Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 14
Noch lieber als die Mittwochnachmittage waren uns die Mittwochabende. Da war Familienabend. Was irgend von Schwestern abkommen konnte, versammelte sich am gemütlich gedeckten und geschmückten Abendbrottisch im Schwesternspeisesaal des Mutterhauses. Im Unterschied von der sonst klösterlich einfachen Kost gab es an diesem Abend nicht nur Graubrot und Schwarzbrot, sondern auch Weißbrot mit Butter und Schinken, Käse und Wurst. Und wir Kinder genossen diesen festlichen Tisch in vollen Zügen. Denn zu Hause ging es bei dem äußerst geringen Gehalt des Vaters sehr sparsam zu.
Vater erzählte an diesem Abend aus Vergangenheit und Gegenwart, aus eigenen und fremden Erlebnissen, oder er las auch vor; in jener Anfangszeit am liebsten aus Christophorus von Rocholl, aus Matthias Claudius oder aus der Liedersammlung von Wackernagel. Sobald wir Kinder einigermaßen die Kunst des Lesens erfaßt hatten, mußten wir dem Vater beim Vorlesen helfen. Allmählich wurde es Brauch, daß alles, was an Gästen in den Anstalten verkehrte, zu diesem Familienabend eingeladen wurde, und wer irgend etwas zu erzählen und zu berichten hatte, durfte sein Pfund nicht im Schweißtuch behalten. So weitete sich der Gesichtskreis des Mutterhauses, und der Strom des Weltgeschehens, der sonst so leicht an Anstaltshäusern vorbeirauscht, bespülte seine Ufer.
Einen Höhepunkt erreichte das Leben des Mutterhauses immer in den vierzehn Tagen, die der Einsegnung der Schwestern vorangingen. Es waren regelmäßig die Tage zwischen Palmsonntag und Quasimodogeniti, die Zeit, wo ringsum in den Buchenwäldern die Leberblümchen und Anemonen den Frühling anmeldeten. Dann sah man jeden Nachmittag die Schar der Schwestern, welche drei oder vier Jahre lang ihren Entschluß geprüft hatten und nun bewährt und bereit waren, den Dienst einer Diakonisse als Lebensberuf zu erwählen, mit dem Vater durch das Frühlingsland wandern. Auf diesen Wanderungen nahm er dann Gelegenheit, jede Schwester an der Hand ihrer Familienverhältnisse und ihres Lebensganges kennen zu lernen und zu beraten. Mancher Schwester sind diese stillen Wege wichtiger und wertvoller geblieben als die feierliche Einsegnung selbst vor der sich drängenden Gemeinde.
Und diese Einsegnung zum Dienst blieb keine einmalige, sondern wiederholte sich jedesmal, wenn eine Schwester das Mutterhaus verließ, um auswärts eine Arbeit zu übernehmen oder um auf den alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Dann kam sie regelmäßig zum Abschiednehmen bei Vater vor. Neben seinem Arbeitszimmer hatte Vater ein Dachkämmerchen, in welchem die Mutter ihre Vorräte aufbewahrte, dessen eine Wand aber freigelassen und mit einem großen, aus Holz geschnitzten Kruzifix geschmückt war. Darunter stand ein kleiner Tisch. Es waren immer nur ganz wenige Minuten, die Vater dort den einzelnen Schwestern widmete. Was er sagte und fragte, ist naturgemäß in den meisten Fällen Geheimnis geblieben. Aber höchst schlicht und natürlich ging es allemal zu. Vielfach sagte er auch gar nichts, sondern warf sich vor dem kleinen Tisch unter dem Kruzifix auf die Knie, und während die Schwester an der andern Seite kniete, befahl er sie und sich selbst der vergebenden und gebenden Gnade dessen, in dessen Dienst sie beide standen. Und in seiner harmlosen Art vergaß er oft, die Doppeltür, die in das Kämmerchen führte, zu schließen, sodaß, wer von uns nebenan zu tun hatte, es nicht immer wehren konnte, daß die Worte des Gebetes auch zu ihm drangen. Tränen in den Augen und doch strahlenden Antlitzes haben wir manche Schwester aus dem Zimmer kommen und ihren Weg in die entsagungsvolle Arbeit antreten sehen.
