Kitabı oku: «Ein alter Mann wird älter», sayfa 3

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28. Oktober 2020

Nun ist schon Ende Oktober und ich lebe noch immer. Sogar klarer als im August. Damals war jede Stunde zu viel, ich dachte nur an Schlussmachen. Die Frage, wie ich das mache, hat die Gedanken beherrscht, da ich keine letalen Tabletten bekam. Da nach dem Karlsruher Spruch zur Sterbehilfe keine Hilfe zu erwarten war, kam ich am Ende auf elf Methoden der Selbsthilfe: Mit Stürzen, Stichen, Schnitten, Stricken, Ertränken, den Gashahn vom Grill, Ersticken, Verhungern, und die Überdosis Blutdrucksenker. (Ob das ging?) Es gab mehr Möglichkeiten, als man dachte. Ich musste oft an Adalbert Stifter13 denken, in dessen beruhigte Welt auch der Schnitter eintrat, der er dann selbst war.

Der im August selbstgesetzte Termin ist vorbei, ich gehe jetzt wieder stockgestützt, freilich durchs Dorf nicht mehr durch, sondern vorm Haus, 200 Schritte nach links, dann nach rechts. Es geht gut, erfrischende Schritte. Gestern war Cora da. Sie schaut einem zuerst in die Augen, ob ihr Weiß noch oder wieder klar ist. Bessern kann sie sie nicht, aber sie zog meine Hände auf ihre Brüste. Sie hat das gern. Ich denke dann immer wieder an die lebenstapfere Marieluise Fleißer. Der junge Lion Feuchtwanger war ihr Liebhaber, damals, Anfang der zwanziger Jahre, bevor sie in Brechts Hände fiel. 1970 übernahm ich auf Unselds Ruf die Ausgabe der Fleißerschen Werke14 – die Fleißer wurde damals auch mit Fassbinder, Kroetz und Martin Sperr in Ingolstadt zusammen präsentiert – und wie das Gespräch so ging, fragte der Brecht-Verleger Unseld in seiner stets tätigen Neugier, wie Brecht denn so im Bett gewesen wäre. Die Antwort war kurz, also sachlich. Aber dabei erzählte sie, dass der liebe Lion immer von ihrem jungfräulichen Busen als »dem schönsten in Mitteleuropa« gesprochen, ja geschwärmt habe.

Ich merke jetzt, es ist beim Schreiben wie im Leben: die erotischen Sachen kommen einem immer dazwischen. Ich wollte eigentlich sagen, ich bin unverhofft gestärkt, es ist wohl ein Zwischenhoch – aber wieder allein. Ich muss mir die Tage selbst füllen, suche also vielleicht doch mit mir nach mir. Die neuesten Fußball-Ergebnisse auf dem Abendspaziergang mit meinem treuen rumänischen Betreuer reichen dann doch nicht aus.

Zarte Roulade, mit herrlichster Soße und Kartoffelpüree, vorsichtig auftauen und nachher im Backofen heißmachen. Ich hatte auf Ober- und Unterhitze statt auf Auftauen gedreht. Mein Auge erkennt die Striche nicht mehr und mein Kopf hat die Striche noch nicht eingeübt. Die Roulade war ein einziges hartes schwarzes Etwas. Ich musste das Festgebrannte mit dem Messer abkratzen, war gerade dabei, den heißen Teller einzuweichen, da kam Dumitru und half meinem Suchen nach Ersatz aus der Patsche. Es war noch da, ein Stück vom Wiener Schnitzel, kalte, gekochte Kartoffeln. Er brauchte zwei Anläufe, bis es essbar warm war. Danach der Rest von der Roten Grütze. Dann öffnete Dumitru, es war sein 20. Hochzeitstag, die blaue Dose vom Hochzeitsfeierkuchen. Seine hübsche Frau, die Krankenpflegerin, ist eine Tortenbäckerin erster Güte, schickte vom neuesten Produkt, Sahne mittendrin, ein Stück mit. Ich sollte es unbedingt versuchen. Jetzt liegt mir alles im Magen und drückt mir die erdachten Gedanken aus dem Kopf.

