Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 19
Als Vater nach Münster kam, um mit dem Bischof die Anlage einer katholischen Kolonie zu beraten, meldete ihm der Kastellan, daß der Bischof mit dem Domkapitular zu tun habe und nicht zu sprechen sei. Nun war gerade der Domkapitular, wie Vater wußte, ein Gegner der Sache und machte dahin seinen Einfluß beim Bischof geltend. Vater hatte Stock und Hut bereits abgelegt, nahm sie nun aber von neuem zur Hand; denn es lag ihm nicht daran, mit dem Domkapitular zusammenzutreffen. Unterwegs fiel ihm auf, wie viele Leute ihn verwundert ansahen, als wüßten sie nicht recht, ob sie einen Bekannten oder Unbekannten vor sich hätten. Und als nun einer vor ihm den Hut zog und er den Gruß erwiderte, merkte er, daß er im bischöflischen Palais statt seines eigenen den breitkrempigen bequasteten Hut des Domkapitulars gegriffen hatte. Lachend kam er zurück, und lachend empfing ihn der Kastellan: „Der Herr Bischof warten bereits.” Solche kleinen Ereignisse und Verlegenheiten, die Vater in der Zerstreutheit öfter passierten, mußten mithelfen, größere Verlegenheiten zu beseitigen und die Herzen auf den heiteren Ton zu stimmen, in dem alle Dinge am besten gedeihen. Die katholische Kolonie kam denn auch wirklich zustande.
Die Asyle für die Wanderarmen waren errichtet. Sie standen jedermann offen. Niemand abzuweisen, der freiwillig kam, freiwillig auf jeden Schnapsgenuß verzichtete und freiwillig sich der Hausordnung unterwarf, das war von vornherein die Losung dieser Arbeiterkolonien. So war es also nicht mehr nötig, Bettelpfennige zu reichen und dadurch Bettler und Vagabunden großzuziehen. Jeder Arbeitslose konnte in die Kolonie gewiesen werden. Wie aber sollte die Kolonie erreicht werden, wenn sie ein, zwei, drei Tagereisen entfernt war? War das möglich, ohne auf dem Wege dorthin doch wieder zu betteln? War es nicht halbe Arbeit, Kolonien zu schaffen ohne die Zwischenstationen, die zu ihnen hinführten?
In der Tat: sollte dem Betteln gründlich gewehrt und dem Arbeitslosen ganze Hilfe zuteil werden, so mußten die Zwischenglieder geschaffen werden, die alle auf die Zentralstation, die Kolonie, zuliefen. Aber hier war es nicht nötig, neue Wege zu gehen. Es galt nur den Ausbau der alten durch Professor Perthes in Bonn bereits gebrochenen Bahn. Er hatte in Bonn im Jahre 1854 die erste christliche Herberge errichtet, die im Gegensatz gegen die wüsten Branntweinkneipen den Wanderarmen einen wirklichen Dienst erwies, ihnen gegen billiges Entgelt Quartier und Nahrung bot und den gänzlich Mittellosen Brot gegen eine Arbeitsleistung verabfolgte. Solche Herbergen waren inzwischen hin und her entstanden. Aber noch waren sie viel zu gering an Zahl und lagen zu weit auseinander. Darum kam es darauf an, diese Herbergen zu vermehren und durch kleine Zwischenstationen miteinander zu verbinden.
So entstanden zugleich mit der wachsenden Zahl der Herbergen zur Heimat die sogenannten Verpflegungsstationen. In kleineren und größeren Abständen, zwei, drei, vier Stunden voneinander entfernt, bildeten sie die einzelnen Etappen, die von Herberge zu Herberge und schließlich bis zur Kolonie führten. Gegen kurze Arbeit, die meist in Holzhacken bestand, wurde dem Wanderer die nötige Nahrung gereicht, sodaß er, mit dem Ausweis der Verpflegungsstation versehen, die nächste Etappe aufsuchen konnte.
Von dem Wohlwollen und dem sittlichen Ernst der einzelnen Gemeinden getragen, schossen diese Verpflegungsstationen vielfach wie Pilze aus der Erde. Und in demselben Maße, wie der Ausbau dieses Zwischennetzes fortschritt, hörte das Betteln auf. Wo es vorher gewimmelt hatte von fremden Leuten, war es jetzt still geworden. Die Polizei, die vorher mit Recht so manchmal ein Auge zugedrückt hatte, konnte jetzt scharf über die Ordnung wachen. Jeder ehrliche Arbeitslose setzte mit Ernst alle Kräfte daran, Arbeit zu finden. Fand er sie dennoch nicht, so machte er sich auf den Weg in die Kolonie; und nur das licht- und arbeitsscheue Gesindel drückte sich seitab in die Gegenden, wo es bisher weder Kolonien noch Herbergen noch Arbeitsstätten gab, bis auch dort das Überhandnehmen des Bettelns den Weg der barmherzigen Zucht lehrte.
