Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 15
Die Brüder
Der Dienst an den Epileptischen konnte natürlich nicht getan werden ohne einen Kreis gleichgesinnter Pfleger und Pflegerinnen. Neben die Diakonissen traten die Diakonen, neben die Schwestern die Brüder.
Die ersten Brüder kamen aus der Diakonenanstalt Neinstedt am Harz. Sie bildeten den Grundstock einer kleinen Bruderschaft, die sich im Jahre 1877 zu einer besonderen Diakonenanstalt zusammenschloß. Zwischen dem Diakonissenhause Sarepta und dem Hause der Epileptischen Bethel war noch ein Platz frei. Hier entstand die Heimat der Brüder, das Haus Nazareth.
Woher sie kamen? Ein Schustergeselle stellte sich aus dem Hannöverschen ein, dem sein Freund aus einer Predigt erzählt hatte, die Vater in dem kleinen hannöverschen Bad Essen gehalten und in der er für den Dienst an den Kranken geworben hatte. Ein Landwirt meldete sich, der im August 1870 als Paderborner Husar vor Metz inmitten seines Regimentes im feindlichen Kugelregen gehalten und in dieser Gefahr das Gelöbnis getan hatte, er wollte Gott sein Leben weihen, wenn er ihn gesund wieder ins Vaterland brächte. Der Sohn eines der reichsten und größten Höfe aus dem Herzen des Ravensberger Landes kam. Auch ein Kaufmann, der seinem Kompagnon seinen Anteil an dem reichen Ertrage des Geschäftes allein überließ. Und so einer nach dem andern. Mehr noch als bei den Schwestern waren es meist Angehörige der körperlich arbeitenden Stände, selten, zu selten jemand, der ähnlich den Gliedern des alten Johanniter- und Templerordens eine umfassende Bildung besaß.
Aber die Herzensbildung war ja gerade im Dienst an den Epileptischen das Entscheidende, der innere Friede, die Gelassenheit des Gemüts. Als eine Säule im Sturm stand Bruder Nispel als Hausvater unten in Eben-Ezer unter den aufgeregten Kranken. Wie natürlich und gemütlich ging es zu! Da kommt ein Kranker die schmale Treppe heraufgestürmt. Irgend etwas muß zwischen ihm und einem Mitkranken vorgefallen sein, das sein Gemüt so in Wallung bringt. Zitternd vor Erregung steht er vor dem Hausvater und kann kaum mit der Sprache heraus. Da langt Hausvater Nispel zur Kiste mit Zigarren, die oben auf dem Schrank steht. „So, Wilhelm, nun wollen wir uns erst mal eine anstecken.” Und Wilhelm nimmt mit bebender Hand das köstliche Kraut, der Hausvater hilft beim Anzünden, und während die ersten hastigen Züge des Kranken die Rauchwolken herausstoßen, hat auch der Hausvater in aller Muße seine Zigarre in Brand gesetzt. Nun qualmen die beiden miteinander. Viel Worte sind nicht mehr nötig. Die kleine Freundlichkeit und die große Ruhe haben die Hauptsache getan, und still und zufrieden geht Wilhelm wieder an seine Arbeit zurück. Vater selbst rauchte nicht. „Aber”, so konnte er oft sagen, „ich danke Gott für das gute Kraut.” So wenig er für seine Person den Tabak schätzte, so war er ihm doch oft in der Pflege der aufgeregten Kranken ein lieber Bundesgenosse, den er gegen Fanatiker in Schutz nahm.
Als im Jahre 1872 das große Haus „Bethel” fertiggestellt war, in welchem 200 epileptische Kranke jeden Alters und Geschlechts untergebracht waren, wurde das ganze Haus zunächst einem Inspektor unterstellt, dem nun ihrerseits wieder die Brüder und Schwestern untergeordnet waren. Aber als der erste Inspektor, namens Unsöld, nach jahrelanger treuer Arbeit in seine schwäbische Heimat zurückkehrte, wurde seine Stelle nicht neu besetzt. Von jetzt an stellte Vater die Kranken weiblichen Geschlechts ausschließlich in die Obhut der Schwestern und die männlichen Geschlechts in die Obhut der Brüder. Station um Station wurden die männlichen Kranken aus dem Hause hinaus verlegt, bis das ganze Haus nur den weiblichen Kranken gehörte. Unter der geräuschlosen Leitung von Schwester Luise hat so das alte liebe Haus Bethel allen andern Häusern vorangearbeitet in Stille, Sparsamkeit und Fleiß.