29. Oktober 2020

Ich hab’s gerade noch geschafft, es fängt an zu regnen, ich war mit der umstürzenden Frage beschäftigt, was besser, richtiger ist: immer die 1200 Schritte zählen oder was ganz anderes denken. Noch kann ich sagen, es kommt auf die Tagesform an. Die Erfahrung habe ich erlebt. Aber irgendwann wird man, werde ich stürzen und um Hilfe rufen und was dann? »Carpe diem« hätte ich beinah geschrieben, und schwupp hörte ich wieder die froh springende und schwingende Stimme, die Gedichte von Horaz ins Zimmer sprach. Ich hatte eine alte, wieder ausgegrabene Schallplatte aufgelegt, habe ja immer noch das stammelnde Latein aus der Lateinstunde im Ohr, aber das hier war lebendig, wie auf einem römischen Gelage. Ich war plötzlich im alten Rom. Ich verstand nichts, aber erlebte eine römische Viertelstunde, wie gestern, als ich Heidegger hörte, langsam jedes Wort setzend (Bodenständigkeit, Atomzeitalter), wie ein Prediger, jedes Wort aus dem Satz genießend. Letzte Woche überraschte mich Thomas Mann. Er sprach seine Erzählung »Herr und Hund« zum Teil ganz aufgeregt, als läse einer die gefährlichste Passage aus »Sherlock Holmes«. Er steckte die ganze Aufregung in den Vortrag. Ich hielt ihn immer, weil er so lange Sätze schrieb, für einen denkenden Redner. Hier verschwand das sicher feinsinnig Erdachte in einem ganz fremden Ton. Ich habe mir einen ganzen Stapel solcher Schallplatten aus dem Schrank holen lassen, Josef Pieper, Elisabeth Langgässer, von Stefan Andres »Wir sind Utopia«. Und sechs Platten von Gert Westphal. Er war ein edler Sprecher, es war seine eigentliche Karriere. Ich kannte ihn als Schauspieler aus Bremen. Gepflegte Form der fünfziger Jahre, traf wieder auf ihn im Zürcher Schauspielhaus. War dort höchst beliebt, bis 1970 Peter Stein kam. Es muss ihm damals, wie vielen anderen, das Theater zusammengebrochen sein. Als er meine Kritiken las, schrieb er an die Herausgeber der F.A.Z. über den neuigkeitssüchtigen Herrn g. r. Es wirkte – die F.A.Z. hatte eine teilweise sehr konservative Mannschaft – lange nach. Ich bin gespannt, wie lange ich das Stimmen-Museum aus den fünfziger Jahren aushalte. Man treibt in die Zeit wieder, der man entkommen ist, besser: aus der man sich herausgearbeitet hat.

30. Oktober 2020

Schmerzpunkt des vorgerückten Alters: »Du hättest zehn Jahre früher anfangen müssen«, spricht es in mir. Das »Zu-spät« war früher der Brennpunkt großer dramatischer Werke. Die Stückeschreiber von heute kennen das nicht mehr.

Auch im Internet gibt es Umleitungen. Man lernt noch immer dazu, aber kann es selber nicht mehr nutzen. Bernd Feuchtner, der mir vorletzte Woche sein neues Buch über die Oper des 20. Jahrhunderts schickte, schwer wiegt es in der Hand, bedankte sich für meinen Dank, den Cora nach Diktat ihm schickte. Ich hatte ihm berichtet, dass ich das Werk nicht mehr lesen, nur noch durchblättern könne. Er schrieb zurück, dass ihn meine Reduktion sehr getroffen hätte, erinnerte an die gemeinsame Arbeit in Berlin, gleich nach der Wende, und was man früher für Schmus gehalten hätte, und das in dem Satz endete vom besten Chef, den er hatte. Das war wie ein Echo aus dem grünen Urwald des Lebens in mein vertrocknetes Dickicht, in das ich geraten bin. Je dicker das Schweigen um einen wird, desto mehr kommt man ins Sammeln solcher Sätze. Man hält Ausschau nach Zeichen, dass man doch noch in der Welt ist.

