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Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 23

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Nach dem Gottesdienst ging Vater zu den Kranken. Hatte er nicht zu predigen, so brachte er am liebsten den ganzen Sonntagvormittag in den Krankensälen und bei den Kranken zu. Nur in besonderen Fällen hielt er sich lange am einzelnen Krankenbett auf. Meist machte er es ganz kurz. Seine Seelsorge bestand nicht im Eindringen in die Gänge und Irrgänge der einzelnen Seele. Dazu hätte es der Gabe der Menschenkenntnis bedurft, und die besaß er im eigentlichen Sinne nicht. Es kam die Natur des Westfalen hinzu, die zurückhaltend, fast schüchtern ist dem andern gegenüber, voll angeborener Achtung vor der Eigenart des Mitmenschen und darum voll Verständnis, wenn auch der andere Zurückhaltung übt.

Seelengeheimnisse sind ihm darum selten offenbart worden. Nicht weil man ihm in tiefster Not nicht vertraut hätte. Aber die Last wurde klein, sobald er ins Zimmer kam. Man schämte sich in seiner Nähe der kleinlichen Sorgen. Das kurze Wort, das er sagte, hob empor in eine Welt, in der Schwachheit und Verdruß liegen unter unserm Fuß. Man war wie mit einem Ruck über die Wolken gehoben in den Sonnenschein des Glaubens hinein, der Gott alles anheimstellt. In diesem Licht konnte man nicht klagen. Aber dieses Licht fiel nun zugleich in die tiefen Täler der Seele. „Und hinter uns, im wesenlosen Scheine lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.” Wesenlos wurde es im Lichte der Liebe. Aber es lag doch zugleich da, tief unten in den Tälern der Seele, das Gemüt immer wieder zum Bösen weckend, immer uns anklebend und träge machend. Aber Vater brauchte nicht darauf zu stoßen, der einzelne sah es selbst.

So führte diese Art des Vaters, ohne daß er sich dessen bewußt war, zu beidem: zur sorglosen Kindschaft in die Höhe und zur klar erkannten Sünderschaft in die Tiefe. Und in dieser Doppelheit lag die große Wohltat seiner Seelsorge. Man sah die Schuld in der Tiefe, beugte sich unter sie und gab das Widerstreben auf gegen Gottes Hand, die sich im Leiden aufgelegt hatte, und war doch nicht an die Schuld gefesselt, sondern in das Licht der befreienden, vergebenden Gottesnähe gerückt. Das war aber nur darum möglich, weil Vater selbst immer in dieser Doppelheit lebte, in der Sünderschaft, sobald er auf sich sah, in der Kindschaft, sobald er nach oben sah.

Das strahlte von ihm aus, wo er ging und stand. Und darum war er Seelsorger, wo man ihm begegnete. Oft in noch viel höherem Maße in seinen ganz gelegentlichen Bemerkungen, als wenn er zu besonderem Zuspruch an ein Krankenbett trat. Im Saal des Mutterhauses stand ein großer Globus, der zu Unterrichtszwecken geschenkt worden war. Vater studierte ihn gern. Aber einmal faßte er ein Kind, das gerade neben ihm stand, setzte es auf den Globus und rief: „Solch ein einziges Kind ist mehr wert als die ganzen Weltteile.”

An seinem Geburtstag pflegten wir Kinder morgens auf ihn zu warten, wenn er aus seinem Schlafzimmer kam. Einmal war unsere Schwester die erste, die ihm um den Hals fiel, um ihm zu gratulieren. „Meine geliebte Tochter,” sagte er, „vergib mir alles, was ich an dir versäumt habe!” Solch ein Wort erquickte unbeschreiblich. So wurde er ganz klein und ganz groß zugleich und lebte uns vor, daß nur, wer sich selbst erniedrigt, erhöht werden kann.

