Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 13
II
1872–1910
Bethel
Die übernommene Arbeit und ihre Entwicklung
Die neue Heimat
Wie zwei gewaltige ins Meer hinausgebaute Dämme schieben sich das Wiehengebirge und der Teutoburger Wald in das niederdeutsche Land hinein. Still legt sich die weite, unermeßliche Ebene gleich dem Meer, das sich nach dem Sturme zur Ruhe begeben hat, an den Fuß der beiden Gebirgszüge. Das Land aber dazwischen sieht anders aus. Es ist, wie wenn das Meer plötzlich mitten in seiner Bewegung zum Stillstand gekommen wäre. Wellenberge und Wellentäler folgen aufeinander. Durch tiefe Wiesengründe rieseln die Bäche, fruchtbare Äcker wechseln ab mit waldigen Hügeln, und oben auf den Höhen recken die Windmühlen ihre langen Arme aus. Das ist das alte Sachsenland, die Heimat Hermanns, des Cheruskers, und Wittekinds, des Sachsenherzogs.
Als Tacitus vor 2000 Jahren seine Germania schrieb, sagte er von dem Bewohner des Landes: „Wo irgend ein Hain, eine Quelle, eine Wiese ihm wohlgefällt, da schlägt er seine Hütte auf.” Vielleicht nirgends sonst im Vaterlande findet sich ein Landstrich, für den bis heute die Beschreibung des römischen Geschichtsschreibers in solchem Maße paßt wie für das Land zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge. Manches Gehöft des Landes freilich ist im Laufe der Jahrhunderte zum Dorf geworden, manches Dorf zur Stadt. Aber die meisten Häuser liegen noch heute vereinzelt, hin und her durchs Land gestreut, im Kranze ihrer Obstbäume und im Schatten der alten Eichen. Wer des Nachts von den Höhen ins Land hinunterblickt, sieht weit und breit die einzelnen kleinen Lichter der einsamen Häuser und Gehöfte aufglänzen, als wenn sich die Sterne des Himmels auf der Erde spiegelten.
Dieses Sachsenland zwischen dem Teutoburger Wald und dem Wesergebirge, das sich heute zusammensetzt aus dem ehemaligen Fürstentum Minden, der alten Grafschaft Ravensberg, dem früheren Fürstentum Lippe-Detmold und Teilen des hannoverschen Landes, ist von alter Zeit her die Heimat der Spinner und Weber gewesen. Vor 50 Jahren noch pflegte das Kind des Ravensberger Landes seinen Weg zur Schule nicht eher anzutreten, als bis es in früher Morgenstunde das vorgeschriebene Teil Garn gesponnen hatte, und bis spät in die Nacht summten die Spinnräder und klapperten die Webstühle. Der Mittelpunkt der Leinenindustrie aber war die alte Stadt Bielefeld. Auf der Sparenburg, die mit ihren vier vorgeschobenen Bastionen wie eine schützende Löwin über Bielefeld Wache hält, haben die Grafen und Kurfürsten von Hohenzollern je und dann residiert, und sein „Spinn- und Webeländchen” war ein besonderes Lieblingskind des Großen Kurfürsten und seiner Gemahlin Luise Henriette gewesen.
In der Gegend von Bielefeld spaltet sich der Teutoburger Wald in vier parallel laufende Höhenrücken, die durch drei freundliche Waldtäler voneinander getrennt werden. In dem ersten dieser Täler, hart vor den Toren der Stadt, stand im Jahre 1867 ein Bauernhof zum Verkauf. Ein kleines Komitee, dem die Not der Epileptischen im Vaterlande auf die Seele gefallen war, erwarb den Hof. Am 14. und 15. Oktober 1867 zogen hier die ersten fünf epileptischen Kranken ein. Zwei Jahre später entstand durch die Arbeit eines zweiten Komitees in Bielefeld selbst ein kleines Diakonissenhaus. Für diese beiden Anstalten wurde Vater zum Leiter berufen.
Am 23. Januar 1872 kamen die Eltern von Dellwig nach Bielefeld. An der Detmolder Straße war für sie eine Wohnung gemietet worden, und in dem Garten, der das Haus umgab, pflanzte Vater die Obstbäume, die er aus dem Pfarrgarten von Dellwig mitgenommen hatte. An der andern Seite der Straße lag das Grundstück, auf dem das neue Diakonissenhaus gebaut werden sollte, das seit seiner Gründung im Jahre 1869 eine vorläufige Unterkunft in dem alten Marienstift, dicht an der Neustädter Kirche, gefunden hatte.