Diese gesamten Aufgaben der deutschen Arbeiterkolonien, Herbergen zur Heimat und Verpflegungsstationen fanden ihr Organ in einer Monatsschrift, die unter dem Titel „Die Arbeiter-Kolonie”, später „Der Wanderer”, durch Jahrzehnte von Bethel aus durch Pastor Mörchen mit eindringender Umsicht herausgegeben wurde und jetzt von Pastor Lemmermann in Hildesheim geleitet wird.
Charakterisiert aber wurde Vaters Tätigkeit an den „Brüdern von der Landstraße” durch ein Lied, das kurz nach seinem Tode in der Münchener „Jugend” erschien:
Ein Kunde war ich, duff und fein,
Stets ohne Moos und Fleppe.
Ich kehrt’ in jedem Wirtshaus ein
Und stieg jedwede Treppe.
Als mir die Straßen, die ich ging,
Zum Hals herausgehangen,
Bin ich zum Vater Bodelschwingh
Nach Wilhelmsdorf gegangen.
Das war ein Kerl! Wie väterlich
Sprach er mir ins Gewissen,
Und „Bruder, Bruder” nannt’ er mich;
Das hat mich fortgerissen:
Zum Spaten griff die träge Hand,
Die sonst nur Klinken drückte,
Und grub und grub im Ackerland,
Und die Bekehrung glückte.
Nun ist der Patriarch zur Ruh’.
Wie einst mit allem Volke
Spricht er mit Petrus jetzt per „Du”
Auf einer Himmelswolke.
Der revidiert den Ankömmling
Gestreng und sagt die Worte:
„Die Fleppe stimmt, Herr Bodelschwingh,
Herein zur Herbergspforte!”
Johannes Trojan.
(Die weitere Entwicklung dieser Arbeit siehe in den Kapiteln „Freistatt”, „Das Wanderarbeitsstättengesetz” und „Hoffnungstal”.)
Der Bau der Zionskirche
Inzwischen hatte die Entwicklung in Bethel nicht stillstehen können. Die Provinzen Westfalen, Rheinland, Hannover, Schleswig-Holstein und Hessen-Nassau hatten zunächst von der Errichtung eigener Anstalten für Epileptische abgesehen und baten in steigendem Maße für ihre Kranken um Aufnahme. Da, wo in den übrigen Teilen Deutschlands Anstalten für Epileptische im Entstehen waren, mußte ihnen zu richtiger Entfaltung Zeit gelassen werden, sodaß, auch abgesehen von den genannten Provinzen, noch immer die Bitten um Aufnahme in Bethel drängten. Dazu kamen nach wie vor die Aufnahmegesuche aus dem Ausland.
Sollte Vater, so wie er es in der Arbeitslosen-Sache getan hatte, darauf hinarbeiten, daß jede Provinz, jeder größere Bundesstaat nach der Art von Wilhelmsdorf nicht nur eine eigene Arbeiterkolonie bekam, sondern auch eine eigene Anstalt für Epileptische? Er hat es nicht getan!
Die Arbeiterkolonien waren einfache Gebilde, in denen fast ausschließlich Landwirtschaft getrieben wurde. Eine Anstalt für Epileptische aber muß ein vielgliedriger Körper sein, wenn sie ihren Bewohnern gründlich dienen will. Die Arbeiterkolonien waren nur Hafenplätze, in denen wrack gewordene Schiffe sich herstellen und wieder ausstatten lassen konnten zur neuen Fahrt ins Leben, zur Rückkehr in den alten Beruf. Eine Anstalt für Epileptische aber sollte so viel wie irgend möglich dauernd jeden einzelnen Kranken an den Platz stellen, der seinen Kräften, Gaben und Neigungen entsprach. Das ist aber nur in einer Anstalt möglich, die ihrer Ausdehnung keine zu engen Grenzen setzt, sondern die verschiedensten Handwerke und Betriebe sich entfalten läßt und auf diese Weise die Kranken nicht auf einen zu engen Kreis der Beschäftigung beschränkt.