Aber diese ganze Zartheit und Innerlichkeit machte ihn nicht weichlich; namentlich nicht mit körperlichen Zuständen. Ich kam einmal als Primaner abgespannt und mutlos von Gütersloh nach Hause. Der Körper wollte dem Geist nur noch mühsam gehorchen. „Junge,” sagte er nur zum Abschied, „nun kümmere dich nicht zu viel um deinen armen Kadaver” – fertig. So warf er mich mit einem Ruck aus der Welt der Sorge hinaus. Man sah sich in der tiefsten Tiefe verstanden, aber nicht darin festgehalten, sondern rasch emporgehoben.

Verstimmungen überwand er nicht durch Worte, sondern dadurch, daß er uns Arbeit gab. Vergeblich hatte ich einmal gegen mich selbst gekämpft, war der Mutter und den Geschwistern stundenlang mit elendem Nörgeln zur Plage geworden; schließlich hatte Mutter es Vater geklagt. Vater rief mich auf sein Zimmer. Was wird es geben? Kein Wort des Tadels, sondern statt dessen eine Bitte, ihm zu helfen: „Mein lieber Junge, ich habe hier einen Brief, den muß ich einmal ganz sorgsam abgeschrieben haben.” Nichts weiter. Als die Arbeit fertig war, war auch der Sieg errungen! Wie hat er auf solche und ähnliche Weise wieder und immer wieder Kranken und Gesunden, namentlich den Epileptischen in ihren schweren Verstimmungsstunden die Arbeit zur stets wirksamen Arznei gemacht.

Und dann ermunterte er uns durch Lob. Auch über die schwächste Leistung konnte er sich aus tiefster Seele freuen und schüttete seine Freude und seine Anerkennung wie einen erquickenden Strom über uns aus. „Schelten”, sagte er, „richtet Zorn an, aber Ermunterung macht fröhliche Leute.” Und weil dies Lob aus einem Herzen kam, das nicht ehrsüchtig war, sondern demütig blieb, darum machte es nicht hochmütig, aber mutig, nicht aufgeblasen, aber tatenfroh, nicht leichtsinnig, aber sorgenfrei. Und gerade im Lichte solch befreiten Geistes sahen wir wieder desto klarer hinunter in die Schatten des eigenen Herzens, sodaß Mut und Demut immer wieder vereinigt wurden.

Er hat nicht auf unseren Seelen gekniet, hat nichts in uns hineingepreßt, sondern hat uns mit befreiender Liebe in das Verständnis und in die Gemeinschaft seines Herrn geführt, den einzelnen und immer wieder die ganze Gemeinde. Das kam am ergreifendsten zum Ausdruck bei den gemeinsamen Abendmahlsfeiern. Es war die einzige Gelegenheit, wo er vorher – von besonderen Fällen abgesehen – uns alle, Mutter und Geschwister, auf seinem Zimmer vereinigte und kniend mit uns betete. Nach dem Gebet gab er jedem von uns einen Kuß. Bei der Feier selbst waren dann wieder alle vereinigt, Kranke und Gesunde. Als der Allerschwächste, Kleinste, Ärmste, Sündigste stand er, wenn er die Beichtrede hielt, mit uns vor seinem Herrn. Und eben darum zugleich als der, der es erfährt: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark; wenn ich unterliege, so hilfst du mir.” Gerade deshalb bedeuteten diese Stunden gemeinsamer Beugung auch Stunden gemeinsamer Erhebung voll Leben und Seligkeit, von denen eine Macht ausging in die Gemeinde.

Wir haben ihn sehr geliebt. Das konnte ja nicht anders sein. Die Feder des Sohnes ist nicht imstande, die unbeschreibliche Art seines Wesens wiederzugeben. Nichts Frömmelndes, nichts Weichliches lag in seiner Erscheinung, sondern urwüchsige männliche Kraft, mit harmloser Kindlichkeit vereinigt. Sein dunkles Auge, weich wie Samt, mit unbeschreiblicher Tiefe, ganz in der Gegenwart lebend und dann wieder über alle Welt hinausblickend.

