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Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 18

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Wachstum nach außen

Im Laufe der Jahre richteten sich immer mehr Augen und Hoffnungen nach Bethel, und Familien sowohl wie Gemeinden baten in immer wachsendem Maße um Aufnahme ihrer Kranken. Aus allen Teilen Deutschlands kamen die Bitten, bald auch aus andern Ländern. Immer enger und enger wurden die Betten zusammengeschoben. Das Mutterhaus Sarepta stellte an Raum zur Verfügung, was es nur irgend entbehren konnte. Aber schließlich mußte doch an Erweiterung gedacht werden. Sie vollzog sich in den bescheidensten Formen.

Zunächst wurde für die epileptischen Handwerker, die im Keller des Hauptgebäudes ihre Handwerksstuben hatten, ein Schuppen errichtet mit zwei Räumen, einem für die Anstreicher, einem für die Tischler. Dann kamen die Schuster an die Reihe, die Schmiede, die Buchbinder, die Klempner. Sie alle behielten ihr Quartier im Hauptgebäude. Nur ihre Werkstätten wurden in unmittelbarer Nähe in einem kleinen Bau aus Tannenfachwerk untergebracht. Die Bäcker waren die ersten, für die eine eigene Heimat geschaffen wurde. Unter ihrem Bäckermeister Meise zogen sie in Bethlehem, dem „Brothaus”, ein, das zugleich einer Reihe von epileptischen Kranken gebildeter Stände Unterkunft bot.

Erst für das Diakonissenhaus, dann für die Epileptischen entstanden kleine Ökonomien und damit notwendige und hochwillkommene Arbeitsgelegenheiten für die Epileptischen in Stall, Feld und Garten. Zu den Gärten, die rings um die Häuser her lagen und von weiblichen und männlichen Kranken bestellt wurden, kam eine besondere Gärtnerei hinzu, in der Samen und junge Pflänzlinge und die Blumen für die Blumenbeete von den Epileptischen gezogen werden konnten.

So reihte sich in allmählicher Entwicklung eins ans andere. Kein vorgefaßter Plan lag dieser Entwicklung zugrunde, kein weitausschauendes Programm. Keiner zog, keiner drängte vorwärts. Lediglich die Kranken selber, die um Aufnahme baten, waren es, welche drängten und schoben. Es hätte schmerzliche Stauungen und Störungen gegeben, wenn man solchem Schieben und Drängen nicht nachgegeben hätte. Um so freudiger und zuversichtlicher konnte darum auch Vater seine Stimme erheben und durch das ganze Vaterland um Hilfe bitten für die Not, die aus dem ganzen Vaterlande heraus sich vor die Tür von Bethel legte. Und die Hilfe blieb nicht aus. In dem Maße, als die Erweiterungen notwendig wurden, erweiterte sich auch der Kreis mithelfender Freunde.

Der Besitz an Grund und Boden war ursprünglich nur klein gewesen. Und der größte Teil davon bestand in steilen Berghängen, die mit Buchen bestanden waren und zur Anlage von Neubauten sich schwer eigneten. Aber Schritt um Schritt, mit der wachsenden Notwendigkeit der Ausdehnung, boten die anliegenden und umliegenden Besitzer ihr Eigentum an Wohnstätten und Ländereien zum Verkauf an.

In Wirklichkeit war es vielfach ihr Eigentum nicht mehr. Sie waren durch Überschuldung zum Verkauf genötigt. „Wir wohnen”, sagte Vater einmal, „zum großen Teil auf Land, das uns der Schnaps angeschwemmt hat.” In der Tat herrschte damals im Hinterland der Anstalt die Alkoholnot in erschreckendem Maße. Der Wohlstand ging zurück, die Verschuldung führte zur Überschuldung und zum Zwangsverkauf. Teilweise waren es grauenhafte Umstände, unter denen die früheren Besitzer dem Alkohol erlagen. Einen fand man erschossen in seinem Garten; ein anderer hatte sein Jagdgewehr in seinem Wald an einen Baum gebunden und mit Hilfe einer Schnur den Hahn gegen sich selbst abgefeuert. Einem dritten hatte seine Frau in der Not das Geld versteckt, um ihn am Fortsaufen zu hindern. Die Frau lag krank zu Bett. Der Mann drohte mit Gewalt. Aber die Frau blieb fest. Da schleppte der unglückliche Säufer eins seiner eigenen Kinder an das Bett der Mutter und drückte dem Kind so lange den Hals zu, bis es blau wurde und die gequälte Mutter aus Angst um ihr Kind nachgab und das Geld herausrückte. So waren es Stätten des Fluches, die rings um die Anstaltshäuser her lagen und die sich nun in Segen verwandeln sollten.