Wie sehr darum auch Vater auf der einen Seite, wo und wie er nur konnte, bei der Errichtung neuer Anstalten für Epileptische mithalf, sobald er sah, daß ein wirkliches Bedürfnis vorlag und ursprüngliche Liebe und urwüchsige Kraft zum Wohl der Epileptischen sich regten, wie z. B. bei den jungen Anstalten von Rastenburg in Ostpreußen, Rotenburg in Hannover, Hochweitzschen in Sachsen, so warnte er doch auf der andern Seite ernstlich, wo es sich um Gründungen handelte, die von vornherein nur für einen kleinen Kreis von Epileptischen in Betracht kamen. Denn nur zu leicht sahen sich diese kleinen Anstalten gezwungen, sich mit einem eng umschriebenen Kreis von Arbeitsgelegenheiten begnügen zu müssen. Dadurch aber war von vornherein der Geist der freudigen vielgestaltigen Arbeit beengt, ohne den das Leben des Epileptischen so gelangweilt und drückend ist.
So kam es denn, daß Bethel um der Barmherzigkeit willen die Pflöcke seiner Zelte weiter und weiter stecken mußte. Ein Handwerkshaus, ein Ackerhof kam zum andern. Für die epileptischen Frauen und Mädchen mußte mehr Raum gemacht und auch die Kinder mußten gesondert werden. Im Buchenwald, hoch wie der Berg Hermon alle andern Häuser überragend, entstand ein Haus für die epileptischen Pensionäre, wo Russen, Dänen, Finnen, Amerikaner und britische Untertanen friedlich mit den Deutschen zusammen wohnten. Und ähnlich war es unten im Tal, wo an der sonnigsten Stelle des Kantensieks für die epileptischen Pensionärinnen im Hause Bethanien eine freundliche Heimat geschaffen wurde.
Aber auch die Gründung von Wilhelmsdorf brachte für Bethel neue Pflichten. Der Regel nach sollte jeder nur ein Vierteljahr lang in Wilhelmsdorf bleiben, um dann andern Platz zu machen. Aber wohin, wenn diese Zeit abgelaufen war und sich kein sicherer Arbeitsplatz zeigte? Und selbst wenn er sich zeigte, so entstand doch die Frage, ob die Widerstandskraft schon genug gestählt sei, um allen Versuchungen im Strom der Welt standzuhalten. Bei denjenigen, die aus dem Arbeiter- oder Handwerkerstande kamen, gelang es immer noch am leichtesten, ihnen zur Rückkehr in den früheren Beruf zu verhelfen. Aber für die Kaufleute und Akademiker war die Schwierigkeit oft unübersteiglich. Darum mußte sich ihnen Bethel in seinen Arbeitsstätten, Schreibstuben und Schulen und mit all seinen übrigen Möglichkeiten als Übergangsstätte öffnen und Raum für sie machen.
So stieg und stieg die Zahl derer, die Sonntags in der Kapelle von Sarepta sich zusammendrängten, um dort die ewige Wahrheit als Arznei zu empfangen. Schließlich genügten die Räume schlechterdings nicht mehr. Für die Sommermonate hatte Vater oben im Buchenwalde Bänke aufschlagen lassen, die ganz nach Bedarf vermehrt werden konnten. Und die Gottesdienste hier oben in der Waldkirche unter Begleitung der Posaunen sind seitdem die besondere Freude der ganzen Gemeinde geblieben. Aber für die kalte Zeit und die Regentage mußte ein Ausweg gesucht werden.
Auf dem schmalen Bergrücken unterhalb der Waldkirche, der sich steil zum Kantensiek hinuntersenkt, wählte Vater den Platz für die neue Kirche. Hier lag sie ganz still und doch leicht erreichbar für alle Häuser, die zu Füßen des Berges in den beiden Tälern sich hinaufzogen oder in den Rand des Buchenwaldes gebettet waren. Am 16. Juli 1883, an demselben Tage, wo Wilhelmsdorf eingeweiht wurde, fand die Grundsteinlegung statt, zu der von Wilhelmsdorf her der Kronprinz kam. Es war mitten im strömenden Regen einer der größten Festtage, den die Gemeinde erlebte. Still hielt der Kronprinz während der Ansprache unseres Vaters im Unwetter aus. Unsern jüngsten noch nicht sechsjährigen Bruder geleitete er fürsorglich aus dem Regen unter einen schützenden Schirm. Selbst wehrte er ab, als man ihm einen Schirm überhalten wollte, und ließ sich, wie Vater später immer wieder den Kranken erzählte, für uns naßregnen. Kräftig klang seine damals noch gesunde Stimme zu jedem seiner drei Hammerschläge; „Christus der Grundstein – Christen die Ecksteine – Gott segne den Bau!” Und welche tief-menschliche Güte ging den ganzen Tag über von seinem Wesen aus! Es waren Stunden, die die Gemeinde unlöslich mit dem Hohenzollernhause verbanden, dem besten Königsgeschlecht, das die Weltgeschichte kennt.