Die Pocken, die mit dem Krieg 1870/71 auch in Bielefeld ausgebrochen waren, waren noch nicht erloschen, und auf dem Grundstück, welches für den Neubau des Diakonissenhauses bestimmt war, standen die hölzernen Baracken, in welchen von einer Schwester des jungen Diakonissenhauses die Pockenkranken gepflegt wurden. Eine der Schwestern, die damals dort arbeitete, hat noch in ihrem hohen Alter erzählt, welch tiefen Eindruck auf sie und alle Insassen des Hauses die Unbekümmertheit und Seelenheiterkeit gemacht habe, mit der der neue Diakonissenpastor sich unter den Pockenkranken bewegte und ihnen Zuspruch brachte.
Das für das neue Diakonissenhaus bestimmte Grundstück hatte eine auserlesene Lage. Es zog sich an dem Hang des Höhenrückens hinauf, auf dessen Vorsprung die alte Sparenburg lag. Je höher man stieg, je freier dehnte sich unter dem Auge des Beschauers Stadt und Land.
Dennoch sollte der Bau des Diakonissenhauses an dieser Stelle nicht zur Ausführung kommen. Mit dem ersten Blick übersah der neue Vorsteher, daß sich mit dem Festhalten an diesem Grundstück eine falsche Entwicklung anbahnen würde, und griff sofort entschieden ein. So schön auch die Lage des Platzes war, er neigte sich gegen Norden und hätte Kranken und Gesunden für immer zu wenig Sonne gebracht. Dazu kam ein anderes. An der andern Seite des Sparenbergrückens, tief unten im Tal des Kantensieks, war, wie oben gesagt, zwei Jahre früher als das Diakonissenhaus jener alte Bauernhof Eben-Ezer gekauft worden, der für Deutschland die erste selbständige Heimat der Epileptischen geworden war. Wohl hatte jede Anstalt ihren Vorstand für sich, aber die Mitglieder des einen Vorstandes waren vielfach auch die Mitglieder des andern. Darum drang Vater darauf, auch die Anstalten selbst räumlich so nah als möglich miteinander zu vereinigen. Das alte Eben-Ezer unten im Tal hatte längst nicht mehr der wachsenden Zahl der Kranken genügt. Dreihundert Meter oberhalb, am Rande des Buchenwaldes, mit dem Blick nach Südwesten, war ein großer Neubau für die Epileptischen entstanden, der den Namen Bethel führen sollte. Zwischen Bethel und Eben-Ezer aber lag ein unbebautes Gelände, das nun auf Vaters Rat zum Neubau des Diakonissenhauses und des Pfarrhauses bestimmt wurde. So wurden die Anstalt für Epileptische und das junge Diakonissenhaus aufs engste miteinander verbunden. Im Herbst 1873 mußten die Dellwiger Obstbäume noch einmal ihre Heimat wechseln, und mit dem vierjährigen Wilhelm und dem einjährigen Gustav, der von der treuen Magd Friederike im Kinderwagen gefahren wurde, zogen die Eltern über den Sparenberg hinüber in das neue Pfarrhaus am Jägerbrink, in welchem Anfang 1874 auch die kleine Frieda ihren Einzug hielt und drei Jahre später der jüngste des Geschwisterkreises, Friedrich.