Trotz der großen Nähe der in stetiger Entwicklung begriffenen Stadt Bielefeld blieben die Preise für die zum Ankauf angebotenen Besitzungen in erträglichen Grenzen. Eine starke Konkurrenz fiel darum fort, weil man die Epileptischen fürchtete und sich nicht in ihrer Nähe ansiedeln wollte. Dennoch blieb es lange Zeit für die Bürger Bielefelds ein von ihrem Standpunkt aus berechtigter Schmerz, daß ihnen so Schritt um Schritt das langgestreckte nach Süden gerichtete Tal als Stadtgelände entzogen wurde.

Schon gleich nach der Entstehung der Anstalt für die Epileptischen war unter Führung eines angesehenen Großgrundbesitzers eine von vielen einzelnen Namen unterschriebene Erklärung erschienen, die gegen die Ansiedlung fallsüchtiger Kranker in der Nähe der Stadt Einspruch erhob. Ihr Anblick müsse die Spaziergänger erschrecken, und die Häuser, gerade am Eingang in das Tal des Kantensieks und Sandhagens gelegen, würden die Entwicklung der Stadt hemmen. Um nicht durch seinen Widerstand die Stimmung noch mehr zu reizen, erklärte der Vorstand der jungen Anstalt sich mit einer Verlegung einverstanden unter der Bedingung, daß ein ähnlich günstiges Grundstück in größerer Entfernung von der Stadt angeboten und die Mittel dargereicht würden zur Errichtung von Bauten, die dem bisherigen Krankenbestand entsprächen. Das Anerbieten wurde nicht angenommen, und der Widerstand erlosch im Laufe der Jahre.

Jetzt sieht man Sonntag für Sonntag die Wege der Anstalt von zahllosen Spaziergängern der Stadt Bielefeld benutzt, die nichts von Scheu vor den Kranken wissen. Gerade die Nähe der Stadt mußte mit dazu beitragen, den Kranken den Aufenthalt in der Anstalt lieb zu machen. Fernab in großer Einsamkeit, ohne etwas zu merken von dem Pulsschlag der Zeit, hätten doch manche das Gefühl haben können, dauernd aus der menschlichen Gesellschaft verbannt zu sein.

Die Zeichnungen für die kleinen Werkstätten, für die Umbauten der neuerworbenen Besitzungen und auch für die Neubauten machte Vater der Regel nach selbst. Vielfach benutzte er die Abende dazu. Vor dem Zubettgehen saß dann wohl noch eins von uns Kindern auf seinem Schoß, wir andern standen herum, und er zeigte uns auf einem abgerissenen Stück Papier, wie sich das alte Haus umbauen ließe oder wie das neue am praktischsten angelegt würde. Der erste Entwurf wurde dann immer wieder neu durchdacht und mit dem jetzt noch lebenden, nun hochbetagten Maurermeister Karmeier besprochen, bis der Bauplan schließlich von letzterem in genaue Zeichnung gesetzt und ausgeführt wurde. Die damalige Baupolizei kannte noch nicht die scharfen Vorschriften von heute, und so konnten oft mit sehr geringen Mitteln aus den alten Häusern, die von den bisherigen Besitzern geräumt waren, höchst bescheidene, aber doch oft auch höchst gemütliche Heimstätten für die Kranken errichtet werden.

Sehr bescheiden blieben auch die Neubauten jener Anfangszeit. Vater stand immer unter dem Eindruck großer kommender Ereignisse. „Kinder,” sagte er öfter, „was werdet ihr noch erleben!” Er rechnete nicht mit einem Weltbestehen von unbegrenzter Zeit. „Es wird nicht mehr so lange dauern, dann kommt der Herr wieder.” Aber der Ankauf einer kleinen Ziegelei, die am Rande des Anstaltsgebietes lag, brachte es dann doch mit sich, daß der Bau von massiven Häusern sich wohlfeiler stellte als die Fachwerkbauten, die schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit große Ausbesserungen nötig machten.