Nicht immer hatte Vater in dem großen Gedränge seiner Arbeit für die einzelne Schwester viel Zeit; und manche hat, bewußt oder unbewußt, darunter gelitten. Aber wie er es bei seinen Kindern hielt, so hielt er es auch bei den Schwestern: er betete. Wo ihm selbst die Zeit und Kraft für die einzelnen fehlte, da befahl er sie betend desto inniger und zuversichtlicher dem segnenden Herrn. Und diese Gebete sind erhört worden. Als er eine Diakonisse begraben hatte, die einzige Tochter eines großen Bauernhofes, sagte ihre Mutter, während sie am Grabe stand: „Herr Pastor, und wenn ich sieben Töchter hätte, ich gäbe sie Ihnen alle; denn mein Kind ist zu glücklich gewesen.” Von wie vielen Diakonissen konnte dasselbe gesagt werden! Sie waren in der Tat unter dem Segen ihres Herrn zu glückseligen Menschen geworden.
Die Epileptischen
Unter allen Kranken leidet der Epileptische am schwersten. Sobald die plötzlich auftretenden Anfälle zunehmen oder bekannt werden, wird er gemieden. Das epileptische Kind muß die Schule verlassen, der epileptische Erwachsene verliert seine Arbeit und seinen Beruf. Aus Furcht, aufzufallen oder zu stören, meidet er ganz von selbst alle öffentlichen Versammlungen, auch die Gottesdienste, oft sogar den eigenen Familienkreis. Kann der Arzt nicht helfen, so treibt ihn die Qual seiner Lage von einem Ratgeber zum anderen, von der ersten vergeblichen Kur zur zweiten, dritten, vierten.
Nur scheinbar ist der Zustand eines Blödsinnigen trauriger als der des Epileptischen. Der Blödsinnige empfindet seine Lage kaum; seine Stimmung ist gleichmäßig, oft sogar heiter. Die Leiden des Geisteskranken dagegen sind wohl in manchen Fällen gesteigerter als die des Epileptischen, aber sie sind vorübergehend: entweder tritt verhältnismäßig bald Besserung und Heilung ein, oder aber es löst der Tod auf der einen, der sich anbahnende Blödsinn auf der anderen Seite das Leiden ab.
Der Epileptische dagegen sieht, wenn eine Kur nach der anderen fehlgeschlagen ist, mit wachen Sinnen und mit tätigen körperlichen und seelischen Kräften ein Leben der Hoffnungslosigkeit, der Verlassenheit, des Ausgestoßenseins vor sich. In vielen Fällen brechen die Anfälle nur langsam, oft erst nach Jahren, ja, Jahrzehnten den körperlichen und seelischen Widerstand des Organismus. Und solange dieser Widerstand dauert, so lange dauert auch das Leiden, sodaß der Tod oder die Verblödung, je früher sie eintreten, die großen Befreier von einem Leben der Qual sind.
Bis in die 60 er Jahre des 19. Jahrhunderts lag in Deutschland von kleinen Anfängen abgesehen (1773 wurde ein erstes Asyl in Würzburg eröffnet), die Fürsorge für die Epileptischen noch fast ganz im argen. Soweit sich ihr Elend nicht in der eigenen Familie verbarg, waren sie zumeist in den Anstalten für Blödsinnige oder Geisteskranke untergebracht. Aber nur im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit empfindet ein Epileptischer, der unter Blöden oder Geisteskranken lebt, seine Lage nicht mehr. In den frischeren Fällen zeigt ihm der Zustand der Blödsinnigen, unter denen er lebt, den Abgrund, dem auch sein Dasein entgegenrollt. Andrerseits läßt der Zustand des Geisteskranken, sobald er den Wendepunkt überschritten und den Weg zur Genesung gefunden hat, den Epileptischen die Höhe sehen, die für ihn unerreichbar ist: der Geisteskranke kehrt in seine früheren Verhältnisse zurück; der Epileptische bleibt Jahr um Jahr an die Anstalt gebannt.
In Süddeutschland wurde die erste besondere Anstalt für die unglücklichen Kranken 1862 in Pfingstweide (Württemberg) gegründet. In Norddeutschland hatten sich die Augen der Freunde der Epileptischen auf eine kleine Anstalt gerichtet, die durch den evangelischen Pastor John Bost in der Nähe der kleinen französischen Stadt La Force entstanden war und ausschließlich den Epileptischen diente. Die von dort kommenden Anregungen brachten den Verein für Innere Mission in Rheinland und Westfalen zu dem Entschlusse, getrennt von den Anstalten für Geisteskranke und Blödsinnige eine lediglich für Epileptische bestimmte Anstalt ins Leben zu rufen. Der junge Reisesekretär des Vereins für Innere Mission, Hesekiel, der später als Generalsuperintendent der große Wohltäter der Provinz Posen wurde, war unermüdlich tätig, diesem Gedanken Freunde zu gewinnen. Da neben den Anstalten in Kaiserswerth das Rheinland noch eine weitere Anzahl von Stätten christlicher Barmherzigkeit besaß, so wünschte man, daß die neue Anstalt womöglich in Westfalen ihre Heimat fände.