Als weitere Häuser für weibliche Kranke nötig wurden, wurden dieselben Wege innegehalten. Sie alle standen ausschließlich unter der Leitung von Hausmüttern, die dem Diakonissenhause angehörten. „Hausmütter”, das war das entscheidende Wort. Überall sollte der mütterliche Sinn der Frau, so viel wie nur irgend möglich, das Haus durchdringen.
Aus demselben Grunde aber mußten die Brüder heiraten. Neben den Hausvater, der der einzelnen Station epileptischer Kranker vorstand und sie mit einigen ledigen Brüdern verwaltete, mußte die Hausmutter treten, die mit mütterlichem Geiste das Haus erfüllte. Beide Hauseltern aber konnten, wenn ihnen Kinder geschenkt wurden, an ihren eigenen Kindern die rechte väterliche und mütterliche Art lernen, mit der sie ihre Kranken versorgten und ihnen das ferne Elternhaus und die verlorene Heimat ersetzten.
Aus den Diakonissen durften die Brüder die Lebensgefährtin nicht wählen. Diese Ordnung wurde vom ersten Augenblick an durch Vater aufgerichtet und durchgehalten. Nicht aus einer Möncherei heraus. Aber bei den Schwestern wurde der Entschluß vorausgesetzt, ihr Leben, ohne durch die Ehe gebunden zu sein, ungehindert dem Dienst des Nächsten zu widmen, es sei denn, daß Gott durch die Verhältnisse ganz klar andere Wege zeigte. In diesem Entschluß sollten sie durch ihre nächsten Mitarbeiter, die Brüder, nicht wankend gemacht werden. Es ist, soviel ich weiß, auch niemals geschehen.
Nicht in der Pflege der Epileptischen, wohl aber auf den übrigen Krankenstationen arbeiteten Schwestern und Brüder in jener ersten Zeit zusammen, sowohl im Diakonissenhause Sarepta als auch in andern Krankenhäusern hin und her im Lande. Die Leitung des Hauses, auch die der einzelnen Stationen für männliche Kranke, lag in der Hand der Schwester. Unter ihr, in möglichst großer Selbständigkeit, aber doch ebenso unter ihr wie die jungen Schwestern, arbeiteten die Brüder.
Denn auf dem Gebiete der Krankenpflege reichte Vater als etwas Selbstverständliches der Frau die Palme. Er hatte während seiner Krankheit als junger Rekrut in Berlin und hernach während der Feldzüge 1866 und 1870 aus eigener Erfahrung erprobt, daß die Begabung des Mannes in diesem Stück hinter der der Frau zurücksteht. Der Mann sieht auf das Ganze, die Frau auf das Einzelne. Die Arbeit in der Pflege des Kranken aber besteht in erster Linie aus vielen Kleinigkeiten. Doch über diese Dinge wurde von Vater keine Theorie aufgestellt. Er handelte aus unmittelbarem Empfinden heraus, wenn er dem mütterlichen Blick und Herzen der Frau die erste und letzte Sorge für die Kranken, auch für die männlichen Kranken anvertraute, und wenn er von den Diakonen die Anerkennung einer auf diesem Gebiete den Mann überragenden Würde der Frau als ganz selbstverständlich erwartete.
Aber auf seiten der Schwester gehörte dazu, daß sie solche Würde sich nicht zum Stolz und zur Herrschsucht gereichen ließ; auf seiten des Bruders, daß die Einsicht in die Schranken ihm nicht zur Last wurde und zur Fessel, sondern zum Antriebe, unter ehrlicher Anerkennung des Tatbestandes doch zugleich sein Bestes daranzusetzen. Wo das geschah – und es kam auf einzelnen Krankenstationen in dem Zusammenarbeiten zwischen Schwestern und Brüdern vor – , da erreichte die Pflege der Kranken eine Höhe und die Atmosphäre, die das Haus durchwehte, eine Reinheit und Kraft, die für Vater zu den schönsten Erfahrungen seines ganzen Lebens gehörte.