Wenn übrigens immer wieder die Meinung auftaucht, als wäre zwischen Vater und dem Kronprinzen jede Grenze weggewischt gewesen, so ist das irrig. Wohl hatte Vater gewünscht, daß es bei der Mittagsmahlzeit, die der Kronprinz nach der Feier im Walde in unserm Hause einnahm, ganz familienmäßig zugehen und darum auch wir Kinder mit dem hohen Gast und den andern wenigen Geladenen an einem Tisch essen möchten. Aber die Einwände der Mutter hatten aus Gründen des Platzmangels gesiegt, und die Eltern hatten sich dahin geeinigt, daß wir Kinder im Nebenzimmer unsern besonderen Tisch haben sollten, aber bei geöffneter Tür. Von da aus haben wir es dann mit erlebt, in welch überaus herzlicher Weise unser hoher Gast den Eltern zugetan war, sie neckte und Vater „Friedrich” und „Du” nannte. Aber Vater blieb, wie in seinen Briefen, so auch jetzt im mündlichen Verkehr, bei dem respektvollen „Kaiserliche Hoheit”.
Im Herbst wurden dann die Fundamente der Kirche gelegt, und im frühesten Frühjahr – wenn ich mich recht besinne, war es der erste Februar – begann die Maurerarbeit. Es war nach des Kronprinzen Wunsch wirklich ein gottgesegneter Bau! Die Zeichnungen hatte Vater auch diesmal wieder selbst gemacht. Schon einen Sommer vorher hatte er manche Stunde seiner Ferienzeit dafür gewidmet. Nur die Stärke der Kreuzbalken, die den Dachreiter tragen sollten, ließ er der Sicherheit wegen von einem befreundeten Baumeister in Hannover berechnen. Hohe künstlerische Ziele steckte er sich bei dem Bau nicht. Es war ein sehr schlichter Raum. Aber von jedem Platze aus konnte man die Kanzel sehen, und die fünf kleinen Ruhekammern an den Enden und Ecken der Kirche, in die die Kranken während des Anfalls gebracht wurden, gaben ihm das besondere Gepräge eines Gotteshauses für Fallsüchtige.
Die tägliche Beaufsichtigung des Baues übergab er einem jungen Maurer, der, in Hamburg arbeitslos geworden, von Wilhelmsdorf gehört hatte und in achttägiger Wanderung, des Nachts immer in den Heuhaufen schlafend, geradeswegs nach Wilhelmsdorf gekommen war. Dort hatte er sich durchaus bewährt. Es steckte ein gewisser Stolz in ihm, und er behauptete, da er eine Zeitlang eine Baugewerkschule besucht hatte, sich Architekt nennen zu dürfen. Die andern aber nannten ihn statt dessen immer nur „Arg-im-Dreck”. Das nahm er aber nicht übel, sondern zeigte sich wirklich bei unermüdlichem Fleiß und gutem Humor als ein überlegener Geist, dem trotz seiner Jugend sich alles fügte, sodaß der Bau in großem Frieden und noch größerer Freude vorwärtsschritt.
Steine und Sand wurden zur Schonung der Pferde unten am Berge abgeladen. Quer den Wald hinauf bildeten die epileptischen Mädchen lange Ketten, in denen die Steine, von Hand zu Hand wandernd, auf den Bauplatz befördert wurden. Andere trugen in ihren Schürzen den Sand hinauf. Und nachmittags kamen die Jungen von Nazareth und die erwachsenen Kranken der Landstationen mit ihren Schiebkarren. Wer aber sonst hinaufstieg, um den Bau zu sehen, der nahm, Vaters Beispiel folgend, allemal in jeder Hand einen Backstein mit. Rotkehlchen und Rotschwänzchen nisteten in größter Zutraulichkeit in den Mauerlöchern, aus denen eben erst die Gerüststangen ein Stockwerk höher verlegt waren, und wurden auf das sorgsamste von den Maurern gehütet.