Waren die Häuser glücklich gerichtet oder vollends zum Einzug hergestellt, so gab es jedesmal ein kleines Fest. Das Richtfest der Bäckerei ist das erste, das ich mitfeierte. Es ist mir in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. Das Richtelied, von Vater verfaßt und in Reime gebracht, bestand in einem Zwiegespräch zwischen Bauherrn und Zimmergesell. Vater als Bauherr stand unten, der Zimmergesell oben auf dem frischgelegten Gebälk des Baues. Und zwischen beiden flogen Frage und Antwort hinauf und herunter. Daran schloß sich dann in der Backstube, die unten in dem bereits fertig gemauerten Keller lag, das Richtessen. Die epileptischen Bäckergehilfen mit ihrem Meister Meise und seiner Familie, die Maurer und Zimmerleute und die geladenen Gäste saßen im engen Raum fröhlich beisammen. Lieder und Ansprachen wechselten miteinander. Es war über alle Maßen gemütlich. Aber was für mich die Hauptsache war, es gab belegte Butterbrote und Semmeln, so viel jeder nur wollte, und – das war die Krone – für jeden ein Fläschchen Bier, auch für die Epileptischen. So harmlos ging es damals noch zu.

Neue Aufgaben

Die Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf

Der siegreiche Feldzug von 1870/71 hatte einen übergroßen Tatendrang auf wirtschaftlichem Gebiet im Gefolge. Die französischen Goldmilliarden, die in das Land geströmt waren, hatten viele Augen geblendet. Es waren Gründungen aus der Erde gestampft worden, die sich nicht halten konnten. Auf den Aufschwung folgte ein großer Rückschlag. Viele Arbeitskräfte, die in die neu entstandenen Fabriken geströmt waren, wurden brotlos. Sie in die Verhältnisse, aus denen sie gekommen waren, zurückzuverpflanzen, gelang nur schwer. Eine große Zahl von ihnen bevölkerte die Landstraßen. Es waren meist die körperlich und moralisch Schwächsten, die am ersten entlassen wurden. Nun zogen sie von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt, suchten nach Arbeit, aber fanden sie nur gar zu selten. Denn überall stockte Handel und Wandel.

Man nannte dies fahrende Volk „reisende Handwerksburschen”. Aber das, was der ursprüngliche Name damit meinte, waren sie nicht. Der alte Handwerksgeselle, der seine lange Lehrzeit hinter sich hatte, wanderte nach Handwerkerbrauch. Er mußte, wollte er sich in seiner Heimat als selbständiger Meister niederlassen, nicht nur die Welt gesehen, sondern vor allem neue Erfahrungen für sein Handwerk gesammelt haben. Er schnallte also sein Felleisen um und reiste statt mit der viel zu teuren Post, die seine kleinen Ersparnisse schnell verschlungen haben würde, an seinem Wanderstab durchs Land, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Wo er in seinem Handwerk einen leeren Arbeitsplatz fand und einen Meister, der ihm gefiel, da blieb er, oft kurz, oft lang, bis er weiterzog und schließlich, als Handwerker und als Mensch in seinen Erfahrungen bereichert, die Schritte heimwärts lenkte.

Dabei war es Sitte, daß der Handwerksbursche überall „das Handwerk grüßte”, d. h. bei den Meistern, die mit ihm eines Handwerks waren, um Zehrgeld vorsprach, damit er in der Gesellenherberge nicht seine kleine Barschaft zu verzehren brauchte, sondern von seinem Gesellenverdienst für den ersten Anfang als Meister einen kleinen Sparpfennig von der Wanderschaft mit heimbringen konnte. Wie der Student auf den Universitäten, so hatten auch diese wandernden Handwerksstudenten ihre besonderen Ausdrücke, deren Sinn nicht jeder verstand, die aber unter den Handwerksburschen selbst gang und gäbe waren. Wie beim Studenten, so hieß auch bei ihnen das Geld Moos, das Ausweispapier, das ihr Handwerk, ihre Heimat usw. bescheinigte, hieß Flebbe, usw.

Aber je mehr das Handwerk zurückging und die Industrie aufkam, je mehr verschwand auch der eigentliche Handwerksbursche von den deutschen Wanderstraßen. Aus dem kleinen Rinnsal der wandernden Handwerksgesellen wurde ein immer höher anschwellender Strom von Arbeitslosen jeglichen Gewerbes, die Arbeit suchend Land und Stadt überzogen. Fanden sie keine Arbeit, so waren die kleinen Ersparnisse, die sie mit auf die Wanderschaft genommen hatten, bald verbraucht. Wovon sollten sie leben? Sie klopften an die Türen und baten um milde Gaben. Der eine gab Essen, der andere ein Butterbrot, der dritte einige Pfennige, der vierte auch wohl, wenn die Kleidung zerschlissen war, ein Paar Schuhe, ein Paar Strümpfe oder ein Hemd, eine Jacke oder eine Hose. War es Sommertag, so schlief man bei „Mutter Grün”, war es aber kalte Jahreszeit, so mußten den Tag über so viele Pfennige zusammengesucht werden, daß es zum Schlafgeld in der Herberge reichte.