Doch es konnte nicht ausbleiben, daß er auf diesem Gebiete Schwestern sowohl wie Brüdern eine Höhe und innere Reife und eine Zartheit des Taktes zumutete, hinter der bald der eine, bald der andere Teil, bald beide zurückblieben. Kam doch bei Vater noch seine ritterliche Art hinzu, die es ihm fast von Natur leicht und zur Lust machte, sich der Frau auf diesem bestimmten Gebiete unterzuordnen. Da hat er manchen Sohn und manche Tochter des Volkes zu sehr mit seinem eigenen Maß gemessen, statt an jeden den Maßstab anzulegen, der der eigenen Entwicklung des betreffenden Bruders, der betreffenden Schwester entsprach. So ist denn auch diese Art der Zusammenarbeit immer mehr zurückgegangen und schließlich ganz aufgehoben worden. Da, wo bisher Diakonen und Diakonissen zusammen gearbeitet hatten, traten bezahlte Pfleger an die Stelle der freiwilligen und, ebenso wie die Schwestern, nur gegen Taschengeld arbeitenden Diakonen. Das ist Vater immer schmerzlich geblieben. Und das hohe Ideal, dem in jener ersten Anfangszeit mit der Tat zugestrebt wurde, sollte nie von der Christenheit aus dem Auge gelassen werden.
Doch lag die Sache nicht so, daß Vater, weil ihm diese Schranke in der Begabung des Mannes klar war, nun die Brüder etwa lieber so bald wie möglich in einem geistlichen Beruf gesehen hätte, statt in der schlichten Pflege der Kranken. Womit hätte er dann das immer stärker heranstürmende Heer der Notleidenden versorgen sollen? Nur durch die Pflege des körperlichen Menschen kam er ja an den verborgenen inwendigen Menschen heran. Darum waren ihm im Grunde diese Unterschiede zwischen Mann und Weib gering gegenüber der unermeßlichen an Schwestern und Brüder herandrängenden Not. Was lag schließlich daran, wenn der einzelne von der Frau ein wenig besser, vom Mann ein wenig geringer versorgt wurde, wenn er nur überhaupt versorgt wurde! Hier war wirklich keine Zeit für Schreibtischtheorien über die Grenzen der Frau und die Grenzen des Mannes. Sie würden sich von selbst herausstellen, wenn nur jeder an seinem Teil Hand anlegte an die unendliche Aufgabe, die sich auftat.
Nur wer Lust hatte und willig war, einerlei ob Weib oder Mann, sein ganzes Leben im allergeringsten, verachtetsten, verborgensten Dienst an der leiblichen Not des Nächsten zuzubringen, war in Vaters Augen überhaupt für irgend welche sogenannte geistliche Arbeit zu gebrauchen. Wer aber aus solch geringem Dienst emporschielte nach höheren geistlichen Aufgaben und den Dienst in der blauen Schürze, wie Vater den Dienst des Diakonen so gern nannte, nur als Sprungbrett ansah für eine vermeintlich gehobene Laufbahn, den sah er schon als innerlich ungeeignet an für den Gesamtbereich der christlichen Bruderhilfe.
Wenn der Mangel an geeigneten männlichen Pflegekräften besonders hart drückte, kam es vor, daß Vater wieder und wieder an die Anstalten der äußeren Mission schrieb mit der Bitte, man möchte doch diejenigen männlichen Kräfte, die sich in diesen Anstalten meldeten, aber aus Mangel an Platz abgewiesen werden müßten, auf den Dienst in der blauen Schürze aufmerksam machen. Aber selten geschah es, daß jemand solchem Ruf folgte. Darin erblickte Vater ein ernstes warnendes Zeichen für den Tiefstand der Christenheit, deren erweckte Glieder wohl den hohen Dienst des Wortes unter den Heiden begehrten, doch den geringen Dienst unter den Kranken und Schwachen der Heimat ablehnten.
Keineswegs aber war es so, daß Vater dem Diakonen den Weg von der blauen Schürze zum Gemeindehelfer, Jugendleiter, Stadtmissionar oder Seemannspfleger verwehren wollte. In all diese Berufe sind später Mitglieder des Hauses Nazareth eingetreten und haben sich darin bewährt. Und standen sie auf einsamem Posten, so wußten sie, wie schnell und gern ihr Leiter, Pastor Kuhlo, zur Stelle war, um mit seinem kindlichen Glauben das Herz zu erquicken und mit den seelenvollen Klängen seines nie rastenden Hornes Berge von Sorgen hinwegzublasen und Täler voll Kleinmut mit Dank und Lob zu füllen. Daheim in Nazareth aber führte währenddem Pastor Göbel, der aus der Brüdergemeinde gekommen war, in stiller Weisheit und Treue das Steuer der Brüderschaft.