Einzelne Bilder tauchen aus dieser ersten Kinderzeit noch ganz deutlich vor der Erinnerung auf. In der Schlafstube, die wir Kinder bis zu unserm sechsten oder siebenten Jahr mit den Eltern teilten, stand mein Bett unter der alten runden Wanduhr, die Vater eigenhändig alle drei Wochen aufzuziehen pflegte. Die Wände meiner kleinen Bettstelle bestanden aus einem Holzgitter, sodaß ich zwischen den Stäben durch beobachten konnte, was in der Stube vorging. Meist schliefen wir Kleinen ruhig weiter, während die Eltern sich erhoben. Aber wenn ich einmal zeitiger als sonst erwachte, war es ein unermeßliches Vergnügen, den Vater zu beobachten. Er war bis auf Rock und Weste bereits angekleidet, aber er hatte den Hemdkragen zurückgeschlagen und rieb sich mit dem angefeuchteten Ende eines rauhen Handtuches den Hinterkopf und Nacken. Dabei ging er an der Längsseite des Schlafzimmers zwischen seinem Waschtisch und der Stubentür auf und ab, ab und auf. Von Zeit zu Zeit blieb er vor seinem Waschtisch stehen, tauchte das Handtuch aufs neue ein und nahm dann seinen Weg wiederum auf, immer den Nacken reibend. Auf dem Rückweg von der Tür zum Waschtisch konnte ich Vaters kräftigen Nacken beobachten, der unter dem Reiben natürlich immer roter und roter wurde; aber noch viel mehr interessierte mich sein Gesicht, in das ich unmittelbar hineinsah, wenn er vom Waschtisch zur Tür ging. Er sah mich nicht, obwohl ich mit weitgeöffneten Augen gerade durch das Gitter hindurchguckte. Vielmehr war sein Auge in die Ferne gerichtet auf Menschen und Dinge, mit denen seine Gedanken beschäftigt waren. Dabei pflegte er, ihm selbst unbewußt, seinen Gedanken in kurzen, abgebrochenen Selbstgesprächen Luft zu machen. Alle Töne, von den kräftigsten bis zu den zartesten, kamen dabei zum Ausdruck. Bisweilen kam es freilich auch vor, daß sein Auge aus der Ferne zurückkehrte in die Nähe und meinem geöffneten Auge begegnete. Dann trat er wohl an mein Bett, strich mit seiner großen, weichen Hand über meine Stirn und sagte: „Mein herzgeliebtes Kind,” – mehr nicht, aber es war genug, um mich bis ins Innerste zu beglücken.
Waren wir Kinder fertig angezogen, so pflegte die Mutter durch ein kleines Sprachrohr, welches von der Schlafstube nach oben in Vaters Arbeitszimmer führte, den Vater zur Andacht zu rufen. Dann kam regelmäßig das Kleinste von uns, soweit es sich schon an der Andacht beteiligen konnte, auf Vaters Schoß; die Mutter saß am Harmonium, und Vater sagte in ganz kurzen Sätzen das Lied vor, sodaß auch die Kleinsten sich schon an dem Gesang beteiligen konnten und wir so unbemerkt allmählich einen großen Teil des Gesangbuches auswendig lernten.
Zwischen dem Singen trank Vater immer wieder einen kleinen Schluck aus dem Glas ganz frisch gepumpten Wassers, das vor ihm stand, – eine Gewohnheit, die er bis an sein Lebensende beibehielt und der er wahrscheinlich seinen gesunden Magen verdankte, der ihm nie den Dienst versagte. Nach dem Gesang kam der Bogatzky, ein Andachtsbuch, das schon in den Elternhäusern von Vater und Mutter viel gebraucht worden war. Uns Kindern blieb es, bis wir erwachsen waren, fast unverständlich, und doch bot es auch uns Erbauung genug, weil wir merkten, mit welch tiefer Andacht Vater und Mutter aus dem Wort dieses gründlichen Schrift- und Seelenkenners ihre Stärkung für die Arbeit des Tages nahmen.
Von den Gebeten, mit denen Vater die Andacht schloß, ist mir eins in besonderer Erinnerung geblieben. Der kleine Kanarienvogel, der uns aus dem Hause an der Detmolder Straße in die neue Heimat begleitet hatte, lag am Morgen tot in seinem Bauer. Er war verdurstet. Unser ältester Bruder, dem die Pflege des kleinen Tieres anvertraut war, hatte ihn vergessen. Nichts von Schelten oder Strafen. Aber in dem Gebet, das sich an den Bogatzky anschloß, brachte Vater die Sache vor Gott. Es ging durch Mark und Bein, wie er um Vergebung bat und um Treue. Und wer unsern nun auch schon dem Vater in die Ewigkeit nachgefolgten Bruder Wilhelm gekannt hat, weiß, in welchem Maß dieses Gebet erhört worden ist. Er wurde die wandelnde Treue selber. Nie vergaß er etwas, weder Dinge noch Menschen. Was ihm anvertraut war, für das stand er ein; und wenn es auch bisweilen schien, als hätte er etwas vergessen oder versäumt, er holte es nachher mit doppelter Treue nach.
Ein andermal kam es freilich doch zu einer Strafe. Diesmal war ich der Attentäter. Worum es sich handelte, besinne ich mich nicht mehr gewiß, doch muß es ein gröblicher, bewußter Ungehorsam gegen ein ausdrückliches Gebot der Mutter gewesen sein. Denn das weiß ich noch, daß die Angelegenheit, die eigentlich lediglich die Mutter und mich anging, von der Mutter dem Vater übergeben wurde. Auch weiß ich noch heute genau die Stelle in der Schlafstube, in der sich das Strafgericht vollzog. Unsagbare Gefühle der Scham und Reue beschlichen mich, als mein heißgeliebter Vater, der so viel Wichtigeres zu tun hatte, meinen Kopf zwischen seine Knie nahm und mit einer Glut und Milde zugleich schlug, daß Leib und Seele einheitlich erschüttert wurden. Es war das erste und das letzte Mal, daß ich meinen Vater in dieser Weise bemüht habe.