Nun war der Rheydter Pastor Balke, ein Ravensberger von Geburt, durch seine Arbeit als Seelsorger an der Blödenanstalt Hephata in München-Gladbach in besonderer Weise mit dem Lose der epileptischen Kranken vertraut geworden. Denn wie in anderen Anstalten waren auch unter die Blödsinnigen der Anstalt Hephata epileptische Kranke gemischt. Für diese Epileptischen erhob nun Balke seine Stimme.
Land und Stadt in Minden-Ravensberg waren auf seinen Ruf nicht unvorbereitet. Überall, bald in kleineren, bald in größeren Herden, brannte das Feuer einer zur Tat bereiten Liebe. In Bielefeld waren es vor allem einige Frauen aus den ersten alten Patrizierfamilien der Stadt, die mit wachem Gewissen und geöffnetem Herzen sich in den Dienst Gottes gestellt hatten. Durch sie waren auch ihre Männer und Verwandten gewonnen worden. Die Funken eines Vortrages, den Pastor Balke aus Rheydt im Jahre 1865 hielt, sprangen nach Bielefeld über. Das kurze Kriegsgewitter von 1866 dämmte wohl das Feuer eine Weile ein, brachte es aber nicht zum Erlöschen. Vielmehr zogen wirklich im Jahre 1867 die ersten sieben epileptischen Kranken in dem kleinen Bauernhofe ein, der am Fuße der Sparenburg erworben war. Der westfälische Generalsuperintendent D. Wißmann hielt die Einweihungsrede der jungen Anstalt an der Hand des Wortes: „Aus dem Kleinsten sollen tausend werden und aus dem Geringsten ein mächtig Volk. Ich, der Herr, will solches zu seiner Zeit eilend ausrichten.” Jes. 60, 22. Mit den sieben Erstlingen beugte er seine Knie vor Gott, um den Segen für die junge Pflanzstätte zu erflehen.
Zwei Jahre später kam, wie bereits erwähnt, die Schwesteranstalt Sarepta hinzu. Beide standen unter demselben Präses, dem Kaufmann Bansi in Bielefeld, und unter dem gleichen Vorsteher, dem Pastor Simon. Als nach den ersten vier Jahren allmählich wachsender Aufgaben Pastor Simon sich vor die Wahl gestellt sah, sich entweder auf seine ausgedehnte Bielefelder Tätigkeit zu beschränken und dann auf die Leitung der Anstalt zu verzichten oder umgekehrt, entschied er sich dahin, dem Vorstand die Wahl eines neuen Vorstehers zu empfehlen.
Nun war Vater ja längst in Bielefeld kein Unbekannter mehr. Namentlich von Paris war er wiederholt in Bielefeld eingekehrt und hatte in dem Bansischen Hause Aufnahme gefunden. So war es Gottfried Bansi, der den Blick des Vorstandes auf den Dellwiger Pastor richtete. Mit Pastor Simon zugleich machte er sich persönlich nach Dellwig auf, um die Berufung des Vorstandes zu überbringen. Vater reiste nach Bielefeld, um alles an Ort und Stelle zu besprechen. Nach Dellwig zurückgekehrt, setzte er selbst die Richtlinien auf, unter welchen er bereit war, die Arbeit zu übernehmen, und als diese vom Vorstand bewilligt waren, sagte er zu. Damit war er der Vorsteher der Diakonissen und Epileptischen geworden.
Und nun sehe ich Vater in der Erinnerung unter seinen Epileptischen stehen. Als ein Hoffender stand er unter ihnen, den Hoffnungslosen. Durch seine persönlichen Erfahrungen war er ja dazu vorbereitet.
Über dem Bett der Eltern hingen die Bilder unserer vier verstorbenen Geschwister. Sie umrahmten eine kleine Heliogravüre von Mintrop. Diese stellte eine Frauengestalt dar, die von den himmlischen Heerscharen der Himmelstür entgegengeleitet wird. An der geöffneten Tür kommen mit Palmen in den Händen vier Kindergestalten der Mutter entgegen, um sie vor den Thron Gottes zu führen. Das waren unsere vier Geschwister, die erst die Mutter, dann den Vater abholten.