Ungezählte Gaben der Liebe wurden in den Bau hineingebaut, die Vater durch ein besonderes Kollektenblatt erbeten hatte. Wir Brüder schliefen damals nur mit den Schulbüchern unter dem Kopfkissen, um beim ersten Morgenerwachen die Schularbeiten zu erledigen. Denn nachmittags und abends ließ der Kirchbau beim besten Willen keine Zeit dazu.
Auf einen Glockenturm hatte Vater verzichtet. Nur oben in dem Dachreiter sollte ein bescheidenes Glöckchen hängen. Davon hatte der alte Missionar Lückhoff in Südafrika gehört und in seiner schwarzen Gemeinde für einen richtigen Glockenturm 2000 Mark gesammelt. Das war Vater eine ganz besondere Freude, und er prüfte sofort, ob sich der Plan ausführen ließe. Es zeigte sich, daß ein solcher größerer Turm viel zu teuer geworden wäre und die ganze Anlage der Kirche gestört haben würde. Aber in den Ecken neben dem Altarraum waren zwei Sakristeien vorgesehen, deren Mauern leicht in die Höhe gezogen werden und sich zu zwei kleinen Türmen zu beiden Seiten des Chors auswachsen konnten.
Ich sehe noch Vater, wie er auf dem freien Mauerwerk in zehn Meter Höhe ohne Schwindelscheu vor uns Kindern herlief, um die Mauern zu prüfen, ob sie wirklich die Glockentürme tragen konnten. Es zeigte sich, daß sie stark genug waren, und so stehen heute die beiden kleinen Türme da zum Zeichen der Gemeinschaft zwischen Europa und Afrika.
Die Einrichtung der Kirche wurde zum größten Teil in den Werkstätten der Epileptischen hergestellt. Am 26. November war der Bau zur Einweihung vollendet. Nach dem 126. Psalm „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird”, der längst zum Lieblingspsalm der Kranken geworden war, und entsprechend der hohen Lage des alten Zionsberges bekam die Kirche den Namen Zionskirche. Prinz Albrecht von Preußen, der spätere Prinzregent von Braunschweig, damals als Großmeister des Johanniter-Ordens mit Vater in mannigfacher Beziehung, schloß die Tür auf mit den Worten: „Ich öffne die Tür mit dem Wunsche, daß alle, die in dieses Haus eingehen, Frieden suchen und alle, die ausgehen, Frieden gefunden haben.” Den Mittelpunkt der Feier bildete naturgemäß Vaters Ansprache, und man kann sich denken, wie gerade bei dieser Gelegenheit sein Herz überfloß von Dankbarkeit gegen Gott und Menschen.
Bei der Nachfeier im Diakonissenhaussaal überbrachte der Generalsuperintendent Nebe im Auftrage der Theologischen Fakultät Halle Vaters Ernennung zum Doktor der Theologie. Wir Kinder waren sehr stolz; Vater aber hat nie von dem Titel Gebrauch gemacht, ebensowenig wie von seinen Orden. Nicht aus Geringschätzung. Er konnte sich gelegentlich redlich für andere bemühen, wenn er wußte, daß jemand mit solch einer Auszeichnung eine Freude und Ermunterung zuteil wurde. Aber für ihn selbst war dies Gebiet menschlicher Anerkennungen überwunden. Er bedurfte ihrer nicht, weder für seine Person noch für seine Arbeit. Nur das Eiserne Kreuz, das ja nicht eigentlich in die Reihe der Orden gehört, legte er bei besonderen Vaterlandsfesten und bei Besuchen im königlichen Hause an.
Der junge Bauführer der Kirche aber verdiente sich bei dem Bau seine Sporen. Er kehrte in seine Vaterstadt zurück, und nach Jahr und Tag fanden wir seinen Namen an der Spitze eines gemeinnützigen Bauunternehmens.
Arbeiterheim
„Es ist ein schweres Unrecht, wenn man den kleinen Mann, der doch wie wir mit beiden Beinen auf der Erde steht und stehen muß, nur immer auf das Jenseits vertröstet.”
F. v. B.
Bielefeld war rasch gewachsen. Neben die alte Leinenindustrie waren andere Industrien getreten, die bald die Vorherrschaft übernahmen. Mit dem schnellen Wachstum, das nach außen alle Lebensverhältnisse ergriffen hatte, hatte das Wachstum der inneren Kräfte nicht Schritt gehalten, weder bei Arbeitgebern noch bei Arbeitnehmern. Die Stände rückten immer weiter auseinander. Die Arbeitgeber behaupteten ihre alte uneingeschränkte Stellung, und ihnen gegenüber drängten die Vortruppen der Revolution heran. Es kam zu immer erregteren sozialdemokratischen Versammlungen. Einige Male nahm Vater daran teil. Er glaubte zum Frieden oder wenigstens zur Verständigung helfen zu können, stieß aber auf kühle Ablehnung, zum Teil auf bitteren Hohn. Nach dem zweiten oder dritten Versuch verzichtete er endgültig auf diesen Weg. Er hat seitdem nie wieder irgend eine parteipolitische Versammlung besucht, zu welcher Richtung sie sich auch bekannte.