Die übrigen Mitarbeiter
1. Unsere Mutter
Ich höre noch aus den frühesten Kindertagen ihre schnelle Feder über das Papier eilen, wenn sie in unserer Wohnstube an ihrem kleinen Schreibtisch saß und Vater, an unsern lieben gelben Kachelofen gelehnt, mit fest zugedrückten Augen ihr diktierte. Er hatte eine schwere Hand, die, wenn er beim Schreiben angestrengt nachdachte, so undeutlich wurde, daß die wenigsten sie lesen konnten. Hier hat Mutter ihm geholfen, von der Pariser Zeit an bis lange in die ersten Jahre von Bethel hinein. Denn Freund Kneipp, von dem oben die Rede war, war doch nur zu gewissen Zeiten des Tages zur Verfügung. Und wie mancher Tag fiel seiner Krankheit wegen ganz aus!
Aber auch abgesehen von dieser großen, oft sehr anstrengenden, bis in die Nacht gehenden Schreibarbeit ergänzte sie mit ihrer Feder den Vater. Vielfach war sie früher als das übrige Haus auf, um in aller Morgenstille den Briefverkehr mit den Verwandten und Freunden des Hauses und später auch mit den Kindern zu pflegen.
Während der Beruf des Vaters ihn naturgemäß aus dem Hause führte, war Mutter immer daheim. Sie war in jedem Augenblick für uns Kinder da. Mit völliger Sorglosigkeit überließ darum Vater uns Kinder der Mutter. Auf allen ihren Wegen durchs Haus trabten wir hinter ihr her, und überall leitete sie uns an, ihr zur Hand zu gehen und keinerlei Arbeit zu scheuen. Wenn sie nachmittags still auf dem niedrigen Sessel saß, auf dem sie alle ihre Kinder gewartet und genährt hatte, das kleine Arbeitstischchen vor sich, dann hockten wir Kinder um sie her, und sie lehrte uns stricken und sticken, auch uns Jungen, und erzählte dabei am liebsten aus ihrer und des Vaters Lebensgeschichte.
Wie eng und klein gegen ihre früheren Lebensverhältnisse war das Haus geworden, wie bescheiden auch der Lebenszuschnitt! Aber es kam ihr zustatten, daß sie in einer Zeit groß geworden war, in welcher auch in den hochgestellten Kreisen die Lebenshaltung eine sehr einfache und sparsame blieb. So wurde es ihr nicht schwer, mit dem geringen Gehalt, das der Vater bekam, – es war in den ersten 20 Jahren seiner Tätigkeit nicht mehr als 2400 Mark jährlich, zu denen noch ein verhältnismäßig kleiner Zuschuß aus ihrem väterlichen Erbteil hinzukam, – durchzukommen und noch immer übrig zu haben für andere.
Sie selbst war ein Vorbild von Einfachheit. Die Mode machte sie nicht mit. Nur einmal während der 22 Jahre ihres Lebens in Bethel leistete sie sich einen neuen Hut und einmal einen neuen Mantel. Das war ein Fest für uns alle. Seit mit dem Tode ihrer vier ersten Kinder ihr Kopfhaar sehr spärlich geworden war, trug sie eine höchst kleidsame weiße Rüschenmütze. Draußen hatte sie darüber nur selten einen Hut, sondern statt dessen ein dreieckiges schwarzes Tüchlein, und statt des Mantels war ihr ebenfalls ein langes schwarzes wollenes Tuch das liebste. So ging sie uns Kindern und der ganzen Gemeinde in edler Einfachheit voran.
Als wir größer geworden und dem Schlafzimmer der Eltern entflohen waren, versäumte sie doch ohne besondere Not keinen Abend, mit uns zu beten. Das alte, unendlich einfache und zugleich so tiefe Zinzendorfsche Gebet bildete immer die Einleitung: „Christi Blut und Gerechtigkeit, – Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, – Damit will ich vor Gott bestehn, – Wenn ich zum Himmel werd’ eingehn.” Dann kamen die einzelnen Anliegen. Wie hat sie uns gewöhnt, im Gebet insonderheit der einzelnen Verwandten und ihrer Kinder zu gedenken!
So lag unsere Erziehung im wesentlichen in ihrer Hand. Nur sehr selten kam es vor, daß Vater sich in die Erziehung mischte. Während die Mutter mit ihren wachen Augen und ihrem schnellen Empfinden rasch eingriff, hatte Vater eine unermeßliche Geduld mit uns. Nicht selten entgleiste unsere geschwisterliche Liebe in Gegenwart der Eltern. Aber Vater tat meist wie Saul, als hörte und sähe er es nicht. Bat ihn aber, wenn es gar zu arg wurde, die Mutter um sein Einschreiten, dann wirkte es um so tiefer.