Über dem großen Schmerz, der die Herzen unserer Eltern getroffen hatte, als ihnen alle vier Kinder genommen wurden, waren sie stille geworden durch den Glauben an den auferstandenen Herrn, der auch für sie die Stätte bereitet hatte, da man zusammenkommen soll. Hinfort lebten sie vor den Toren der hochgebauten Stadt. „Ganz dicht vor den Toren Jerusalems”, wie oft haben wir Vater das sagen hören! Die Hoffnung für diese Zeit hatte den Eltern durch das Sterben aller ihrer Kinder genommen werden müssen, damit sie den Anker ihrer Hoffnung fest hineinsenkten in die ewige Welt Gottes. So waren sie vorbereitet für die Arbeit unter den Hoffnungslosen.
Man mag den Nachlaß des Vaters in seinen Briefen und Ansprachen oder das Buch der Erinnerung an ihn aufschlagen, wo man will, überall findet man seine Seele gestimmt auf den gleichen Ton der Hoffnung: „Die Leiden dieser Zeit sind nicht wert der Herrlichkeit, die an uns soll geoffenbart werden.” Darum jammerte ihn wohl das Los der Epileptischen, aber er bejammerte sie nicht. Körperliche Krankheit und körperliche Gesundheit hatten für ihn die große Entfernung voneinander und die große Bedeutung verloren, die ihnen sonst so gern beigelegt wird. Vielmehr galt ihm der körperlich Gesunde für krank, wenn sein Blick haften geblieben war an den armen vergänglichen Dingen dieser Erde; der körperlich Kranke galt ihm für gesund, sobald er durch den Glauben den Zugang gefunden zu der ewigen Hoffnung. Darum konnte er mit glühendster Überzeugung einen armen verblödeten Epileptischen, der mit seliger Hoffnung dem Abschied aus der Welt entgegeneilte, glücklich preisen gegenüber dem andern, der mit gesunder Körperkraft ohne Ziel und Zweck ins Leben hinausstürmte.
An der Ecke von Sarepta und beim Eingang in das Haus der Epileptischen, Bethel, befand sich in jener Anfangszeit je eine schlichte Gaslaterne. Unter der zweiten dieser beiden Laternen sehe ich immer noch einen epileptischen Kranken stehen, namens Heinrich Hudel, der unter der Laterne seinen Standplatz hatte. Er sagte nichts, aber auf seiner Mundharmonika spielte er immer das eine Lied, das ihm zum Lieblingslied geworden war: Weil ich Jesu Schäflein bin, – Freu’ ich mich nur immerhin – Über meinen guten Hirten, – Der mich wohl weiß zu bewirten, – Der mich liebet, der mich kennt – Und bei meinem Namen nennt. – Unter seinem sanften Stab – Geh’ ich aus und ein und hab’ – Unaussprechlich süße Weide, – Daß ich keinen Mangel leide. – Und so oft ich durstig bin, – Führt er mich zum Brunnquell hin. – Sollt’ ich nun nicht fröhlich sein, – Ich beglücktes Schäfelein? – Denn nach diesen schönen Tagen – Werd’ ich endlich heimgetragen – In des Hirten Arm und Schoß. – Amen! Ja, mein Glück ist groß!
Das war, in die kindlichste Form gebracht, die Summe der Theologie, in der Vater lebte und die er darum auch seinen Kranken brachte. Jedes Jahr einmal kam Heinrich Hudels Mutter aus den Nassauischen Bergen. Er war ihr einziger Sohn und sie selbst eine Witwe. Aber das Glück, das in dem Herzen ihres kranken Heinrich lebte, strahlte von dem Angesicht der Mutter wider. Als endlich der letzte Kampf gekämpft war und Vater Heinrich Hudels Mutter an der Leiche ihres Sohnes traf, da „wußte ich nicht,” – so hat er uns oft erzählt – „was glücklicher aussah, das Angesicht des Heinrich oder das Angesicht der Mutter.”
Die Grabhügel und schlichten Kreuze der Epileptischen aus den ersten Jahren, die sich oben auf dem stillen Waldfriedhof Reihe an Reihe legten, sind mit den Jahren verschwunden und haben dem grünen Rasen und dem Schatten der Lebensbäume Platz gemacht. Aber der Hügel und das Kreuz Heinrich Hudels sind noch heute zu finden mit dem Vers darauf, den er nicht müde wurde zu spielen. Er ist, man möchte sagen, der Vorsänger und Kapellmeister der Epileptischen von Bethel geworden, und das Kreuz auf seinem Grabe mit der Inschrift darauf wurde zur Losung und zum Feldgeschrei aller seiner Leidensgenossen.