Vor dem Einschlafen pflegte Vater regelmäßig laut mit der Mutter zu beten. Das erlebten wir Kinder natürlich nur selten, da wir meist schon längst in festem Schlummer lagen. Aber einige Male habe ich es doch erlebt. Das war dann jedesmal das Größte und Tiefste, das ich mir denken konnte. Noch mehr als in der gemeinsamen Andacht mit allen Hausgenossen quoll jetzt das Herz des Vaters über in Dank und Fürbitte. Mit Namen wurde jedes einzelne Kind genannt und der Bewahrung und dem Segen des Heilandes empfohlen. Er hatte wenig Zeit für uns übrig, unser geliebter Vater, er strafte nur im äußersten Notfall, er schalt, soweit ich mich besinnen kann, nie; aber er betete für uns.
Das Mutterhaus
Unser Haus lag im Schatten des Mutterhauses. Denn so wurde das Diakonissenhaus Sarepta stets von Vater genannt. Er hatte den Bau vom ersten Augenblick an überwacht. Um Kosten zu sparen, hatte er aus dem nahen Lipper Land einen bewährten Ziegler kommen lassen, der mit einigen Gehilfen den Ton, der für die Fundamente ausgehoben wurde, an Ort und Stelle zu Ziegeln verarbeitete und die Ziegel gleich unterhalb der Baustelle in einem Feldziegelofen brannte. Auch der Plan des Hauses stammte in seinen Grundgedanken, soweit ich mich besinne, von Vater. „Es ist kein Winkel im Haus,” sagte er gelegentlich, „den ich nicht selbst nachgemessen habe.”
Wenn es möglich ist, das wahrhaft Mütterliche durch Steine und Holz in einem Bau darzustellen, so war es bei dem Bau des Mutterhauses gelungen. Schon die beiden Flügel des Hauses, die nach dem Walde zu lagen, waren wie die weit ausgebreiteten Arme einer Mutter, und wenn wir Kinder über die frei vorspringende Treppe ins Innere traten, so umwehte uns ein unbeschreiblich wohltätiges Gefühl mütterlicher Behaglichkeit. Die Gänge, die nach der schattigen Waldseite zu lagen, waren in ein trauliches Dämmerlicht gehüllt. Um die Kranken- und Schwesternzimmer aber lief den ganzen Tag vom Morgen bis zum Abend die Sonne. Und im Winter sorgten schlichte gelbe Kachelöfen, die nur des Morgens angeheizt zu werden brauchten und den ganzen Tag durchhielten, für die behaglichste Wärme.
Für alles war in diesem mütterlichen Bau Raum, für die kleinen Säuglingskinder, die die Gemeindeschwestern von den verschiedenen Stationen mitbrachten, für die größeren Kinder, kranke oder gesunde, für erwachsene Kranke, mit welcher Krankheit sie auch behaftet waren, für die jungen Schwestern, die lernten, für die erholungsbedürftigen Schwestern, die eine Zeitlang ausruhten, für die Apotheke, die Küche, die Waschküche und die Bäckerei, und für wer weiß was sonst noch.
Das Herz des Baues aber war die kleine Kapelle, die den Mittelpunkt des Hauses bildete. Hierhin nahmen die Gänge, die Treppen, die Säle ihre Richtung, und zwei Brücken, die vom Walde aus über den tiefen Talweg in den ersten Stock des Hauses führten, sorgten dafür, daß auch von auswärts jedermann zu Fuß oder im Rollstuhl mit Leichtigkeit die Kapelle erreichen konnte. Sie lief durch zwei Stockwerke, und ihre Fenster, unten und oben, gingen nicht nur nach draußen, sondern auch in die anliegenden Krankensäle, sodaß die Kranken von ihren Betten aus dem Gottesdienst beiwohnen und durch die geöffneten Fenster die Predigt hören konnten.
Die wachsende Zahl der Schwestern, der Kranken und übrigen Anstaltsbewohner brachte es mit sich, daß allmählich eine Station nach der andern aus dem Mutterhause verlegt wurde, bis schließlich auch die alte, liebe Kapelle einem Neubau Platz machen mußte. Aber für die ersten Anfänge einer Diakonissenarbeit wird der alte Bau von Sarepta immer vorbildlich sein.