In der Arbeiterschaft aber hatte sich zunächst der Verdacht festgesetzt, daß Vater zu den Reaktionären gehöre, die auch die berechtigten Ansprüche der Arbeiter hintertrieben. Die Diakonissen von Sarepta, die in jahrelanger treuer Arbeit an Kindern, Kranken und Armen der Stadt, namentlich aus den Kreisen der arbeitenden Bevölkerung, gedient hatten, wurden jetzt auf den Straßen als geheime Agentinnen Bodelschwinghs öffentlich beschimpft.
Im Winter 1886 brach in Bielefeld der erste größere Streik aus. Die Erbitterung wuchs in solchem Maße, daß es zu Gewalttätigkeiten kam und der Belagerungszustand erklärt werden mußte. Mitten in die Erregung der Gemüter wurde die Nachricht geworfen, Vater hätte der Fabrik, in der der Streik entstanden war, durch Kolonisten von Wilhelmsdorf heimlich Hilfe geschickt. Die Sache war völlig aus der Luft gegriffen, wurde aber geglaubt, und eine Flutwelle von Zorn und lange verhaltenem Grimm warf sich auf Bethel. Nun mußte auch das friedliche Anstaltsgebiet in den Belagerungszustand einbezogen werden. Militär-Patrouillen umkreisten bei Tag und Nacht die Anstaltshäuser. In unsern Garten wurde ein Schilderhaus mit ständigem Wachtposten und geladenem Gewehr gesetzt. Die Chorfenster der Zionskirche, die vom alten Kaiser Wilhelm, dem Kronprinzen und dem Prinzen Wilhelm, dem späteren Kaiser, geschenkt waren, wurden durch Drahtnetze gegen Steinwürfe geschützt.
Da erscholl eines Nachts Feuerlärm: „Eben-Ezer brennt!” Es war das alte Bauernhaus unten im Tal, die Wiege der Anstalt für Epileptische. Nicht das Haupthaus brannte, sondern ein angebauter Schlafsaal, von blöden epileptischen Männern bewohnt, dessen Dach sich tief an den Berghang lehnte und durch böswillige Hand mühelos von ebener Erde aus angesteckt werden konnte. Die Feuerwehr war schnell zur Stelle, aber ebenso schnell sammelte sich rings um die Brandstelle her eine Schar wilder Gestalten, meist junger Burschen, die dem Schauspiel zusahen. In das Schreien der Kranken, die zum Teil nur mit Gewalt aus dem brennenden Hause getragen werden konnten, mischte sich das Johlen jener Zuschauer, in denen die rohe Leidenschaft entfesselt war. In plattdeutscher Sprache hörte man den Ruf: „So ist’s recht, daß Bodelschwingh brennt; warum hat er uns aus unsern Häusern vertrieben!”
Drei Tage daraus brannte es zum zweiten Male, diesmal in dem Ackerhofe für Epileptische, Hebron. Auch diesmal blieben alle Nachforschungen nach der Ursache des Brandes unaufgeklärt; nur daß alles darauf hindeutete, daß in beiden Fällen ein heimlicher Racheakt vorlag.
Aber Vater blieb jedes Gefühl der Bitterkeit fern. In seinen Ohren tönte jener nächtliche Ruf fort: „So ist’s recht, daß Bodelschwingh brennt; warum hat er uns aus unsern Häusern vertrieben!” Wie ein Feuerbrand war dieses Wort in seine Seele gefallen und hatte gleichzeitig wie ein Blitz ein dunkles Gebiet erhellt, das nun als ein neues weites Arbeitsfeld vor seinem Auge lag: das Feld der Wohnungsfrage.
Worin lag das Berechtigte in jenem nächtlichen Anklageruf? In der Tat war im Hinterlande der Anstalt eine Besitzung nach der andern im Laufe der Jahre aufgekauft worden. Nicht nur die Eigentümer dieser Besitzungen waren fortgezogen, sondern mit ihnen auch die Mieter, die teils mit den Besitzern im selben Hause, teils in den kleinen Kotten der aufgekauften Bauernhöfe gewohnt hatten. Niemand, auch Vater nicht, hatte sich darum gekümmert, wo sie geblieben waren. Das fiel ihm jetzt wie eine schwere Anklage auf die Seele. Denn immer, wenn er auf Bitterkeit und Feindschaft stieß, fragte er zunächst nicht nach des andern Schuld, sondern nach seiner eigenen.