Im Gegensatz zu Heinrich Hudel taucht eine andere Gestalt aus jenen Tagen auf. Es war ein Landwirtssohn, der erst im beginnenden Mannesalter epileptisch geworden war. Er war ein Hüne von Gestalt, und seine Anfälle waren so heftig, daß er mit Riemen an Händen und Füßen gefesselt werden mußte, weil die Pfleger sonst nicht verhindern konnten, daß der in wilden Zuckungen sich windende Körper sich selbst und andern Schaden tat. Aber wie es bei solchen frischen Fällen bisweilen vorkommt: die Krankheit tobte sich aus, der Kranke genas und konnte entlassen werden. Am Körper war er gesund geworden; aber seiner Seele hatte die furchtbare Krankheitszeit des Körpers nicht zur Gesundheit geholfen.
Solch einen Gesundgewordenen sah Vater nur mit Schmerzen den Weg ins Leben zurücknehmen. Sein Weg glich dem Wege, an welchem auf allen Seiten der Tod lauert, während umgekehrt die Leichenfeier eines Epileptischen, der im Glauben vollendet hatte, zur Lebensfeier, der Leichenzug zu einem Triumphzug wurde. Am liebsten ließ Vater bei solcher Gelegenheit ein Loblied singen, und Lob und Dank war der Inhalt seiner Leichenrede. Dem Leichenzug voran aber zog der Posaunenchor. In leuchtendem Weiß strahlte der blumengeschmückte Sarg, den die Mitkranken trugen. Wir Kinder standen mit um das geöffnete Grab her, und für Kranke und Gesunde wurde der Schauer des Todes überflutet von dem seligen Rauschen der Ewigkeit.
Aber diese hohe Hoffnung des Glaubens wurzelte in der Tiefe. Nicht nur als ein Hoffender unter Hoffnungslosen stand Vater unter den Epileptischen, sondern als Schuldiger unter Schuldigen. Wir haben ihn oft sagen hören: „Ich täte meinen Kranken das größte Unrecht, wenn ich ihnen die Verantwortung nähme und alles bei ihnen entschuldigen wollte.” Alle die Stimmungen, Launen und Leidenschaften, denen ein Epileptischer mehr als andere Kranke ausgesetzt ist, erklärte und entschuldigte Vater nicht aus ihrer Krankheit heraus. Vielmehr war die Krankheit mit ihren Erschütterungen für ihn nur wie das Erdbeben, das das im Innern des Vulkans schlummernde Feuer weckt und zum Ausbruch bringt. Jedes Menschenherz, einerlei ob im kranken oder gesunden Leib wohnend, glich ihm dem Vulkan; und erst die Krankheit mit ihren erdbebenartigen Erschütterungen öffnete, was sonst im Innern verborgen geblieben wäre. Nicht für das Erdbeben, aber für dies Innere machte Vater den Kranken verantwortlich. Und eben darum wurde er zum Wohltäter für die Kranken. Denn gerade so gab er ihnen die volle Menschenwürde. „Nichts ist feiger als die Entschuldigung, nichts größer als das Zugeben der Schuld.”
Aus falscher Barmherzigkeit hatten Eltern, Verwandte, Pfleger und die Kranken selbst alle Eigentümlichkeiten der Epileptischen aus ihrer Krankheit heraus erklärt und entschuldigt, ohne zu bedenken, daß sie dadurch nur desto haltloser ihren Stimmungen, Launen und Leidenschaften ausgeliefert wurden. Vater aber erhob die Kranken zum vollen Adel des Menschentums dadurch, daß er ihnen half, sich für ihre Gedanken, Stimmungen und Taten vor Gott und Menschen verantwortlich zu wissen. Und ihre Krankheit zeigte er ihnen nicht als ihren Feind, sondern als ihren Wohltäter, weil sie gerade durch ihre Krankheit das eigentliche Wesen ihres Herzens erkannt hatten, das ihnen ohne die Krankheit verborgen geblieben sein würde.