Der Entschluß des Vaters, das Diakonissenhaus so eng wie möglich mit der jungen Anstalt für Epileptische zu verbinden, zeigte sich von großer Bedeutung für die Ausbildung der Schwestern. Denn nun ergab es sich von selbst, daß auch die jungen Schwestern schon bald in die Pflege der Epileptischen eintraten, ja, daß manche von ihnen von vornherein ihren Beruf in einem der Häuser für Epileptische begannen.
Unter allen Kranken sind aber Epileptische am schwersten zu pflegen. Die Plötzlichkeit der Anfälle und die unberechenbaren Stimmungen der Epileptischen auf der einen Seite und dazu die Geistesgegenwart und körperliche Gewandtheit, die gerade während des Ausbruches des Anfalles von seiten des Pflegers nötig sind, erfordern die größte Anspannung aller geistigen und körperlichen Kräfte. Auch die Nacht bringt keine Ruhe. Denn in jener ersten, man möchte sagen, herben Zeit war es Sitte, daß die Pflegekräfte, die den ganzen Tag über den Dienst an den Kranken getan hatten, auch des Nachts auf den Krankensälen schliefen und sich oft mehrere Male durch die Anfälle der Kranken aus dem Schlaf reißen lassen mußten.
So wurden gerade durch den Dienst an den Epileptischen die Kräfte der Aufopferung auf die höchste Probe gestellt, und die Lauterkeit der Gesinnung fand hier ihre tiefste Bewährung. Unter den Diakonissen habe ich immer gern das Gesicht einer Schwester gesucht, der von einer Kranken das Ohrläppchen abgebissen war, und die Stille und Gelassenheit, die über diesem Gesicht lag, tat in der Seele wohl.
Eine Schwester, die sich im Dienste an den Epileptischen bewährt hatte, konnte der Regel nach auf jedem andern Arbeitsplatz gebraucht werden, sei es in einer Kleinkinderschule, einer Gemeindepflege oder einem der vielen Krankenhäuser, die in rasch wachsendem Maße die Hilfe des jungen Mutterhauses begehrten. Es war damals, nach dem Kriege 1870/71, die Zeit, in welcher die rheinisch-westfälische Kohlen- und Eisenindustrie sich immer gewaltiger ausdehnte. Kleine Siedlungen wurden zu Dörfern, Dörfer zu Städten, Städte zu Großstädten; und das Mutterhaus Kaiserswerth, das bis dahin dort allein die Arbeit getrieben hatte, rief immer lauter die junge Tochteranstalt Sarepta zu Hilfe.
Hilferufe aber waren allezeit des Vaters Lust. Je größer das Gedränge der Hilfesuchenden wuchs, je höher stieg sein Glaube, je glühender wurde seine Liebe, je munterer eilte sein Schritt, je dringender wurde sein Wort. Hatte er des Morgens in der kleinen Sareptakapelle gepredigt, so ging es oft des Nachmittags hinaus, zu Fuß, zu Wagen oder auch mit der Eisenbahn, um in Stadt und Land für den Dienst an den Kranken, Kindern und Notleidenden zu werben.
Oft haben wir Kinder mit der Mutter zugleich ihn auf seinen Wegen begleitet. Dann saß er mit fest zugekniffenen Augen neben dem Kutscher auf dem Bock, in seinen Text vertieft. Ging es bergauf, so sprang er ab und eilte dem Wagen voraus, wir Kinder hinter ihm her. Nur die Mutter behielt das Recht, im Wagen zu bleiben. Wenn dann Vater bei der Feier das Wort ergriff, konnte man herzandringender niemand sprechen hören. Handgreiflich malte er den Heiland vor Augen, wie er in den armen blöden Kindern, den elenden epileptischen Knaben, den verstümmelten Bergmännern des Industriegebietes oder in einsame Bettler verkleidet den Dienst seiner Christenheit begehrte. So stellte sich eine Kraft nach der andern ein, die vornehme Bauerntochter und das geringe Mädchen aus dem Heuerlingshause, und auch solche, die höhere Schulen besucht hatten, mischten sich darunter. Oft kamen unmittelbar im Anschluß an eine Predigt des Vaters die Meldungen zum Dienst. Einmal waren es sieben junge Mädchen zu gleicher Zeit, die alle kamen und alle blieben.
