!
Ave, ave Maria!
Es will das Licht des Lebens scheiden;
nun bricht des Todes Nacht herein.
Die Seele will die Schwingen breiten;
es muss, es muss gestorben sein.
Madonna, ach, in deine Hände
leg ich mein letztes, heißes Flehn:
Erbitte mir ein gläubig Ende
und dann ein selig Auferstehn!
Ave, ave Maria!
Über die literarische Qualität dieses Liedes kann man sicher streiten, aber für das gefangene, einsame Kind war es ein höchster Segen. Oft können gerade Kinder durch das Äußere hindurch den wesentlichen Kern erfassen. So auch hier. Dieses Lied erschien Natascha geradezu für sie geschrieben. Sie bittet um ein »gläubig Ende« und ein »selig Auferstehen«.
Im Älterwerden findet Natascha eine Religion. Sie findet eine Religion im Ich. Sie erlebt die innere Spannung zwischen einem gewöhnlichen Ich und einem höheren, zweiten Ich. Entscheidend dabei ist die lebendige, treue Beziehung zu diesem Wesen – und der Mut, sich dieser Beziehung immer wieder neu zuzuwenden, sooft sie auch verloren scheint; sie lebt eine Religion im Ich.
Natascha Kampusch offenbart sich als ausgesprochen starke Persönlichkeit. Die Gefangenschaft ohne Aussicht auf Rettung und die ständige Bedrohung, der sie ausgesetzt ist, nimmt sie als Herausforderung an. Ihr Überlebenswille mündet in die Kraft, die Jahre ihrer Gefangenschaft als zu ihr gehörig anzunehmen. Sie lehnt nach ihrer Befreiung einen neuen Namen ab. Sie ist und bleibt Natascha Kampusch. »Ich bin Natascha Kampusch, ich wurde am 02.03.1998 entführt, und ich habe mich am 26.08.2006 selbst befreit.«
Natascha Kampuschs Lebenswille verdient unsere Bewunderung und Hochachtung. Ihr einsames Ringen um eine selbstbestimmte Zukunft ist die starke Treue zu dem, was wir unser höheres Selbst, den »Geist in unserem Herzen« nennen können.
»Strahlender als die Sonne
Reiner als der Schnee
Feiner als der Äther
Ist das Selbst,
der Geist in meinem Herzen
Dies Selbst bin Ich
Ich bin dies Selbst.«
Rudolf Steiner15
3DIE FREIE KRAFT IM MENSCHEN
Zu den Phänomenen unserer Zeit, welche die menschliche Biografie gestalten, gehört die Tatsache, dass im Berufsleben der Menschen ein Punkt kommt, an dem die Frage nach dem Sinn der eigenen Arbeit laut wird. Viele Menschen steigen an diesem Punkt um und suchen ein Arbeitsfeld, das über den Verdienst des Lebensunterhaltes hinaus eine innere Befriedigung schenkt und für das menschliche Umfeld und die Umwelt von Bedeutung ist. Wo es dem Menschen nicht gelingt, seinem Lebensstil in Familie und Beruf eine Sinngebung wie einen goldenen Faden einzuwirken, drohen die Kräfte zu versiegen. Viele Menschen, gerade diejenigen, die sich in der Welt sozial engagieren, in den Schulen, in der Entwicklungshilfe und wo auch immer, fühlen sich plötzlich ausgebrannt, d. h. ganz ohne Kraft. Durch diese Erfahrung gehen heute viele Menschen früher oder später, sodass sie den Eindruck haben: Ihre Existenz ist wie an ein Ende gekommen, und eigentlich müssten sie jetzt ganz neu beginnen. Aber woher die Möglichkeit und die Kraft nehmen, die freie Kraft aus dem Inneren des Menschen?16
DAS SCHWERT: BILD DES ICH
Alle Krisen wirken sich in der Seele, in den Lebenskräften, in Gesundheit und Krankheit aus, aber sie hängen zusammen mit dem, was ich »das Drama des menschlichen Ich« nennen möchte. Nicht Tragödie, sondern das Drama des menschlichen Ich. Wie kann man dieses Drama des menschlichen Ich anschauen? Die heutigen Wissenschaftler stehen eigentlich vor der großen Frage: Entspricht dem Wort »Ich« überhaupt etwas? Man kann es nicht anfassen, man kann es nicht messen. Ist es überhaupt wirklich?