So wurde gegenüber dem früheren dumpfen Zustand der weichlichen Entschuldigung das Verantwortungsgefühl zum erfrischenden Morgenwind, das Schuldbewußtsein zur Kraft, die Reue zur Freude und die Krankheit zum Gehilfen der Wahrheit. Noch heute kann man kaum etwas Ergreifenderes hören als das lautgesprochene Sündenbekenntnis der Epileptischen, das sich seit jenen Anfangstagen bis heute in jedem Gottesdienst wiederholt. Während draußen in der Welt die Starken und Gesunden immer schwächer und morscher werden, weil sie die Verantwortung über sich selbst weggeworfen und die Zügel ihres Geschickes aus der Hand verloren haben, steht hier eine Schar von Ausgestoßenen und Kranken, unter denen sich immer wieder solche finden, die die Höhe des sittlichen Urteils über sich selbst erklommen und damit die Kraft gewonnen haben, gegen den Strom zu schwimmen.
Darum spielten auch meine Geschwister und ich mit den epileptischen Altersgenossen lieber als mit unsern gleichaltrigen gesunden Spielkameraden. Denn unwillkürlich fühlten wir, daß viele unter diesen epileptischen Kindern auf einer größeren sittlichen Höhe standen als gesunde Kinder im gleichen Alter. Es befand sich unter ihnen ja immer eine große Anzahl von solchen, bei denen die körperlichen und geistigen Kräfte noch nicht wesentlich gemindert waren, und wir teilten ihre Spiele und ihre Arbeit in großer Unbefangenheit. Manche von ihnen waren uns beim Spiel und bei der körperlichen Arbeit durchaus ebenbürtige Gefährten. Und während der Verkehr mit den gesunden Kameraden der städtischen Schulen dunkle Schatten über unsere Kinderzeit zu werfen drohte, so waren wir im Kreise unserer epileptischen Altersgenossen davor bewahrt und zogen uns zeitweise ganz in diesen Kreis zurück.
Diese Höhe des sittlichen Standes aber und die Kraft des sittlichen Urteils wurde bei den Epileptischen nicht erreicht durch irgend welche Moralpredigt. Es war vielmehr das allgemein menschliche Mittel: Jesus Christus, der mit seinem Leben, Leiden und Sterben und seiner Auferstehungskraft vor die Augen gemalt und in die Herzen hineingepflanzt wurde. Und das geschah von einem, der lebte, was er glaubte. Die tiefe, wahre Demut, in der Vater vor Gott stand, und das offene Bekenntnis seiner Sünderschaft vor Kranken und Gesunden ist mir als Kind oft nicht nur unverständlich, sondern geradezu ärgerlich gewesen. Sahen wir Kinder doch an unserm Vater nichts als Hingabe, Liebe, Aufopferung und eine unermüdliche Geduld. Die epileptischen Kranken aber, die vielfach gerade durch ihre Krankheit eine leichtere Erkenntnis ihres eigenen Herzens hatten, fühlten sich durch die Ehrlichkeit und Überzeugung, mit der sich Vater unter die Schuld stellte, vor das Angesicht der Wahrheit geführt und dadurch bewogen, nun auch ihrerseits mit der Wahrheit, die ihnen aus ihrer Krankheit heraus und aus dem Bilde Jesu Christi aufgegangen war, Ernst zu machen.
Aber mit derselben Energie, mit der Vater vor den Augen und den Gewissen seiner Kranken jedes Vertrauen auf sein eigenes Herz fortwarf, ergriff er nun auch unablässig die Gnade Gottes in dem vollkommenen Werke und der vollkommenen Person Jesu Christi. Er lebte in dem Lieblingslied seiner Mutter: Einmal ist die Schuld entrichtet, – Und das gilt auf immerhin. – Mosis Opfer stehn vernichtet, – Weil ich nun vollendet bin. – Denn mit einer Opfergabe – Hat das Lamm so viel getan, – Daß das Volk von seiner Habe – Sich vollendet nennen kann.
So wurde er zum Führer eines Volkes, das für Fernstehende lediglich ein Volk von Elenden, Bemitleidenswerten, Hoffnungslosen und Sterbenden war, das aber in Wahrheit eine vollendete Schar war, die durch die Verurteilung ihrer selbst auf der einen Seite, durch den Glauben an den Christus der Welt auf der andern Seite die eigentliche Höhe und Vollkommenheit des Menschentums erklommen hatte. „Hier sitzen”, sagte Vater einmal von den Epileptischen, „die Professoren auf ihren Lehrstühlen und bringen uns deutlich bei, was Evangelium und was Gotteskraft zur Seligkeit ist.”