Das Kind sieht nicht die Schatten. Sie haben gewiß auch dem jungen Mutterhause Sarepta damals nicht gefehlt. Ich aber sah nur einen Strom hilfsbereiter, sterbenswilliger mütterlicher Liebe sich aus dem Mutterhause in das Land ergießen.
Wie schnell aber kamen manche der Schwestern, die gesund aus dem Mutterhause ausgezogen waren, todkrank zurück! Namentlich solche, die sich bei einer Privatpflege am Typhus angesteckt hatten. Ohne daß wir Kinder es uns untereinander gestanden, schnitten uns die vielen und tödlichen Erkrankungen der Schwestern immer wieder ins Herz, und wir konnten es nicht verstehen, daß Vater die Schwestern nicht ernstlicher schonte. Aber er hatte längst aufgehört, den Wert des Menschenlebens nach der Zahl der Jahre zu berechnen. Ihm waren die kranken Tage einer Schwester noch wichtiger als die gesunden, und zu den sterbenden Schwestern ging er am liebsten mit einem Blumenstrauße in der Hand wie ein Gratulant; denn „das liebe letzte Stündlein war gekommen”.
Aber den Sieg des Sterbenden über den Tod konnte er nur darum feiern, weil er mit unermüdlicher Treue den Sieg des Lebenden über sein eigenes Leben lebte und lehrte. Regelmäßig zweimal die Woche gab er den Schwestern Stunde. Nur im äußersten Notfalle ließ er solch eine Stunde ausfallen, und ich sehe immer noch, wie er, wenn wir am Kaffeetisch oder beim Abendbrot saßen, von Zeit zu Zeit seinen Kopf zur Uhr wandte, um genau auf die Minute zur Schwesternstunde aufzubrechen. Eine eigentliche Unterrichtsstunde war es nicht. „Ich bin kein Lehrmeister”, sagte er öfter in richtiger Erkenntnis der ihm gesetzten Schranken. Darum überließ er allen übrigen Unterricht der Schwestern desto umfassender andern geschulten Kräften. Sein eigener Unterricht war im Grunde eine durch kurze Fragen und Antworten unterbrochene Erbauungsstunde, in der er in die Schrift und in das kirchliche Leben einführte und von da aus die Linien zog für die Aufgaben des Christen und die besondere Aufgabe des Schwesternberufes. Der Grundton der Stunde blieb immer das eine Thema: Seel’ und Leben, Leib und Glieder, – Alles gibst du für mich hin; – Sollt’ ich dir nicht geben wieder – Alles, was ich hab’ und bin? Ich bin deine ganz alleine, – Dir verschreib’ ich Herz und Sinn.
Den jüngeren Schwestern gab er regelmäßig von einer Stunde zur andern einige Verse eines Kirchenliedes oder auch Bibelsprüche auf. Er hörte das Gelernte ab, doch ängstete er nie, wenn es nicht gekonnt wurde, sondern ermunterte immer wieder. „Zwang”, sagte er einmal, „ohne innere Nötigung richtet Zorn an; aber Ermunterung macht fröhliche Leute.”
Etwas anders hielt er es bei den Kinderschwestern. Diesen, die in den Kleinkinderschulen rings um Bielefeld arbeiteten, gab er Freitagnachmittags eine besondere Stunde. Nach einem bestimmten Lehrplan wurde in den Kinderschulen die Woche über eine Geschichte des Alten oder Neuen Testamentes behandelt, und diese Geschichte wurde in der Freitagsstunde von Vater mit seinen Schwestern durchgenommen. Hier hielt er darauf, daß die Schwestern die Geschichte auswendig wußten. So wie sie da stand, in ihrer ursprünglichen Kraft und Frische, sollte sie zunächst auch den Kindern erzählt werden, und erst dann erlaubte er, die einzelnen Teile der Geschichte auszumalen und Zug um Zug dem kindlichen Gemüt und Verständnis nahezubringen.
Alle vier Wochen hielt er am Sonntagnachmittag den Schwestern einen besonderen Schwesterntag, zu dem außer unserer Mutter niemand zugelassen wurde. Und den Schwestern auf den auswärtigen Stationen schrieb er zu diesem Tage einen Brief. Auf diesen Brief, der vervielfältigt und jeder einzelnen Schwester zugeschickt wurde, bereitete er sich immer mit besonderer Sorgfalt vor. Durch drei oder vier Fragen wurde jeder Brief eingeleitet. Die Antwort auf diese Fragen sollte jede Schwester selbständig aus der Schrift, dem Gesangbuch und der eigenen Erfahrung suchen. Dabei wünschte Vater, daß jede Schwester diese Fragen in einem vertraulichen Brief beantwortete.