31. Oktober 2020

Ich warte jetzt auf eine Antwort vom Verlag. Ob, was und wie die Dinge ruhen oder in Bewegung sind. Ich muss mich selber bremsen, damit das Tempo des Wartens nicht zu hoch wird. Dabei bin ich früher, wenn ich nach Zürich oder ins Theater musste, gern schnell gefahren, auch mal zweihundert. Das war vor 50 Jahren, da gab es den »Raser« noch nicht, wenigstens nicht als Begriff. Aber die Autobahn war nachts auch noch leerer. Damals war das noch eine Lust; wenn ich heute daran denke, spüre ich die Gefahr und mein Glück, dass ich heil angekommen bin. Auf der Fahrt von Bochum – wohl nach Hagen – hielt ich einmal an einer Tankstelle. Da kam mein Hintermann und sagte: »Wissen Sie, dass Sie hinten platt sind?« Der Schreck war groß und sitzt bis heute in mir. Das Tempo hatte den platten Reifen wohl gehalten. Mein Gott, was einem wieder einfällt, kommt man mit einem Wort auch nur in die Nähe ehemaliger Begebenheit. Als würde plötzlich hier einem Gefangenen das Tor des Verlieses geöffnet. Dabei wollte ich doch ganz anderes in die Maschine geben. Nennt man das auch Eingebung? Ich wollte nur noch vermerken, dass unter den Grüßen, die mich jetzt erreichen, doch öfter angemerkt wird, man habe viel von mir gelernt. Das überrascht mich heute noch. Ich habe das nie erwartet, dass von mir was zu lernen sei. Ich fühlte mich selbst immer als Lernender. Wenn ich mal deuten sollte: ich suchte, ohne zu wissen, nach dem Geheimnis des Theaters. Das muss es doch geben, sonst wären nicht so viele vernarrt oder nur beschäftigt mit Theater. Ich glaube, es hat mich einfach angezogen, angesogen, obwohl ich immer noch meine, ich gehöre anderswohin. Nennt man das Magie?

31. Oktober 2020, abends

Ich muss dem doch mal nachgehen. Die Frage »Wie kamst du zum Theater?« habe ich immer wieder weggesteckt. Das Seltsame ist, wenn ich an die Anfänge denke, sehe ich immer eine Figur aus Zuckmayers »Der fröhliche Weinberg« auf dem Misthaufen stehen, der in unserer Bäckerei prächtig vor unserem Küchenfenster lag. Wir hatten zwischen Backofen und Scheune einen umbauten Hof, der umgeben war von Küche, Misthaufen, Aschenkammer, Plumpsklo und dem Stall für zwei Schweine und das Pferd, unsern Max. Daneben lag die große Scheune und die hohe Bodenkammer für das Mehl. Auf dem Misthaufen sehe ich immer Zuckmayer. »Des Karlche«, wie wir Zuckmayer immer nannten, hatte in der Figur des Knuzius sicher einen künftigen Nationalsozialisten hingestellt, um ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Auf unserem Misthaufen stand er nie, aber ich sehe ihn immer noch dort. Ein Beispiel über die Nachwirkungen eindrucksvoller Vorstellung in unserer lebenslangen Erinnerung. Richard Weichert war damals der Hauptmann des Frankfurter Schauspiels. Regisseur. Der Berliner hatte einen prachtvollen Humor. Er hatte in Frankfurt in den Zwanzigern und wieder in den fünfziger Jahren mehr Glück als zwischendurch in Berlin. Meine Erinnerung jedenfalls ist merkwürdig, aber wie ich nun in meinem Kopf krame, mit dem Mist hat es was zu tun. Ich entdecke jetzt, 90 Jahre später, dass ich zuallererst ein reisendes Kasperltheater auf dem Marktplatz gesehen habe. Das muss mir viel Spaß gemacht haben. Wenn ich bei meinen zwei Kaninchen im Hof saß, sah ich oft verträumt auf den überdachten Steg hinauf, der von der Wohnung im ersten Stock über den Misthaufen zum Plumpsklo führte: Auftritte von links aus der vermieteten Wohnung, selten von rechts. Ein Teufel war dabei, aber wohl kein Drache. Später ist mir mal aufgegangen, dass das Theater über dem Klo hinüberliefe. Da spielte meine Phantasie Kasperltheater. Ich sehe den Karl jetzt selbst noch vor meinen dämmernden Augen. Auftritte von links aus der vermieteten Wohnung und rechts. Ein Riese war dabei, auch Räuber, Kasper kam immer davon. Wenn ich das heute sehe, war mein Theater schon ein Überbau, eine Gegenwelt, gegen die dampfende Wirklichkeit. Zuckmayers Knuzius auf dem Misthaufen vor der Küche: das kleine erspielte Weltbild geht mir nicht aus dem Kopf.