So wird es mir unvergeßlich bleiben, wie wir drei Brüder eines Sonntagmorgens in der kleinen Dachkammer, die wir miteinander bewohnten und die gerade über dem Wohnzimmer der Eltern lag, in erbitterten Streit geraten waren und einen Heidenlärm machten. Während wochentags die Schule uns keine Zeit ließ, gab uns gerade der Sonntagmorgen erwünschte Muße, uns einmal gründlich gegeneinander Luft zu machen. Da, während einer kurzen Atempause unseres Streites, hören wir Tritte die Treppe heraufkommen. Werden sie in Vaters Studierzimmer verhallen? Nein, sie kommen den Gang entlang, der auf unser kleines Arbeitszimmer führte, hinter welchem die Kammer lag. Jetzt kommen auch schon die Tritte durch das Arbeitszimmer; jetzt öffnet sich die Tür, nicht weit, sondern nur so viel, daß gerade Vaters vorgebeugter Kopf hineinsehen kann. „Kinder,” sagt Vater, „am Sonntagmorgen?” Mehr sagt er nicht, sondern schließt die Tür wieder und geht davon. Unsere Seele zitterte, nicht weil wir ein Dreinschlagen des Vaters gefürchtet hätten, sondern weil uns der Frieden, die Stille, die große Güte, die sich mit dem väterlichen Ernst verband, bis in die Seele getroffen hatte. Unser Streit war wie in einem tiefen Abgrund versunken und vergessen. Gericht und Gnade Gottes, wie sie in eins tätig sind, sind mir an diesem Erlebnis immer verständlich geblieben.
Noch freiere Hand als bei uns Kindern ließ Vater naturgemäß der Mutter in der Erziehung der Hausmädchen. Weil sie nicht weichlich war gegen sich selbst, so war sie auch nicht weichlich gegen ihre Angestellten. Wer ihre Schule bestand, hatte etwas Tüchtiges gewonnen. Einige bewährte Hausfrauen und mehrere Diakonissen, die von unserm Hause aus den Weg in das Mutterhaus fanden, haben ihr über das Grab hinaus gedankt.
Durch die schweren Führungen ihres Lebens war sie von Menschen gelöst worden und ganz auf Gott gestellt. Jedes Gepränge nach außen hin, aber auch jedes fromme Getue war ihr fremd. Sie kannte aus eigenster Erfahrung die Tiefe des Leides und hatte darum ein unmittelbares überaus wohltuendes Mitempfinden mit jedem Leidenden. Aber sie war ganz und gar nicht wehleidig. Sie beklagte niemanden. Es lag über ihrem Mitleiden der köstliche Humor, der im Schmerz die Quelle der edelsten Freude ahnt und auf dem Grunde des bitteren Kelches die glänzende Perle erblickt. Wie manchen, der müde an Leib und Seele ins Haus kam, um sich bei Vater Rat und Hilfe zu holen, hat sie erst durch eine kleine leibliche Erquickung erfrischt und dann, ohne daß sie in Versuchung kam, Herzensgeheimnisse zu erforschen, durch ein klares, offenes, gütiges Wort die Seele zurechtgerückt, sodaß Vater nur noch halbe Arbeit hatte.
Es gab Zeiten, wo Vater und Mutter regelmäßig um zwei Uhr nachmittags einen gemeinsamen Spaziergang durch die Anstalt und die Anstaltshäuser machten, um überall an der Not teilzunehmen und nach dem Rechten zu sehen. Auf solchen Wegen hat dann Mutter, ganz unbewußt und ungewollt, Vaters Augen und Urteil ergänzt. Bei der großen Beweglichkeit und Glut, die Vaters Herz erfüllte, und bei der großen Tragkraft, die er besaß, kam es oft vor, daß Dinge und Menschen ihm in einem Lichte erschienen, das doch der Wirklichkeit nicht ganz entsprach. Nie hat dann Mutter mit ihrem ergänzenden Urteil zurückgehalten. Unerbittlich, wie andern Menschen gegenüber, blieb sie auch gegenüber ihrem Mann in der Wahrheit, und für die rechte Beurteilung von Menschen und Dingen, namentlich auch bei der Wahl der Mitarbeiter, blieb ihr klares Auge und unbestechliches Empfinden von höchstem Wert für ihren Mann. „Sie hat mir nie geschmeichelt,” hat er an ihrem Grabe gerühmt.