Seelsorgerliche Briefe an einzelne Schwestern schrieb er selten oder nie. Aber er besuchte die Schwestern, sooft er nur konnte. Dabei galt der Besuch nicht nur den Schwestern, sondern immer zugleich auch den Kranken, an denen die Schwestern arbeiteten.
Die Stationen des Mutterhauses waren allmählich in die Weite gewachsen. In der großen Krankenanstalt von Bremen, in der Universitätsklinik und in der Charité von Berlin, in dem deutschen Hospital von London, in Paris und Metz, in Frankfurt, in Nizza, in Davos standen die Schwestern in der Arbeit, dazu vor allem an vielen kleinen und großen Arbeitsplätzen der westfälischen Heimat. Kam er auf eine Station, so galt sein erster Weg immer den Elendesten und Sterbenden. Sie zu erquicken und aufzurichten, war ja zugleich die wesentlichste Hilfe, die er den Schwestern in ihrem oft mühsamen Dienst bringen konnte.
In der Charité von Berlin hatten die Schwestern die Station der Kranken, die das Straßen- und Nachtleben an Leib und Seele verdorben hatte. Unvergleichlich, unvergeßlich waren der Ernst, die Milde und die suchende Liebe, womit er zu diesen Kranken sprach, teils zu den einzelnen, teils auch zu dem ganzen Saale. Daraus gewannen dann zugleich auch die Schwestern neue Kraft und Freudigkeit für ihren sauren Dienst.
Waren die Kranken besucht, so versammelte er den Schwesternkreis. „Habt ihr Frieden untereinander?” lautete immer wieder seine Frage, auf die er keine Antwort erwartete, die er aber desto ernster auf die Gewissen legte. Dann sprach er die einzelnen.
Ganz einsam stehende Schwestern, die nur unter großem Aufwand von Zeit zu erreichen waren, bestellte er mit einer Postkarte auf irgend eine Station der Bahnstrecke, nahm sie ein Stück Weges im Zuge mit und ließ sie dann auf ihren Posten zurückkehren. Unserer Mutter schrieb er von solchen Reisen immer kurze Grüße, ließ sie auch nie vergeblich warten. Konnte er es nicht anders einrichten, als nachts nach Hause zu kommen, dann telegraphierte er: „Schlüssel heraus”. So wußte die Mutter: „Er kommt”, und legte den Hausschlüssel an eine verabredete Stelle vor dem Fenster. Am Morgen aber durften wir Kinder seine kleine schwarze lederne Reisetasche auspacken, in der regelmäßig für jedes von uns ein kleines Mitbringsel steckte, das selten mehr als einen Groschen kostete, aber darum doch jedesmal die größte Freude erweckte.
Für alle Häuser, in denen Schwestern arbeiteten, erwartete er von den Vorständen zweierlei: einmal, daß von den Kranken nicht Karten gespielt wurde, und dann, daß die Schwestern die Freiheit hatten, in den Sälen der Kranken und auch an den einzelnen Krankenbetten eine kurze Andacht zu halten. Den Schwestern im Londoner Hospital, in welchem Protestanten, Katholiken und Juden durcheinander lagen, stellte er ein besonderes Andachtsbuch zusammen, für alle drei Glaubensrichtungen passend.
Freie Ansprachen der Schwestern und freie Gebete erwartete er nicht. Er widersprach und widerriet dem im einzelnen Falle nicht, aber die keusche Zurückhaltung der Frau auf diesem Gebiet war ihm lieb.
Wenig Wort’ und viele Kraft
Und ein stilles, sanftes Wesen,
Mehr im Wandel als im Wort,
Sei zu ihrem Schmuck erlesen.
Selten kam es vor, daß er Schwestern des Mutterhauses ihren Vorständen gegenüber in Schutz nehmen mußte. War es dennoch nötig, dann tat er es mit der ganzen Ritterlichkeit seines Wesens. Mit einer hochgestellten Dame, die ein kleines Pflegehaus unterhielt, es aber an der körperlichen Versorgung der Kranken und der Schwestern mangeln ließ, brach er nach einigen vergeblichen Verhandlungen vollständig und ließ ihre Briefe unbeantwortet. Die Schwestern, die unter Professor von Bergmann in der Berliner Universitätsklinik arbeiteten, zog er zurück, weil ihm die natürlichen Empfindungen der Schwestern während mancher der öffentlichen Operationen in Gegenwart der Studenten nicht genügend geschützt schienen. Die Trennung von dem von ihm hochverehrten Professor von Bergmann war ihm tief schmerzlich, aber er blieb fest. Die Vorwürfe, die von dem leitenden Arzt einer großen Krankenanstalt öffentlich gegen die Schwestern erhoben worden waren, entkräftete er bis zu ihrem letzten Austrag, der in die Entlassung des Arztes auslief.