Natürlich gab es innerhalb dieser Schar die größten Unterschiede und die verschiedensten Grade. Aber beides, Sünderschaft und Gotteskraft, blieb durch alle Unterschiede und Grade das Gemeinsame. Und je gründlicher einer auf diesem Boden unter sich wurzelte und über sich Frucht trug, je mehr kam es dem Ganzen zugute. Grundsatz aber blieb es, daß nicht durch Zwang oder Gewalt, nicht durch Moralpredigten und Kopfwaschen für dieses Heer der Sünder und Begnadeten geworben wurde, sondern durch den freien Geist der Liebe und des Glaubens.
Es war unter den Kranken jener ersten Zeit ein reicher Bauernsohn, der durch seine Aufgeblasenheit und Hoffart sich selbst, seinen Mitkranken und seinen Pflegern zur Plage war. Einer seiner Pfleger hatte sich allmählich erlaubt, hart gegen hart zu setzen. Das endete damit, daß er eines guten Tages von jenem Kranken verprügelt wurde. Entrüstet eilte er zum Vater. Der sagte nur: „Brüderchen, die Prügel hast du schon lange verdient.” Wie aber behandelte Vater seinerseits diesen in der Tat höchst schwierigen Kranken? Er hatte bei ihm eine Freude an Blumen entdeckt und ermunterte ihn, die schönsten Sträuße für seine Mitkranken zu suchen. Für jeden Sonntagmorgen aber erbat sich Vater von ihm einen Strauß für unsere Mutter. Ich sehe den Kranken noch immer glückstrahlend jeden Sonntagmorgen vor unserm Fenster erscheinen und unserer Mutter den neuen Strauß reichen. So gewannen Vater und Mutter sein Herz. Von beiden ließ er sich alles sagen und sich Schritt für Schritt auf den Weg leiten, der auch für ihn die Befreiung bedeutete.
So wurde die Gemeinde der Epileptischen zu einer Gemeinde der Hoffenden, der Büßenden, der Glaubenden, der Liebenden und – das muß zuletzt noch gesagt werden – der Arbeitenden. Arbeitslosigkeit gehört ja zu den besonderen Leiden der Epileptischen. Ausgestoßen aus Beruf und Werkstatt müssen ihre seelischen und körperlichen Kräfte allmählich abstumpfen und absterben. Die Rückkehr zur Arbeit aber bedeutet für sie neue Lebensfreude und Lebensfrische. Darum wurde die Anstalt für Epileptische von vornherein auf dem Grundsatz der Arbeit aufgebaut. Haus, Garten, Feld und Wald boten vom ersten Entstehen an den Kranken mannigfache Gelegenheit zur Beschäftigung. Als Vater die Leitung übernahm, waren auch schon die ersten Handwerksstätten im Entstehen begriffen.
Eine Zeitlang trug er sich mit dem Gedanken, ob nicht aus den frischesten Epileptischen die Meister für einige kleine Handwerksstätten genommen werden und die Kranken je nach ihrer Leistung auch bezahlt werden könnten. Aber dieser Gedanke trat bald wieder zurück. Seine Durchführung hätte die schwächeren Kranken, die kein leitendes Amt und kein Entgelt bekommen hätten, ihre Krankheit allzu empfindlich fühlen lassen. Hinfort herrschte in diesem Stück Einheitlichkeit: ein Avancement im eigentlichen Sinne und eine Bezahlung gab es nicht. Die Arbeit selbst wurde zur Ehre und zum Lohn. Jener Epileptische, der zunächst zum Meister ausersehen war, hat hernach, nachdem er hatte zurücktreten müssen, unter seinem gesunden Meister und Hausvater noch nahezu dreißig Jahre lang in der Tischlerwerkstätte gearbeitet, immer mit gleichmäßiger Treue und Heiterkeit, ohne je einen Pfennig Lohn sein eigen zu nennen. Er bekam, was er an Nahrung, Kleidung und allem übrigen nötig hatte, aber das Geld spielte für ihn keine Rolle mehr. Daß es in Bethel so viele glückliche Menschen gab und gibt, hat mit darin seinen Grund, daß der auri sacra fames, d. h. dem höllischen Hunger nach Geld, und zugleich dem „lockenden Silberton des reizvollen Ruhmes” so viel wie möglich der Boden entzogen wurde.