Auch an die Tür des Pfarrhauses von Bethel flutete dieser Strom. Oft schöpfte unsere Mutter das letzte aus der Mittagsschüssel heraus, und wir trugen es zu dem Wandersmann, der sich draußen gemütlich auf der Stufe des kleinen Windfangs niederließ und sein Mittagbrot verzehrte. Oft brachte auch Vater selbst den Teller hinaus, um den Mann kennen zu lernen und sich nach seinen Verhältnissen zu erkundigen, und Mutters mitleidiges Herz holte manches alte Kleidungsstück hervor, um dem abgerissenen Mann zu helfen.

Nun geschah folgendes: Eines Tages kam Vater ins Diakonissenhaus hinüber und fand da wieder einen solchen „armen Reisenden”, wie sie sich selbst zu nennen pflegten, dem gerade eine der Schwestern ein Hemd gab, das er flehentlich erbeten hatte. Das Gesicht des Mannes kam Vater bekannt vor, und es stellte sich heraus, daß derselbe Mann wenige Tage vorher auch bei uns gewesen war und ebenfalls ein Hemd bekommen hatte. Wo war das erste Hemd geblieben? Und wo hatte sich der Mann während der Zwischenzeit aufgehalten? Das gab Vater Anlaß, der ganzen Frage der „armen Reisenden” näher nachzuforschen.

Es ergab sich ihm nun, daß viele von ihnen das Reisen längst aufgegeben und statt dessen in Bielefeld ihr Standquartier aufgerichtet hatten. Sie waren des Wanderns müde geworden, weil an andern Orten ja ebenso wenig Arbeit zu finden war wie in Bielefeld auch. So waren sie geblieben und nahmen nun bald diesen, bald jenen Stadtteil, bald auch einen der äußeren Bezirke für ihre Streifzüge vor, um sich für den Tag das nötige Essen und für die Nacht das nötige Schlafgeld zu verschaffen.

Je tiefer Vater in die Sache eindrang, desto düsterer wurde das Bild, das sich ihm entrollte. Ein ganzes Heer von Gewohnheitsbettlern tauchte vor seinen Augen auf, die mit größter Schlauheit die Mildtätigkeit und Gutmütigkeit der Bewohner ausnutzten und wahre Schätze von Lebensmitteln und Kleidungsstücken durch die beweglichsten Reden erpreßten. Oft konnten sie nur das wenigste davon für sich selbst verwenden. Alles übrige wurde an Kollegen, die im Betteln weniger geschickt waren, für ein Spottgeld verkauft oder aber in der Herberge gegen Schnaps umgesetzt. Vater stellte in der Nähe von Bielefeld solch eine berühmte Schnapsherberge fest, in der der Wirt mehrere Schweine mästete allein mit den Butterbroten, die seine Gäste bei den gutmütigen Landbewohnern zusammenkollektiert hatten und die sie nun, außerstande, sie zu verzehren, bei ihm gegen den Branntwein eintauschten.

Es zeigte sich ferner, daß die Zahl der Reisenden, die an unsere Tür klopften, verhältnismäßig gering war. Unser Haus lag abseits der großen Heerstraße. Wer aber an den Hauptverkehrswegen wohnte, der stand unter dem Eindruck einer wirklichen Landplage. So war es nicht nur in Bielefeld, so war es mehr oder weniger überall. Die Kinder einer Witwe in Gütersloh hatten ein kleines Papphäuschen geschenkt bekommen, das in Form der Pfefferkuchenhäuschen statt mit Kuchen und Süßigkeiten ganz mit Ein- und Zweipfennigstücken beklebt war. Es waren im ganzen 52 Geldstücke. Nun schlug die Mutter den Kindern vor, sie sollten, statt das Geld für sich zu verwenden, jedem armen Reisenden, der an ihre Tür klopfte, jedesmal eins der Stücke von dem Häuschen loslösen. Die Kinder stimmten freudig zu. Und siehe da, an einem einzigen Tage waren sämtliche 52 Stücke fortgegeben. 52 Bettler an einem Tage!