Im allgemeinen aber erwartete er von den Schwestern, daß sie sich auch in schwierige und schwierigste Verhältnisse geduldig schickten; wie er denn auch umgekehrt erwartete, daß man mit den Schwachheiten, Schranken und Fehlern der Schwestern Geduld habe. Dabei blieb es nicht aus, daß er das gleiche Maß von Geduld, das er selbst an einzelne Schwestern gewandt hatte, auch von andern erwartete. Aber was er tragen konnte, konnten doch keineswegs immer auch andere tragen. Hier hat er bisweilen dem Kreise der Schwestern, die eine ungeeignete Mitarbeiterin in ihrer Mitte hatten, fast zu schwere Lasten aufgelegt dadurch, daß er immer wieder die Ablösung eines solchen störenden Elementes hinausschob. Wurde er aber belehrt und überzeugt, dann griff er streng durch. Das tat er namentlich auch in den Fällen, wo er das innerste Leben einer Schwester an dem Platz, wo sie stand, gefährdet glaubte. Dann mochte der betreffende Vorstand, der unter Umständen mit der Schwester, um die es sich handelte, in höchstem Maße zufrieden war, alle Mittel anwenden, die Schwester zu halten, – Vater blieb unerbittlich. Er löste sie ab.
Der Mittwoch wurde schon frühzeitig für uns Kinder ein besonderer Festtag. Denn da war am Nachmittag eine sogenannte „Lehrprobe”, die bald in dieser, bald in jener Kleinkinderschule in und um Bielefeld von Vater gehalten wurde und zu der er uns bisweilen mitnahm. Dann waren alle Kleinkinderschul-Schwestern und ihre Gehilfinnen versammelt. Die Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren saßen auf ihren Bänkchen, die kleinsten vornan, und nun pflegte Vater eins der Kleinen an die Hand zu nehmen, damit es sich unter der Schar der Kinderschwestern eine aussuchte, die die biblische Geschichte erzählen sollte. Alles Sträuben half dann nichts; die von dem Kinde Gewählte mußte heran und die Geschichte, die am Freitag vorher in der Vorbereitungsstunde durchgesprochen war, behandeln. So gelang es, daß alle Teilnehmerinnen gleichmäßig für die Lehrprobe vorbereitet waren und alle an dem Verlauf das gleiche Interesse hatten.
Hernach kam dann die Besprechung eines Bildes an die Reihe, das ebenfalls vorher allen Teilnehmerinnen bekannt gegeben worden war und das alle studiert hatten. Wieder war es ein Kind, das an der Hand des Vaters die Auswahl unter den Schwestern traf. Zuletzt kam das gemeinsame Spiel. Vater, der schon vorher beim Erzählen immer durch ganz kindliche Fragen und Antworten bald den Kindern, bald der erzählenden Schwester weitergeholfen hatte, war jetzt beim Spiel vollends ein Kind unter den Kindern. Wenn die Riesenschlange gemacht wurde, dann ging er mit in der Reihe, das Kind, das vor ihm marschierte, an seinem Schürzchen haltend, während das Kind hinter ihm ihn an seinem Rockschoß gefaßt hatte. Und es war gar nichts Gemachtes dabei, sondern es war, als wenn es sich ganz von selbst so verstünde.
Das Wertvollste dieser Lehrproben bestand, wenn die Kinder nach Hause geeilt waren, in der Kritik, die in großer Gemütlichkeit beim festlich gedeckten Kaffeetisch abgehalten wurde. Diese Kritik spielte sich in der Weise ab, daß Vater alle Teilnehmerinnen nach ihrem Urteil fragte, erst die jüngeren, dann die älteren. So wurde jede verantwortlich gemacht für die andern. Erst am Schluß faßte er das Ganze zusammen. Die, die es am schlechtesten gemacht hatten und am meisten Ermutigung bedurften, kamen oft am besten weg, und andere, die in Gefahr standen, sich etwas auf ihre Leistung zugute zu tun, senkten die Köpfe.