Siebzehn Jahre nach ihrem Tode kam ich einmal auf Reisen in eine rheinische Stadt, gerade rechtzeitig zum Beginn des Gottesdienstes. Es predigte ein Pastor, der früher eine Zeitlang in Bethel gearbeitet hatte und mir befreundet war. Es war eine dreigeteilte, tief zu Herzen gehende Predigt. Nachher ging ich in die Sakristei, um meinen Freund zu begrüßen. Da sagte er: „Die Predigt habe ich schon einmal in Bethel gehalten – aber nur in zwei Teilen. Damals hat mir deine Mutter gesagt: ‚Sie haben den dritten Teil vergessen.’ Den habe ich jetzt nachgeholt.” So wirkte ihr offenes und klares Wort über Jahre hinaus.
Aber sie trug den reichen Schatz ihrer Seele in einem Gefäß, dessen Wandungen sehr zart geblieben waren. Ihr an und für sich so heiteres Gemüt konnte hie und da von ganz kleinen Dingen überrannt und in eine Stimmung gebracht werden, die sich auf ihre ganze Seele und damit auch auf unser Haus wie ein Nebel legte. Dann half kein Zureden; der Zustand mußte einfach seine Zeit haben. Darunter haben wir Kinder manchmal gelitten, und die Mutter selbst am meisten. War der Zustand der Verstimmung überwunden, dann strahlte die Sonne des Glückes wieder desto heiterer über unserm Haus. Vater selbst ertrug sie in solchen Stunden mit unermüdlicher Geduld. Wir haben nie ein einziges hartes Wort gegen die Mutter von seinen Lippen gehört.
Zu diesen vorübereilenden Schatten kamen längere Ruhe- und Krankheitszeiten der Mutter, namentlich in den letzten Jahren ihres Lebens, als unter der großen Last, die auf ihr lag, die Widerstandskraft der Nerven schwächer und schwächer wurde. Aber das waren eigentlich besondere Feierzeiten für unser ganzes Haus. Denn der Strom der Fremden, die aus- und eingingen, stand dann still. Vater hielt sich so viel wie möglich zu Haus. Und die einsamen Wege durch Wald und Feld, die Mutter dann mit dem Vater, oft aber auch bald mit dem einen, bald mit dem andern von uns Kindern machte, waren wichtige Sammelstunden für uns in dem sonst oft so unruhigen und zerstreuenden Anstaltsleben.
In solchen Zeiten erquickte dann Mutter sich und uns durch ihr Klavierspiel. Sie besaß eine Weichheit und Kraft des Spiels, wie ich es mit Bewußtsein nie wieder gehört habe. In den letzten Jahren ihres Lebens war es nur noch Bach, den sie spielte, und der tiefste deutsche Musikmeister war ihr durch die Tiefe des Leidens in besonderer Weise verständlich und tröstlich geworden.
Vor dem Eintritt in ihre letzte Krankheitszeit wurden ihr noch einige Monate völliger geistiger und körperlicher Frische beschert. Das war für sie wie für uns alle eine ganz unbeschreibliche Wohltat. Alle Hemmungen waren verschwunden. Das Leuchtende, Sprudelnde, Humorvolle und dabei so zärtlich Fürsorgende ihres innersten Wesens brach hervor, wie wir es in solchem Maße eigentlich nur in der frühesten Kindheit gekannt hatten. Ein achttägiges Zusammensein im schönen Beatenberg im Berner Oberland, das uns vier Kinder um die Eltern vereinigte, war der Höhepunkt dieser Zeit.
Als wir im Spätherbst auf verschiedenen Wegen wieder in Bethel uns zusammenfanden, hatte sich schon die letzte Krankheit der Mutter angebahnt. Es zeigte sich, daß in dem letzten hellen Feuer, das uns so tief beglückt hatte, zugleich ihre Kraft ausgebrannt war. An ihr Ende dachte freilich keiner von uns.
Um sie einmal ganz in die Stille zu führen, brachte Vater sie in die Anstalt eines ihm nahestehenden Arztes. Dort verschlimmerte sich der Zustand schnell und steigerte sich zur Verwirrung der Gedanken. Ein Brief, der Vater herbeirufen sollte, fand durch ein Versehen nicht rechtzeitig den Weg zur Post. Er wurde überholt durch ein Telegramm vom 4. Dezember 1894, das unsere Schwester öffnete. Es enthielt die erschütternde Mitteilung vom Tode der Mutter.
Nur bei der Nachricht von dem Tode Kaiser Friedrichs hatten wir Vater weinen sehen; jetzt, als wir beiden älteren Söhne aus Berlin heimeilten, hörten wir ihn bitterlich schluchzen. Dann aber konnte er in großer innerer Stille vor der versammelten Gemeinde Gott und Menschen danken für dies nun abgeschlossene gesegnete Leben.