Nun waren aber keineswegs alle diese heimat-, obdach- und arbeitslosen Leute bereits gewohnheitsmäßige Bettler. Unter die, denen das müßige Bettler- und Kneipenleben zum zweiten Dasein geworden war, mischten sich solche, die nach wie vor verzweifelt nach Arbeit suchten aber keine fanden. Überall, wo sie anfragten, stießen sie auf Kopfschütteln. Wenn sie aber um eine Geldgabe baten, trafen sie immer wieder auf mitleidige Herzen. So gewann mancher Schritt um Schritt das Betteln lieb, während er sich in gleichem Maße der Arbeit entwöhnte. Die Barmherzigkeit seiner Mitmenschen erzog ihn zum Betteln!

Was aber war seitens der Behörden zur Eindämmung dieser Not geschehen? Sie hatten den Bettel unter Strafe gestellt! Wer bettelte, kam in Polizeigewahrsam; wer wiederholt beim Betteln gefaßt wurde, wurde mit Gefängnis bestraft. Je öfter sich der Fall wiederholte, je höher stieg die Strafe. Da nun aber viele der Arbeitslosen, die ohne ihre Schuld arbeitslos geworden waren, schlechterdings ohne zu betteln ihr Leben nicht fristen konnten, so entspann sich zwischen ihnen und den Beamten der Polizei ein regelrechter Kleinkrieg, nicht ein Krieg der Gewalt, sondern der List. Vielfach gingen zwei Arbeitslose zusammen. Der eine „stand Schmiere”, d. h. er beobachtete von einem sicheren Standort aus, ob die Luft rein und kein Polizist in der Nähe sei, während der andere an die Türen der einzelnen Häuser klopfte und um eine milde Gabe bat. So wurden ganze Kapitalien zusammengetragen und gemeinsam durchgebracht.

Natürlich kam es immer wieder vor, daß die Polizei doch den einen oder andern beim Betteln ertappte und abführte. Je nachdem wurde er dann zu Haft, Gefängnis oder Korrektionsanstalt (Arbeitshaus) verurteilt. Vielen der alten Bettler machte das nichts mehr aus. Ja, im Winter war es ihnen sogar erwünscht, verhaftet zu werden. Die Klügsten unter ihnen suchten die Städte auf, weil sie wußten, daß es dort im Gefängnis den behaglichsten Winteraufenthalt und das beste Essen gab. Dort setzten sie so lange ihren Bettel fort, bis sie gefaßt und zu Gefängnis verurteilt wurden. In den Gefängnissen und Korrektionshäusern selbst aber saßen gewohnheitsmäßige Vagabunden zusammen mit jungen Burschen, die zum erstenmal verurteilt waren und nun von den alten Kunden in all die Geheimnisse und all den Schmutz des eigentlichen Vagabundenlebens eingeweiht wurden. „Die wenigsten Menschen”, schrieb Vater, „wissen, was das heißt, zum erstenmal in ein Korrektionshaus gesperrt zu werden. Ich halte die Todesstrafe für eine leichtere Strafe als die erste Verurteilung zum Arbeitshaus.”

So wurden diese Häuser, die das Landstreicherwesen eindämmen sollten, geradezu zu Hochschulen des Vagabundentums, aus denen sich eine wahre Flut von unsauberen Elementen schlimmster Art über das Land ergoß, körperlichen und seelischen Ansteckungsstoff überall hintragend.

Aber längst ehe sich für Vater diese Einzelheiten ergaben, war er zur Tat geschritten. „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen,” das klang ihm im Ohr und im Gewissen. Und er selbst fügte hinzu: „Wenn wir barmherziger werden wollen, dann müssen wir härter werden.” Nun war unser Haus nur durch einen schmalen Bergweg, den Jägerbrink, von dem steil abfallenden Buchenwalde getrennt. Es war Vater schon längst ein Anliegen gewesen, den steilen, wilden Abhang gleichmäßig nach dem Jägerbrink abzuschrägen und durch eine kleine Mauer gegen den Bergweg abzugrenzen. Hacke und Spaten wurden angeschafft, und als die nächsten Arbeitslosen an unsere Tür klopften, sagte Vater, daß sie gern Essen bekommen könnten, daß es aber keines Menschen würdig sei, bloß zu essen, ohne zu arbeiten, wenigstens solange die Möglichkeit bestände, sich sein Essen durch Arbeit zu verdienen. Ob sie bereit seien, vorher eine Stunde drüben am Abhang zu arbeiten. Sofort schieden sich die Geister. Die einen lehnten entrüstet das Ansinnen ab und gingen schimpfend davon; die andern griffen zu Spaten und Hacke und ließen sich nach getaner Arbeit ihr Essen doppelt gut schmecken. Ihnen war das ehrlich erarbeitete Brot lieber als das schimpfliche Bettelbrot! Es dauerte nicht lange, da war die Arbeit vollendet und die Mauer aus den im Abhang selbst gewonnenen Steinen aufgeführt. Sie steht noch heute, und über ihr erhebt sich jetzt ein kleiner Tannenbusch.