Aber so sehr wir ihn liebten, es wurde keine Menschenvergötterung daraus. Wo er spürte, daß jemand für ihn schwärmte, da zog er sich zurück. Es kam ja allmählich ganz von selbst so, daß er als Vater der Gemeinde alle „Du” nannte. Aber da, wo er merkte, daß jemand sich an ihn hängte, sagte er aus unmittelbarem Gefühl heraus „Sie” und nicht „Du”. „Hängt euch an keinen Menschen!” Wie laut, wie dringend hat er uns das oft zugerufen! So löste er die Gemeinde von seiner Person, um sie an den zu binden, von dem er gern singen ließ: Liebe, die mich hat gebunden – An ihr Joch mit Leib und Sinn, – Liebe, die mich überwunden – Und mein Herz hat ganz dahin: – Liebe, dir ergeb’ ich mich, – Dein zu bleiben ewiglich.

Frühlingszeit

Der der Sonne zugeneigte Berghang, an dem sich der größte Teil der Häuser von Bethel hinzieht, macht den Frühling immer besonders schön. Schon Ende Februar kommen überall im Buchenwald die blauen Leberblümchen hervor, und hinter ihnen her dringen im März zwischen dem Efeu die Anemonen durch. Bald aber leuchtet das warme Tal unten von goldenen Wiesenblumen. Buchfink und Amsel stimmen ihre Kehlen wieder, Rotkehlchen und Rotschwänzchen kommen hinterher und all die andern Sänger, bis unten am Teich von Mamre die Nachtigall den schönsten Akkord in das Konzert mischt.

Einem solchen Frühlingstag kann man die Zeit vergleichen, die unter der Verkündigung des Evangeliums in der Beweisung des Geistes der Wahrheit und der Kraft der Liebe in der Zionsgemeinde anbrach. Überall blühte und grünte es, und von überall her stellten sich, wie die Sänger in Wald und Feld, Kräfte ein, um die Mauern Zions zu bauen.

Aus Dellwig kam der Sohn des treuen Freundes Philipps, und aus den schon von Paris her nahe verbundenen Pfarrhäusern in Schildesche und Gohfeld kamen der leitende Arzt Huchzermeier, die Mitarbeiter am Diakonen- und Diakonissenhaus Kuhlo und Siebold und des Letztgenannten Bruder als Leiter des Bauwesens – keine Fremden also, sondern längst Bekannte und Vertraute, jeder mit seiner besonderen Art und mit seiner besonderen Liebe, jeder an seinem Teil in westfälischer Art und Zähigkeit alle Kraft zum Bau der Gemeinde einsetzend. Und hinter ihnen her strömten dem Diakonen- und Diakonissenhause immer neue Scharen freiwilliger Mitarbeiter zu. Nie würde Vater so treue, bewährte Kräfte für die wachsenden Aufgaben bekommen und behalten haben, wenn er sie ängstlich bis ins einzelne angeleitet und beaufsichtigt hätte. Er kommandierte nicht, sondern vertraute ihnen. Er lähmte nicht durch enge Regeln, wohl aber wies er, ohne es zu wollen, bei jedem Zusammentreffen mit zwei, drei Worten die innere Richtung. Einer seiner jüngeren Mitarbeiter schrieb nach Vaters Tode: „Wodurch hat er uns von Grund aus gewonnen und zur Buße geführt? Eigentlich nur dadurch, daß er uns Liebe erwies auch dann, wenn wir gar nicht darauf rechneten. Ich habe so manches Mal gewünscht, er möchte mir doch einmal gründlich die Wahrheit sagen. Aber er hat es nie getan etwa in dem Sinne, daß er mir gesagt hätte: ‚Du bist doch eigentlich recht hoffärtig.’ Nein, er war stets unbeschreiblich freundlich gegen uns. Dann schämte man sich und fing an, innerlich zu weinen.”

Zu denen, die dauernd in die Arbeit eintraten, kamen andere, die wie vorüberziehende Sänger waren, deren Lied aber unvergessen bleibt. So immer wieder die Kandidaten des Konviktes. So auch manche hochgemute Frauengestalt, Töchter vornehmer Familien, die für längere oder kürzere Zeit die Gehilfinnen der Diakonissen wurden. So auch die Gäste des von Fräulein Heidsiecks fürsorgender Hand geleiteten Anstalts-Hospizes, die Anregung suchten und Anregung brachten und über die zunächst drängenden Aufgaben hinweg immer wieder den Blick in die Weite lenkten.