Unsere kleine Dachkammer oben, wo wir Brüder unser Quartier behalten hatten, hat damals manche stille Träne gesehen. Der tiefe Schmerz schloß die Herzen fester denn je zusammen und überwand die zarte Scheu, die sonst gerade uns Westfalen eigen ist, sodaß unser ältester Bruder des Abends aus dem Herzen heraus mit uns und für uns betete. Einige Male wachte ich mitten in der Nacht an meinem eigenen Wehklagen auf. Fortan bildeten wir Kinder enger denn je einen Kreis um den geliebten Vater. Aber ersetzt werden konnte der Verlust nie wieder.
2. Mutter Emilie und Schwester Lottchen
Sie sind in meiner Erinnerung beide unzertrennlich voneinander. Mutter Emilie war Oberin des Diakonissenhauses. Sie wurde aber nie so genannt, sondern hieß einfach „Mutter”. Schwester Lottchen war die Probemeisterin, d. h. die Leiterin derjenigen jungen Schwestern, die zur Probe aufgenommen wurden. Mutter Emilie war Schwester des Kaiserswerther Diakonissenhauses, Schwester Lottchen hatte dort ihre Ausbildung erhalten. Darum behielten sie auch bis an ihr Ende ihre alte Kaiserswerther Haube. Auch die Sarepta-Schwestern hatten ursprünglich dieselbe Tracht. Da aber die Kaiserswerther Haube mit ihrer feinen das Gesicht einrahmenden Rüsche, die bei jeder Wäsche losgetrennt und wieder zusammengereiht werden mußte, sehr viel Arbeit kostete, so führte Vater nach dem Vorbilde des Diakonissenhauses in Neuendettelsau eine andere Haube ein, die weniger Arbeit brachte und die bis heute beibehalten wurde, obgleich auch sie Vater nie völlig praktisch genug erschien.
Mutter Emilie stammte aus einer schlesischen Pastorenfamilie. Sie hatte schon eine reiche Berufsarbeit hinter sich. Für uns Kinder war es von ganz besonderem Interesse, daß sie in Jerusalem und Bethlehem gewesen war. Denn sie hatte jahrelang auf den Orientstationen des Kaiserswerther Hauses gearbeitet, hatte auch die Maronitenverfolgung miterlebt und in der Gegend des alten Tyrus und Sidon die maronitischen Witwen und Waisen gepflegt, deren Väter von Drusen erschlagen worden waren.
Besonders in Jerusalem hatte sie vielen mit ihren medizinischen Kenntnissen geholfen und wurde von den Eingeborenen wie ein Arzt geehrt. Als sich während eines Aufstandes in Jerusalem das Gerücht verbreitet hatte, sie sei fortgeschleppt oder getötet, da drangen die Araber des Nachts in das Haus und ließen keine Ruhe, bis Schwester Emilie aufstand und sich ihnen zeigte, damit sie sich überzeugten, daß sie unversehrt und zu Hause geblieben sei.
Sie war eine ungemein tätige Natur von größter Schlichtheit des Wesens und auch der äußeren Erscheinung. An die geringste äußere Arbeit wandte sie die gleiche Sorgsamkeit wie an jede andere Aufgabe; und den Aschenhaufen im Hofe des Diakonissenhauses sah man sie eines Tages durchsuchen, um die noch brennbaren Kohlenschlacken herauszuholen.
Sie sprach nicht viel. Aber man fühlte, was sie dachte. Man konnte es auf ihrem Gesichte lesen.
Jung eintretende Schwestern nahm sie am liebsten mit in den Garten hinaus zum Bohnen- und Erbsen- oder Strauchobst-Pflücken. Dabei lernte sie sie kennen. – Es hatte sich ein Mädchen, das im Hause von Pastor Stürmer den Haushalt gelernt hatte, zur Diakonissin gemeldet. Mutter Emilie ging zur Pastorin Stürmer, und als sie deren Urteil gehört hatte, bat sie: „Nun zeigen Sie mir doch noch das Zimmer!” Sie fand das Zimmer in musterhafter Ordnung und sagte nur: „Gut, die kann kommen.”
In jeder Arbeit ging sie den Schwestern voran bei Tag und bei Nacht. Nichts entging ihrem sorgsamen Auge. In dem bitter kalten Winter des Jahres 1878 ging sie nachts von Bett zu Bett, um sich zu überzeugen, ob Kranke und Gesunde auch genügend zugedeckt seien. Den Schwerkranken und Sterbenden opferte sie immer wieder ihren Schlaf. Es gab keine Stunde der Nacht, in der nicht Mutter Emilie den Nachtwacheschwestern zu Hilfe eilte, um den Kranken und Sterbenden die letzte Liebe erweisen zu helfen.