Aber es war doch nur eine halbe Hilfe. Wohl hatten sich die Leute ihr bißchen Mittagbrot durch ihre Arbeit erwerben können, dann aber mußten sie ihren Weg auf den Straßen und an den Zäunen fortsetzen. Einer von ihnen, dieses armseligen Lebens überdrüssig, bat Vater, ob er ihn nicht dauernd behalten und beschäftigen könnte. „Ja,” sagte Vater, „wenn Sie fallsüchtig wären, dann könnte ich Sie behalten.” Da stieß der Mann heraus: „Ich bin aber auch fallsüchtig.”

Dies Wort traf Vaters Herz. Wie ein Blitz beleuchtete es die Lage. In diesem einen Mann stand das ganze Heer dieser ausgestoßenen Menschen vor ihm, arbeitslos, heimatlos, hoffnungslos wie die Epileptischen auch. Langsam und desto schauerlicher versinkend im Morast des Nichtstuns, des Bettels, des Ungeziefers und des Saufens. Die Barmherzigkeit der Menschen half ihnen nicht auf, sondern als eine in Wahrheit grausame Barmherzigkeit ließ sie diese Unglücklichen durch Almosen, die nur noch den Schein der Barmherzigkeit an sich trugen, immer tiefer sinken. Und die Gerechtigkeit des Staates half ebenfalls nicht, sondern stieß, eine in Wahrheit ungerechte Gerechtigkeit, diese Verlorenen nur immer weiter aus der menschlichen Gesellschaft aus. Denn wer gab solch einem armen Menschen noch Arbeit, der in seinen Papieren fünf, zehn, zwanzig und noch mehr Polizeistrafen verzeichnet hatte? Niemand. Überall wurde er abgewiesen. Wohl drückte man ihm ein paar Pfennige in die Hand. Aber diese Pfennige wurden ihm nur zum Anlaß neuen Falles, tieferen Versinkens in dem Sumpf der Vagabundenkneipen. Das waren in der Tat Fallsüchtige, deren Los noch schwerer war als das Los der fallsüchtigen Epileptischen!

Was tun? Zunächst durfte der eine nicht wieder hinausgestoßen werden. Er blieb. Aber nun galt es, auch den andern, die wie dieser Erstling sich nach einer rettenden Hand ausstreckten, gründlich zu helfen.

Gleich jenseits des Teutoburger Waldes, nur eine halbe Stunde von den Tälern entfernt, in denen die Epileptischen ihre Heimat gefunden hatten, dehnt sich die weite Ebene der Senne, alter Meeresboden, in dessen Sandbänken sich noch heute Muschellager und hin und her zerstreut auch mal ein Stück Bernstein finden. In der Richtung der alten Landstraße, die Bielefeld mit Paderborn verbindet, drang Vater mit seinem getreuen Berater Bökenkamp in dieses einsame Land vor. Nur hier und da ein ärmlicher Hof. Sonst weithin rote Heide, stehende Wasserlachen, kümmerliche Kiefern, ein weites ödes Land. Überall lagerte in der Tiefe von ein bis drei Fuß der Ort, eine dunkle Eisensteinschicht, die ein Auf- und Absteigen des Wassers hinderte und weder für Baum noch Halm ein Gedeihen aufkommen ließ. Wurde der Ort aber aufgedeckt, so zerfiel er an der Luft und an der Sonne, und aus dem Feind des Landes wurde ein Freund, der mit dem armen Sand vermischt den Boden besserte. Hier war also Arbeit die Fülle für die Arbeitslosen, im hoffnungslosen Land hoffnungsvolle Aufgaben für die Hoffnungslosen. Bald hatten auch die beiden Suchenden am Ufer des Dalbke-Baches, zwei Stunden von Bielefeld entfernt, einen zum Verkauf stehenden zerfallenden kleinen Hof entdeckt, der den obdachlosen und heimatlosen „Brüdern von der Landstraße”, wie Vater fortan am liebsten diese seine jüngsten Schützlinge nannte, Obdach und Heimat bieten sollte.