November 2020
2. November 2020

Aber das kann’s nicht gewesen sein. Vielleicht der noch unbewusste Boden, auf den dann das Feuer fiel. Ich war acht, als Alwin Kronacher in Frankfurt die Römerberg-Festspiele gründete. Mein Vater, jetzt im Städtischen Revisionsamt angestellt, holte mich aus meiner verfallenden hessischen Residenz, die Provinz wurde, in die festlich aufgezwirbelte Stadt. Die Innenstadt abgesperrt. In den engen Gassen drängten sich die Besucher. Die Spieler, schon in Rüstung und Gewändern, auch die Pferde. Um halb acht hieß es: »Bitte Plätze einnehmen.« In der Mitte des Römerbergs um den Brunnen der Justitia war eine Tribüne gebaut. Die Fensterlöcher waren voll besetzt. Dann plötzlich ganz Stille, Erwartung, Fanfaren, es ging los. Die Tore unten gingen auf, die Schauspieler kamen. Es gab bald Schlachtgetümmel, mittendrin eine Frau, die später auf hohem Pferd saß, Fahne in der Hand. Man sagte mir, das sei der Einzug in Reims. Sie spielten Schillers »Jungfrau von Orleans«. Mit acht verstand man das noch nicht, aber man guckt und guckte und guckt und ging nach dem großen Beifall später an Vaters Hand aufgeregt nach Hause.

Wenn ich tagsüber allein im Frankfurter Zimmer saß, weil er Firmen revidierte, übte ich auf seiner neuen Schreibmaschine tippen. Zwei Finger, bis heute. Und was fabrizierte ich: Eintrittskarten für mein Theater über dem Misthaufen daheim. Es bestand noch zwei Jahre, die Bäckerei wurde verkauft, damit meine Phantasie. Aber wie sich jetzt zeigt: nicht die Erinnerung.

Die Festspiele auf dem Römerberg sind sicher sowas wie eine Zündung gewesen. Viermal durfte ich zu den Festspielen, die die Nazis schon 1933 als ihre Erfindung ausgaben. Da sah ich Heinrich George. Man sagte mir, wer das war. Während der Schuljahre in Bremen sah ich etliches, aber es blieb nichts, außer dem »Lohengrin« in der Staatsoper, der mir fast fürs Leben, wenigstens bis 82, reichte. Ich weiß heute, was ich da verpasst habe. Danach wollte ich alles einholen. Ich bin noch auf halber Strecke. Die im Schauspiel habe ich dann doch dreimal gemacht. Das Schauspiel hat mich wie ein Geschenk überrascht: Es hat mich getroffen, weil es mich aus meinem Alltag entführte; und dann betroffen, als ich in die Tiefe der Schicksale sah, die es ergründend vor Augen führt.

Ich muss mal weiterdenken. Wann wurde ich zum ersten Mal betroffen? Wenn ich das bedenke, komme ich immer wieder auf Borcherts »Draußen vor der Tür«. Das war bald nach dem Krieg. Das waren genau unsere Fragen in das dämmernde Bewusstsein, in das man kommandiert war, zu sterben. Und dann die großen Inszenierungen im kaputten Frankfurt. Hilperts glänzend bitteres Tableau von Zuckmayers »Des Teufels General«, mit Martin Held als Harras. Ich staunte, wie »Zuck« in Vermont, im Exil, die Göring-Welt gezeichnet hatte. Den Leutnant Hartmann, oder den Saboteur Oderbruch, den die Zuschauer von 1948 noch hassen konnten. Die Diskussionen – nein, ich mache den Deckel auf den Topf. Was kocht da auf: Ich will das alles nicht mehr wissen. 70 Jahre verdrängt. Irgendwo in mir hat das doch überlebt. Ich mache schnell den Deckel auf den Topf.