Er überdachte, wie alle diese kleinen Besitzer und Mieter sich früher einer Wohnung abseits der großen Stadt hatten erfreuen können und dazu eines Stückes Garten- und Feldlandes, wo Mann, Frau und Kinder miteinander die Früchte für sich und ihr Kleinvieh ziehen und den Feierabend und Sonntag in Gottes freier Schöpfung zubringen konnten. Jetzt waren sie durch den Verkauf in die Stadt gedrängt, ohne Licht und Luft für Weib und Kind und ohne das liebgewordene Stück Land, aber mit wachsender Verbitterung im Herzen gegen die „Frommen”, die für die Kranken sorgten, aber die Gesunden darüber verkümmern ließen. Was Wunder, wenn sich diese Verbitterung Luft machte!
Aber das war doch nur ein kleines Stück des weiten Gebietes, das durch jenes Wort in helles, lebendigstes Licht gerückt worden war. Das ganze Wohnungselend der Großstädte tauchte vor ihm auf. Wie viel edles deutsches Familienleben war hier in staubige Straßen, in hohe, unruhige Mietskasernen zusammengepfercht! Ohne Sonne, ohne Vogelsang, fern von Wald und Feld mußten hier die Eltern ihre Kinder aufwachsen sehen, während dicht vor den Toren der Städte sich das weite Land dehnte, wo ungezählte Familien ihr eigenes Heim hätten finden können. „Man hat gänzlich vergessen,” schrieb Vater, „daß, seitdem wir Pulver und gezogene Geschütze haben, die Zeiten längst vorüber sind, in denen man die Menschen, um ihnen Schutz zu gewähren, in feste Städte zusammenpressen mußte.”
Aber was hatte überhaupt den deutschen Arbeiter in die Stadt gedrängt? Die Erinnerung an seine Zeit als landwirtschaftlicher Eleve und Inspektor in Hinterpommern tauchte vor Vaters Augen auf. Schon damals waren es vielfach gerade die Gutsarbeiter gewesen, die, sobald sie sich genügend erübrigt hatten, die Abhängigkeit von der Gutsherrschaft aufgaben und, von der Sehnsucht nach Selbständigkeit getrieben, entweder nach Amerika gingen oder in die Großstädte zogen. Seitdem hatte dieser Zug vom Lande in die Stadt immer mehr zugenommen. Statt daß Bismarcks Wort aus einer seiner ersten Reden: „Die großen Städte müssen zerstört werden” – im rechten Sinne verstanden – in die Wirklichkeit umgesetzt worden wäre, hatte man die Städte immer mehr zu schrecklichen Wasserköpfen anwachsen lassen, die den ganzen Volkskörper verunstalteten, dessen Glieder gleichzeitig durch die beständige Abwanderung vom Lande in die Stadt immer mehr verkrüppelten.
Dazu kam die zunehmende kirchliche Verwahrlosung in den großen Städten. Vater ließ sich nie erbittern, aber hier haben wir ihn doch manchmal mit tiefen Gefühlen des Schmerzes kämpfen sehen im Gedanken an die schmerzlichen Versäumnisse der Kirche. Statt mit dem Wachsen der Großstädte Schritt zu halten, überall schnell und im voraus für geeignete Plätze für Kirchen oder noch lieber einfache Bethäuser zu sorgen, statt kleine Gemeinden einzurichten, in denen noch ein persönliches Verhältnis zwischen Pastor und Gemeindegliedern möglich gewesen wäre, hatte man diese Riesengebilde entstehen lassen, Gemeinden von oft vielen Zehntausenden von Seelen, die keine Gemeinden mehr waren, sondern nur noch Pflegestätten für einzelne.
Aber nie hielt sich Vater lange bei solchen Anklagen auf. Immer wandte er sich schnell zu dem, was er selbst versäumt habe, was er selbst wieder gut machen könne. Und hier mußte er, der sich so manchmal über die Kurzsichtigkeit entsetzt hatte, mit der man früher in Hinterpommern die Bauernhöfe aufgekauft hatte und die Gutsarbeiter ihrer Wege hatte ziehen lassen, ohne zu fragen, wohin – jetzt mußte er sich ehrlicherweise gestehen, daß er selbst das gleiche hatte geschehen lassen; denn was hatte er für die Leute getan, die ihre Besitzung und Wohnung seinen Kranken eingeräumt hatten? Nichts. Aber was konnte er jetzt tun?