Es dauerte nicht lange, da konnten die ersten, die in Bethel vorübergehend Aufnahme gefunden hatten, nach der kleinen Kolonie in der Senne übersiedeln. Und nun ging durch ganz Bielefeld die Parole: „Kein Arbeitsloser braucht mehr mit Pfennigen abgespeist zu werden. Es ist Arbeit für ihn da; schickt ihn hinaus in die Senne!” Das brachte die Scheidung. Die abgefeimten Bettler drückten sich davon. Sie konnten und wollten nicht mehr los vom Bettel und Schnaps. Sie verzogen sich in die weitere Umgegend, in die die verwünschte Parole noch nicht gedrungen war. Aber die andern kamen, zerlumpt, verlaust, versoffen, Männer aus allen Gauen, allen Ständen und jeglichen Alters; Jünglinge und Greise, Arbeiter und Barone, Studierte und solche, die kaum die Schule besucht hatten.

Würde solch eine bunt gemischte Gesellschaft sich ineinander schicken? Wir hatten in Bielefeld einen Gendarm, zu dem ich als Kind immer voll Stolz und heimlichem Neid emporschaute, wenn er in langem, wallendem Bart dahergeritten kam. Der meldete sich eines Tages bei Vater. Ich sehe ihn noch, gestiefelt und gespornt, die Treppe heraufkommen. Er wollte seine Dienste anbieten für den Fall, daß eine feste Hand, die kein Fackeln kannte, unter der zusammengewürfelten Schar nötig werden sollte. Aber sie wurde nicht nötig. Hier waren ja lauter Leute, die freiwillig gekommen waren, durch nichts anderes gedrängt als die selbst empfundene, selbst erfahrene Not. Niemand hielt sie als ihr eigener Entschluß und die Luft der Barmherzigkeit, Ordnung und Sauberkeit, die sie umgab, und die so lange entbehrte Wohltat der Arbeit und des selbstverdienten Brotes.

Gerade für diese ausgemergelten, kraftlosen Menschen war die Arbeit im weichen Sand wie geschaffen. Denn je nach der Tiefe, in der sich der Ortstein befand, wurde der Sand ausgehoben, bis der Ort erreicht, zerschlagen und nach oben geworfen war. Die Schicht des zweiten Grabens füllte den ersten, die des dritten den zweiten und so fort. So wuchs durch die Arbeit des Rigolens neues Land für Wiese und Acker aus dem armen Heideboden empor und weckte zugleich neue Hoffnung für eine neue Zukunft in dem Herzen des Kolonisten.

Kein Treiber hetzte sie, sondern jener Husar, der sich am 14. August 1870 Gott gelobt hatte und nun als Bruder eingetreten war, stand selbst mit im Graben, den Spaten führend, ein Bruder unter Brüdern, ein Arbeiter unter Arbeitern, ein Werdender unter Werdenden! Auch der Schwächste konnte diese Arbeit tun und neue Kraft für Leib und Seele aus ihr schöpfen. Hier gab es wirklich noch einmal ein Aufstehen für Fallsüchtige. Hier rief die Glocke nicht zum elenden Fusel und erbettelten Brot, sondern zur selbst erworbenen Mahlzeit und läutete den Feierabend ein zum Lobpreis Gottes, der fahrenden Leuten diese Stätte bereitet hatte, zur stillen Sammlung unter seine Stimme. Dann wurde draußen auf der Bank noch ein Abendpfeifchen geraucht und dem Abendlied der Amsel gelauscht: „Längst vergess´ne alte Lieder wurden wach in ihrer Seele.”

Es konnte nicht ausbleiben, daß der Ruf der jungen Kolonie sich schnell ausbreitete. Von allen Seiten strömte es herbei. Ein Aufhalten gab es nicht mehr. Es mußte gebaut werden. Die schwächeren Kräfte blieben beim Rigolen, die stärkeren legten Hand an bei der Aufrichtung der notwendigsten Räume für Menschen und Vieh. Aber noch ehe sie fertig waren, wurde es ganz deutlich, daß mit dieser einen Zufluchtsstätte dem überall wogenden Elend nicht gedient war. Es mußte umfassender Rat geschafft werden. Wo war die helfende Hand, die durch das ganze Vaterland hin sich den Versinkenden entgegenstreckte?