»Trauer muss Elektra tragen«, »Eines langen Tages Reise in die Nacht«, »Endstation Sehnsucht«. Das waren Nachrichten aus Amerika. Die Welt öffnete sich mit dem Theater. Eugene O’Neill und Tennessee Williams, Giraudoux, Anouilh und Lorca öffneten den Blick. Zehn Jahre dauerte der Strom von draußen. Nie hat das Theater in Deutschland eine so poetische Rolle übernommen. Es waren fast üppige Jahre. Dazu die Literatur von Kafka bis Hemingway. Ich spüre plötzlich die Wohltat der Erinnerung. Darf ich mir noch erlauben, nochmal 28 zu sein? Wird man nicht zornig auf das Altern? Werde ich zornig? Auf das, was mir passierte? Ich kann nicht lesen, was ich eben schrieb. Verdammt noch mal!

3. November 2020

Heute wählen sie in Amerika. Gestern haben sie in meinem Dorf den wärmsten Novembertag seit Aufzeichnungsbeginn gemessen. Ich habe die Männer, die vor zwei Tagen ein paar Straßen weiter Erde aushuben, gefragt: »Was macht ihr?« – Sie antworteten fröhlich: »Das wird ein Parkplatz.« Wieder einer, der vierte im letzten Jahr, den ich sah. Der beim Nachbarn ist gerade fertig. Eine Tierärztin zieht ein, macht das Haus praxisreif, Bedingung vier Parkplätze. Nicht mehr für Kühe oder Pferde, sondern die veränderte Welt. Als ich 1979 hier einzog, war das noch ein richtiges Dorf. Sie schirrten noch ihre Kühe, wenn sie zum Säen oder Ernten aufs Feld mussten. Und zwei Schafherden gab es da noch. Wie oft mussten wir warten, bis die alle vorbei waren. Es war ein lebendiges, meckerndes Schauspiel. Das gibt es jetzt alles nicht mehr. Die Kleinbauern sind leise verschwunden. Vor sechs Jahren wurde der letzte Misthaufen beseitigt, dann starb auch der Henninger, ich nenn ihn mal den Oberbauern, bekannt und tüchtig fürs Dorf. Im Gemeinderat rühmte er sich, dass er mit der Öffnung des Dorfs zur Ansiedlung für die Großstädter ringsum auch das Hochhaus durchgesetzt habe, das jetzt fremd, siebenstöckig dasteht, sozusagen als Zeichen der neuen Zeit. Als wir hier einzogen, gab es im Dorf noch eine Art Supermarkt im Tante-Emma-Format, er hatte alles: Persil, Salzheringe, Nudeln und eine eigene Bäckerei mit einem Bäcker, der sich aufs Brot- und Brötchenbacken verstand. Und auch zwei Metzger. Die Post ist schon lange weg, die zwei Sparkassen und die Volksbank folgten. Von den zwei weitbekannten Gastwirtschaften ist eine, die bekannt war für ihre Schlachtfeste und Gänse, der Straßensanierung zum Opfer gefallen; die zweite kämpft sich in eine Zukunft. Ihr Tanz- und Theatersaal war der Lustort im Dorf. Etwa 1000 kamen, als man den zu früh gefällten Wirt begrub. Die Leute kamen von Frankfurt herauf. Ich berichte, wie ich so merke, vom Verschwinden der alten Welt. Selbst das Lädchen, das neben dem Lotto noch eine Art der Notversorgung auf eigene Kosten unterhielt, musste zumachen. Die Sonntagmorgenbrötchen waren dort noch ein Treffpunkt. Das Dorf ist eine Parkstadt geworden für auswärtig Beschäftigte. Ich war ja selbst ganz früh dabei. Jetzt sind drei Pkw für einen Haushalt keine Seltenheit. Es wachsen hier die Porsches, die Audis und die SUVs aller Bauarten wie früher die Rüben. Ich kann mein Alter messen an den Veränderungen. Das Dorf wächst sich aus zum Städtchen. In der Region bildet sich sowas wie Groß-Berlin. In nochmal 96 Jahren würde ich’s sicher sehen. Ich bin ein Zwischenstück. Die Parkplätze oben im geopferten Vorgarten sind schon Notwehr, um sich künftig ein freies Weg- und Heimfahren zu sichern.