Vaters Studierstubenfenster lag nach dem Garten und den Bergen hinaus. Von seiner Arbeit fiel sein Blick auf diese Berge und in unsern Garten. Welche Freude hatte er immer an seinen Obstbäumen, die er aus Dellwig mitgebracht hatte! Schon im frühesten Frühjahr suchte er nach den treibenden Blütenkolben. Im Garten, vor seinen Augen, hatte er uns ein Turnreck aufrichten lassen und uns die ersten Übungen daran selbst vorgemacht; dicht unter seinem Fenster hatten wir unsern Kaninchenstall und unsere Räuberhöhle angelegt; und im Giebel an der andern Seite girrten die Tauben, die des Morgens, wenn wir in der kleinen Veranda frühstückten, uns auf Schultern und Armen saßen und uns die Bissen aus dem Munde holten. Das alles hatte er und hatten wir. Aber der Arbeiter wohnte in der engen Stadt! Wie oft hat er sich und uns diesen Gegensatz vor Augen gemalt!
Über den Garten hinweg aber ging der Blick auf die Höhen des Teutoburger Waldes, an deren Abhang die Ackerbürger von Bielefeld und seiner Vorstadt Gadderbaum ihre Gärten und Felder hatten. Dort oben war auch der schöne neue städtische Friedhof entstanden, und links davon, vom Friedhof auf der einen Seite, von Buchen- und Tannenwald auf zwei andern Seiten eingeschlossen, aber mit freier, weiter Aussicht nach Osten hin, lag ein Grundstück von etwa sechs Morgen Größe. Darauf blieb Vaters Blick hängen. Diesmal konnte er nicht warten, bis von irgendwoher ein Angebot kam; denn jetzt galt es, verloren gegangenes Gebiet zurückzuerobern. Freund Bökenkamp, der stille, vorsichtige, zuverlässige Mann, tat die entscheidenden Schritte, und bald war das Grundstück oben am Berge gekauft. Damit war neuer Heimatboden gewonnen für Heimatlose, Vertriebene, Verbitterte.
Das Grundstück wurde in acht gleich große Bauplätze eingeteilt, und für jeden Platz entwarf Vater je ein Haus, für jedesmal eine Familie bestimmt, jedoch groß genug, daß oben in den Dachzimmern noch die erwachsenen Kinder oder, wenn eins der Kinder sich verheiratete und die Besitzung übernahm, die alternden Eltern Wohnung finden konnten. Dann wurde der Platz öffentlich ausgeschrieben. Jeder Arbeiter konnte sich bewerben. Nach seiner Partei oder politischen und kirchlichen Stellung wurde nicht gefragt. Bedingung war nur, daß er eine selbstersparte Summe von 500 Mark anzahlen konnte. Darin sollte die Bürgschaft liegen, daß man es mit einem nüchternen, fleißigen Mann zu tun habe, der auch in Zukunft regelmäßige Abzahlungen leisten würde.
Hatte man schon von unserm Hause aus den Eindruck, wie schön es dort oben sein müsse, so zeigte sich, wenn man oben stand, die Lage der Grundstücke vollends als unvergleichlich. Es meldeten sich alsbald mehr Bewerber, als berücksichtigt werden konnten. Das Los mußte entscheiden. Unter die acht, zu deren Gunsten die Entscheidung fiel, wurden abermals durch das Los die einzelnen Plätze verteilt. Doch war keiner gezwungen, den für jedes einzelne Grundstück vorhandenen Bauplan anzunehmen. Er konnte daran je nach Wunsch und Bedürfnis ändern. Man wollte helfen und raten, aber keine Gewalt antun. Sobald ein Drittel des Gesamtwertes abgezahlt war, ging das kleine Besitztum an seinen neuen Eigentümer über.
Was aber wurde aus den übrigen Bewerbern, die nicht hatten berücksichtigt werden können? Sie waren jetzt diejenigen, die vorwärts drängten. Ein Aufhalten, ein Stillstehen wäre Unbarmherzigkeit gewesen. So kam es zum Ankauf des zweiten Grundstückes, des dritten u. s. f., und in allmählichem Fortschreiten legte sich ein großer Kranz von Arbeiterheimstätten in näherer oder weiterer Entfernung rings um Bielefeld.