Vater wandte sich an den, der ihm einst in der Berliner Gymnasiastenzeit ein Spielkamerad gewesen war und der sich seitdem wie ein Freund zu ihm gestellt hatte: den Kronprinzen Friedrich Wilhelm, den späteren Kaiser Friedrich. Immer haben die Hohenzollern Herz und Verständnis für den Geringen und Geringsten im Volke gehabt. Das zeigte sich auch jetzt. Auf stillen Wegen im Schloßgarten von Potsdam wurde zwischen beiden Männern der Bund geschlossen zum Wohl der „Brüder von der Landstraße”.

Das Kronprinzenpaar hatte kurz vorher seine Silberhochzeit begangen. Zu dieser Feier war ihm eine in ganz Deutschland veranstaltete freie Sammlung in Höhe von einer halben Million Mark überreicht worden. Die Kronprinzessin bestimmte die auf sie entfallende Hälfte zur Gründung des Hauses der Viktoria-Schwestern in Berlin, und der Kronprinz bot Vater die andere Hälfte an, um damit den „Brüdern von der Landstraße” gründlich Hilfe zu schaffen. Vater schlug dem Kronprinzen vor, jeder preußischen Provinz und jedem deutschen Bundesstaat aus dem Dotationsfonds eine Prämie zur Verfügung zu stellen zur Aufrichtung einer Kolonie für Arbeitslose. Gleichzeitig bat er den Kronprinzen, selbst die junge Kolonie in der Senne einzuweihen und ihr Protektor zu werden. Beide Wünsche erfüllte der Kronprinz. Damit war mit einem Schlage der jungen Sache die Bahn durch ganz Deutschland gebrochen.

In der Morgenfrühe des 16. Juli 1883 kam der Kronprinz. Ich sehe noch die wehenden Fahnen Bielefelds, die jubelnde Menschenmenge, die Blumensträuße, die in den Wagen geworfen wurden, und neben dem Kronprinzen Vaters Gestalt, der von dem allen kaum etwas zu sehen und zu hören schien, sondern tief in das Gespräch mit dem hohen Gast und den ihn begleitenden Herren versunken war. Die Fahrt ging durch den Teutoburger Paß unmittelbar hinaus nach Wilhelmsdorf. In dem alten, inzwischen zum Speisesaal ausgebauten Kuhstall des Bauernhauses versammelten sich die Mitglieder der preußischen Regierung, der Provinzial-Verwaltung, die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche um den Erben des Hohenzollernthrones zum Dienst der Verachteten und Ausgestoßenen des Volkes. Zur Erinnerung an Kaiser Wilhelm I. bekam die Kolonie den Namen Wilhelmsdorf.

Bald kamen von überall her Abgesandte, um die Kolonie an Ort und Stelle kennen zu lernen und mit Hilfe der kronprinzlichen Prämie in ihrer Heimat ähnliche Zufluchtsstätten ins Leben zu rufen. Natürlich konnte die Prämie, die in jedem einzelnen Fall nur 5–10 000 Mark betrug, nur für die ersten Fundamente ausreichen. Aber weitere Beihilfen aus öffentlichen und privaten Mitteln strömten der Mutterkolonie Wilhelmsdorf und den entstehenden Tochteranstalten zu.

„Einen Menschen langsam zu Grunde zu richten, ist unendlich viel kostspieliger, als einem Menschen rechtzeitig zu helfen”, war der Grundsatz, den Vater immer wieder hinausrief und der überall Verständnis und Echo fand. Was kostete in der Tat ein einziger Bettler der Bevölkerung für Unsummen! Jahraus, jahrein schatzte er das Land ab, versoff sein Geld, ließ sich im Winter im Gefängnis oder in der Korrektionsanstalt durchfüttern und zog, und das war das teuerste, durch sein Wort und Beispiel einen nach dem andern hinter sich her in den Sumpf, die dann wieder an ihrem Teil den Bewohnern von Stadt und Land zur Last fielen. Da bedeutete es in der Tat eine große Ersparnis, den entstehenden Kolonien eine Unterstützung zuteil werden zu lassen, sie dagegen dem zu versagen, der nur betteln, aber nicht arbeiten wollte.

Überall waren es freie kirchliche Vereine, die die Träger des Gedankens waren, evangelische und katholische. Es war für Vater eine ganz besondere Freude, daß hier in dem tiefen Tal der Wanderarmen-Not sich die Wege beider Konfessionen trafen, beide von den trennenden Höhen herabstiegen, um gemeinsam zu raten und zu taten. Und das ist all die Jahre hindurch bis heute geblieben. Daß dabei Hemmungen und Widerstände zu überwinden waren, versteht sich von selbst.

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
01 ağustos 2017
Hacim:
580 s. 1 illüstrasyon
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