Das Alter, sagt man, macht sich zufrieden mit dem sanften Gefühl, dass man vieles nicht mehr muss. Ich führe noch gern in meine Garage, die leer steht. Ich muss aufpassen, dass sie kein Gerümpelplatz wird. Man hat so viel wegzuwerfen.

7. November 2020

Ich kam gestern an einen prekären Punkt. Abschied von der Universität, mit dem begehrten Titel, der in Deutschland viel gilt, und mit Margret, die ihre Zukunft mit mir verbringen wollte. Sie hat immer gesagt, sie hätte mir aufgelauert, im Hörsaal, Reihe hinter mir. Aber ich habe ihr aufgelauert. Sie war so frisch, munter und immer in diesen Jahren bunt und schick. Sie hatte Stoff aus Amerika von den Telefonistinnen, die sie nachts vertrat, wenn die amerikanische GIs erfreuten. Margret war ein Flüchtlingsmädchen, wie man damals sagte, aus der Tschechoslowakei. Familie mit vier Töchtern, der Vater, Direktor einer Kaligrube, an den Folgen der Haft verstorben, wohnte in einem Ort in Franken, der so war, wie er hieß: »Müdesheim.« Im katholischen Pfarrhaus, einer Art Schloss im Dorf. Ein Wohnzimmer im zweiten Stock, unten die Küche ohne Wasseranschluss. Der Pfarrer, der mich gleich zum Mönch machen wollte, war ein humaner Mensch. Er hatte sicher acht freie Zimmer im Haus. Ich musste die Mutter beim Bettenmachen fragen, ob sie mir ihre Margret gibt. Es vollzog sich alles nüchtern, unzeremoniell. Es wurde aber dauerhaft. Ich wartete damals auf das Rigorosum, übte mich bei der Frankfurter Rundschau, Lokales, ein in den Journalismus, bekam vom Lokalchef immer die Berichte von den Richtfesten zugesprochen, die sich damals, 53, sehr vermehrten – wegen der dort gereichten Rippchen mit Kartoffelsalat. Ich galt als armer Student.

Margret zeigte mir ihre anhängliche Liebe immer neu, wenn ich sie am Schaukasten am Rundschauhaus traf, wie sie die Zeilen zählte von meinen Berichten. Es gab 30 Pfennig die Zeile. Wir wollten und konnten gut miteinander. Als ich im Rigorosum war, saß sie vor dem Prüfungszimmer und zerriss sich vor Aufregung ihre ersten, damals kostbaren Nylonstrümpfe, die der Vertretungslohn waren. Wir standen nun da und fragten, was jetzt? Ich wollte in den Journalismus, brauchte eine Stelle, die damals, noch gab es kein Fernsehen, alle dicht besetzt waren. Ich landete bei einer Wochenzeitung für Vertriebene, die Ost-West-Kurier hieß, und war der einzige »Reichsdeutsche«, wie das damals noch arglos hieß, und musste bald einen »Knüller« schreiben (wie schreibt man einen »Knüller«?) und sah bald, wo ich war. Der Verlagsleiter war der Propagandachef von Henlein im »Protektorat« der besetzten Tschechoslowakei. Ihn besuchte oft der Herausgeber der damals noch beachteten Nationalzeitung. Als ich ein Buch besprach, das Walter Flex nachahmte, gab es einen Knall. Ich wollte weg.

Die verlangenden Augen der wohl nicht ganz glücklichen Sekretärin fühlte ich bald auf mich gerichtet. Ihr Mann war im Krieg Stuka-Flieger, leitete jetzt den Fuhrpark der bürgerlichen Frankfurter Neuen Presse, die damals noch angesehen mutig, auf die Dauer aber erfolglos gegen die aufkommende F.A.Z. kämpfte. Da hatte der Stuka-Flieger eine Stelle für mich aufgetan. Eintreten ins Feuilleton. Ich war am Haupt- und Wendepunkt. Ich muss Schluss machen.

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
242 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783895815799
Sanatçı:
Telif hakkı:
Bookwire
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