Den genesenden Schwestern galt ihre besondere Fürsorge; und es war für sie eine lang ersehnte Wohltat, als es gelang, in einem einsamen, eine halbe Stunde entfernten Waldtal ein Ruhe- und Erholungsheim zu schaffen. Manchmal war sie schon um vier Uhr morgens dorthin unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen. Und um sechs Uhr, wenn die Schwestern zum ersten Frühstück kamen, war sie im Mutterhaus wieder in ihrer Mitte. „Ja, das war eine Mutter”, sagte noch kürzlich aus tiefstem Herzen heraus eine der alten Schwestern. Und wir, die wir wußten, was diese kleine, zarte Gestalt an innerer und äußerer Arbeit bei Tag und Nacht leistete, wunderten uns nicht, wenn ihr je und dann im Gottesdienst der Sareptakapelle vor Übermüdung die Augen zufielen. Aber das dauerte nur wenige Augenblicke. Dann feierte sie desto inniger und aufmerksamer den Gottesdienst mit.
Ich habe überhaupt aus jener Anfangszeit den Eindruck, daß man in Bethel die Hauptnahrung für die Arbeit der Woche aus dem Sonntagsgottesdienst holte und sich nicht auf das Lesen von Sonntagsblättern und andern Schriften verließ. Diese wurden nicht verachtet, waren aber doch in erster Linie für die bestimmt, die den Sonntagsgottesdienst nicht besuchen konnten. Auch wir Kinder nahmen ganz regelmäßig an diesen Gottesdiensten teil. Das gehörte einfach zur Sitte des Hauses.
Schwester Lottchen, die Probemeisterin, stammte aus Bielefeld und war in Kaiserswerth vor allem in der Kleinkinderarbeit ausgebildet worden. Aber ihrer Natur entsprach diese Arbeit eigentlich nicht. Wir Kinder haben uns immer ein klein wenig vor ihr gefürchtet. Nicht deswegen, weil sie uns einmal beim Naschen von Johannisbeeren im Diakonissengarten ertappte. Da nahmen wir Reißaus vor ihr und rechneten es ihr zeitlebens hoch an, daß sie über die Angelegenheit als über etwas Nebensächliches stillschweigend hinweggegangen war und es nicht zur Anzeige gebracht hatte. Aber sie war uns zu straff und zu kurz angebunden. Wenn sie Mittwochs beim Familienabend an der Tür stand und die Schwestern empfing, um ihnen die Plätze anzuweisen, dann taten uns jedesmal die jungen Schwestern ein klein wenig leid. Wir hätten ihnen nach des Tages Last und Hitze zu diesem höchsten Freudenabend, den wir Kinder in der Woche kannten, einen etwas herzlicheren Empfang gewünscht als den kurzen Händedruck und fast strengen Wink, mit dem Schwester Lottchen jeder einzelnen Schwester ihren Platz anwies.
Aber wer Schwester Lottchen hiernach eingeschätzt hätte, würde ihr unrecht getan haben. In Wirklichkeit trug sie die einzelnen Schwestern nicht minder stark auf dem Herzen wie Mutter Emilie. Ihr Gedächtnis war von einer geradezu staunenerregenden Treue und Genauigkeit. Sie reiste nie, kannte darum die einzelnen Stationen, auf denen die Schwestern arbeiteten, nicht aus persönlichem Augenschein. Aber sie holte sich bei jeder Schwester so eingehenden Bescheid über die Umstände, unter denen sie arbeitete, daß sie über jeden einzelnen Fall deutlich im Bilde war. Sie wußte genau über die Krankenhäuser, Pflegehäuser, Kleinkinderschulen Bescheid, in denen die Schwestern arbeiteten: ob sie praktisch eingerichtet waren oder nicht und darum der Schwester die Arbeit erleichterten oder erschwerten. Sie wußte, ob die Zimmer der Schwestern nach Süden oder nach Norden lagen, ob sich die Küche im Keller oder zu ebener Erde befand. Sie kannte jeden Zug, mit dem die Schwestern ankamen oder abreisten, wußte die Fahrpreise auswendig bis zu jeder einzelnen Station und legte das Fahrgeld in Papier eingewickelt vor jeder Abreise der einzelnen Schwester zurecht. Sie sorgte für die Kleidung und das Taschengeld der Schwestern, führte für jede einzelne Schwester ein besonderes Kontobuch und hatte auch ihre Urlaubszeiten im Kopf.