Um die Frage nach dem menschlichen Ich und seine Entwicklung verstehen und beantworten zu können, möchte ich ein Bild verwenden, das für das menschliche Ich stehen kann – es findet sich auch im Neuen Testament: das Bild des Schwertes. Das Schwert ist ein Bild für das menschliche Ich, für die Ich-Kraft. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, was es mit dem ganzen Menschen macht, wenn er ein Schwert ergreift und es führen will. Bis in seinen Leib vollzieht sich dabei eine Straffung, eine Konzentration; Wachheit ist gefordert. Wer ein Schwert führen will, muss diese Kräfte entwickeln.
In der Apokalypse des Johannes wird von dem Menschensohn gesagt, dass ein scharfes, zweischneidiges Schwert aus seinem Mund hervorgehe. Das knüpft an Jesaja an, der den Gottesknecht schildert: begabt mit der Kraft des Richtspruches, mit dem Wort, das aus seinem Munde hervorgeht und Entscheidung bewirkt. Die Kraft der Entscheidung, die innere Wachheit, das Kämpferische – all das kann uns am Bild dessen, der das Schwert gebraucht, deutlich werden.
Es gibt zu dem Schwert ein eindrückliches Bild aus der germanischen Mythologie: die Siegfried-Sage. Darin wird von einem Schwert erzählt, das einen wunderbaren Ursprung hat. Der nordische Seher schaut die ganze Schöpfung der Welt als in einem Baum zusammengefasst: die Weltenesche. Sie ragt in den Himmel und ist tief verbunden mit der Erde. Odin, einer der Götter, die den Menschen mit dem Ich begabt haben, stößt ein Schwert in die Weltenesche. So heißt sie dann die »Esche Yggdrasil«, das heißt übersetzt »Ich-Träger«, ein Name, der auch für den Menschen zutreffend ist. Der Mensch selbst erscheint im Bild der Esche Yggdrasil. Odin bestimmt, dieses Schwert solle dem gehören, der die Kraft hat, es herauszuziehen.
Federzeichnung der Weltenesche von Franz Stassen (1869–1949).
In der Sage gelingt es Sigmund, das Schwert herauszuziehen, aber es wird ihm später zerbrechen. Es ist sein Sohn Siegfried, der das Schwert wiederherstellen wird, denn er erfüllt die Prophezeiung, indem er keine Furcht kennt.
DAS SCHWERT NEU SCHAFFEN
Siegfried kommt auf eine geniale Idee. Er ergreift die Reste des Schwertes und raspelt sie in einzelne kleine Stücke, löst das Schwert auf und schmilzt es dann auf einem Ofen, über einem Feuer, das von Scheiten der Esche genährt wird. Die Esche, Bild für die Ich-Kraft des Menschen, wird genommen, um das Feuer zu schüren. Siegfried schmilzt die Teile des Schwertes und gießt sich daraus eine neue Waffe, schafft aus dem alten ein neues Schwert. Mit diesem Schwert kann er dann den Drachen besiegen.
»Dem sterbenden Vater
zersprang der Stahl;
der lebende Sohn
schuf ihn neu«
heißt es bei Wagner. Ein wunderbares Bild!
Wie aus einer ersten Schöpfung heraus wird der Mensch mit der Ich-Kraft begabt, aber sie zerbricht. Der Mensch scheitert, erlebt, dass er scheitert, dass er nicht das tun kann, was er eigentlich will, dass er an Grenzen gerät. Siegfried schmilzt das ein und schafft es aufs Neue. Ein Umschmelzungsprozess, ermöglicht durch die Kräfte des normalen, des gewöhnlichen Ich, die da geopfert werden, um die Wärme zu schaffen, die notwendig ist, um das neue Schwert herstellen zu können. Das Bild für das menschliche Ich – gegeben, zerbrochen, neu geschaffen aus der Kraft des Feuers, wir können auch sagen: aus der Kraft des Herzens.
In dieser Sage wird vornehmlich auf den Aspekt des Ich in seiner Beziehung zum Willen geblickt. Die Ich-Begabung steht als ein Geschenk der Götter vor uns. Wie aus einer ersten Schöpfung heraus wird der Mensch mit der Ich-Kraft, im Bild des Schwertes begabt. Dieses Schwert ist zweischneidig, geeignet zum Segen und zum Fluch. Der Mensch scheitert, erlebt, dass er scheitert, dass er nicht das tun kann, was er eigentlich will, dass er an Grenzen kommt. So fügt die Ich-Kraft der Welt zunächst tiefe Wunden zu, und nur dieselbe Kraft kann und muss diese Wunden heilen.17 Dazwischen liegt der Weg der Läuterung, der im Bild des Umschmelzens des Schwertes erscheint, eine Verwandlung im Ich.
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