Natürlich gelang es nicht immer sofort, jeden zur Arbeit willig und fröhlich zu machen. Die erste kleine Ackerbaustation „Hebron” war entstanden, aber der Weg, der von Hebron eine Viertelstunde weit zum Mittelpunkt der Anstalt führte, war zunächst unausgebaut und im Winter nahezu grundlos. Eines Tages verweigerten deshalb die beiden epileptischen Kranken, die aus der Bäckerei von Sarepta das Brot zu holen hatten, den Dienst. Davon hatte Vater gehört. Er verschaffte sich eine Kiepe, ließ sich die Zahl Brote, die für Hebron bestimmt waren, hineintun, nahm sie auf den Rücken, trug sie durch Dreck und Unwetter nach Hebron hinüber und lud mit großer Heiterkeit sein Brot an Ort und Stelle ab. Damit war ein für allemal das Widerstreben gebrochen, und der Posten, das Brot zu holen, war zu einem besonderen Ehrenposten geworden.
Bei der Verteilung der Arbeit galt der alte preußische Grundsatz: suum cuique. Keine Einseitigkeit, sondern jeden möglichst nach seinen Kräften, Gaben und Neigungen einspannen! Nur so konnte ein freudiger Geist gepflegt und erhalten werden. So entstand dann Schritt um Schritt eine Arbeitsstätte nach der andern. Die Kranken selbst mit ihrer Arbeitslust und ihrem Arbeitshunger trieben die Entwicklung vorwärts.
Auch solche Kranke, die von Haus aus körperliche Arbeit nicht gewohnt waren, griffen fröhlich zu Hobel, Axt und Spaten; andere wiederum fanden in den Schreibstuben und bei mancherlei Botengängen ihre Beschäftigung. Mein Bruder Wilhelm und ich bekamen unsern ersten Unterricht bei einem epileptischen Lehrer.
Vaters erster Schreibgehilfe war ein epileptischer Eisenbahnsekretär. Er war verlobt und wurde während seines Dienstes auf dem Bahnhof in Gütersloh durch ein Telegramm, das ihm den unerwarteten Tod seiner Braut meldete, so erschreckt, daß er auf der Stelle im ersten epileptischen Anfall zusammenbrach. Seine geistige Fähigkeit hatte schon gelitten, als er in Bethel Aufnahme fand. Desto mehr war Herr Kneipp, so hieß er, gehoben und beglückt, als ihn Vater in seinen persönlichen Dienst zog. Unermeßlich muß die Geduld gewesen sein, die Vater mit ihm hatte. Manchmal waren beide Eltern im Arbeitszimmer des Vaters um ihn bemüht, wenn ihm plötzlich die Feder aus der Hand gefallen und er bewußtlos zu Boden gesunken war.
Die Erinnerung an diese Zeit, auch als sie schließlich um seiner zunehmenden Schwäche willen ein Ende fand, begleitete den Kranken durch den Rest seiner Tage, sodaß ich sein von Glück strahlendes Gesicht und seinen im Hochgefühl der Freude sich wiegenden Schritt immer noch deutlich vor Augen habe. Man fand ihn eines Morgens tot im Bett. Unbemerkt hatte er sich im Anfall herumgeworfen und war in seinem Kopfkissen erstickt.
Aber was wurde aus denen, deren Arbeitskraft versagte? Wer nicht mehr die Hände rühren konnte, konnte sie doch noch falten und so das Herz der Menschen und Gottes bewegen. Und das konnte auch der Schwächste und Elendeste noch. „Ihr könnt noch die Hände falten” – wie oft hat das Vater gerade den ganz Schwachen zugerufen und sie damit in die vordersten Reihen der Mitarbeiter gestellt!
So wuchs eine Gemeinde heran, die unter Gottes gewaltige Hand gebeugt, beides war, still und tätig, demütig und hochgemut, elend und doch gesund, „als die Sterbenden, und siehe, wir leben”.
Und wer will es dieser Gemeinde verdenken, daß, wo sich Vater zeigte, die Herzen rauschten, nicht aus Menschenvergötterung, aber aus Dank gegen Gott? Und Vater ließ es sich gefallen. Von Natur war ihm jede Berührung mit Kranken, sonderlich unsauberen, peinlich; nicht einmal ein Butterbrot, das von einer andern als von unserer Mutter Hand geschnitten und gestrichen war, aß er ohne Widerstreben. Aber kaum einer hat ihm das angemerkt. All den stürmischen Begrüßungen der Kranken gab er nicht nur nach, sondern gab sich ihnen hin. Wie oft hat ein Kranker, der seinen Dank nicht in Worte fassen konnte, seinen Kopf tief in seine Seite hineingebohrt oder ihm unversehens einen Kuß aufgebrannt! Er hat dem nicht gewehrt, sondern zum Dank mit seiner linden Hand die Wange und die Stirn gestreichelt.