Die einzelnen Hausgemeinschaften und Arbeitsgruppen schlossen sich immer fester in sich zusammen, jede gleichsam einen besonderen Sängerchor bildend, der für sich übte, aber nur um desto besser in dem einen großen Konzert mitzuwirken. Was für einen Frühlingschor besonderer Art bildete z. B. das Kinderheim! Wie vielen Töchtern des Landes, die von nah und fern kamen, um für eine Zeitlang zu helfen, wurde unter dem Jubel der Kinder, auch unter ihrem stillen Leiden und Sterben, das Herz weit, froh und dankbar! Wie hoch gingen namentlich die Wogen damals, als Missionar Greiner die kleine schwarze Elisabeth brachte, die er auf dem Schiff dem ägyptischen Soldaten abgenommen hatte, damit sie nicht als Sklavin verkauft würde. Und als nun ein Jahr später gar noch das zweite kleine schwarze Mädchen, Marie Madjesebuni, hinzukam, brach eine Frühlingszeit über dem Kinderheim an, wie es sie schöner wohl nie erlebt hat. Europa und Afrika mischten ihre Stimmen in eins, Deutschland und Mohrenland hoben miteinander ihre Hände auf zu Gott!

Ganz verborgene Chöre gab es auch, wie die Stimmen der Sänger im Walde, denen niemand zuhört und die doch das Singen nicht lassen können. Das waren die eigenen kleinen Kreise der Kranken, oft nur aus zwei oder drei, fünf oder sechs bestehend, die am Feierabend zusammenkamen, um sich untereinander durch Lied und Betrachtung zum Lobe Gottes zu ermuntern. Wieviel Kräfte der innersten Harmonie gingen von diesen ungehörten und ungekannten Sängern aus!

Unter solchem Frühlingswehen konnte es nicht anders sein, als daß die Gemeinde wie der Baum zur Maienzeit neue Zweige trieb. Im Lande draußen, innerhalb und außerhalb der westfälischen Grenzen, wurde durch die Schwestern und Brüder eine Station nach der andern übernommen. Alle diese Außenstationen waren zugleich wie kleine Sammelbecken, die mit dem Übermaß ihres Elends auf Bethel angewiesen waren. Wohin mit den Verkrüppelten, Blinden, den Geistesschwachen und Geisteskranken, den Halbwaisen und Ganzwaisen, den Nervenkranken und Nervenschwachen, wenn jede andere Zuflucht sich verschloß? Immer freilich gab Vater den ausziehenden Schwestern und Brüdern die Regel mit auf den Weg: „Ihr dürft niemals denken, als hätten wir die Barmherzigkeit für uns gepachtet”; d. h. sie sollten alles tun, um in solchen Fällen der Not die näheren und entfernteren Angehörigen der Kranken nach Möglichkeit heranzuziehen. Oder wenn das nicht ging, sollten sie für anderweitige Familienpflege sorgen, sollten schließlich alle zunächst in Frage kommenden Pflegehäuser und sonstigen kirchlichen und staatlichen Anstalten in Betracht ziehen. Aber wenn alles versagte: „Dann dürft ihr bei uns anklopfen.”

Wie oft kam es vor, daß eben wirklich alles andere versagte! So nahm das Anklopfen kein Ende, und darum gab es immer wieder in den einzelnen Häusern ein Zusammendrängen und Zusammenschieben, bis es schließlich nicht anders ging und wieder gebaut werden mußte.

Und nicht nur für die Kranken mußte gesorgt werden, auch für ihre Pfleger. Oft erzählte Vater die Geschichte von der Kuh des alten Flattich, die eines Morgens tot im Stalle lag. Klagend und jammernd kommt Frau Flattich zu ihrem Mann. Der aber sagt: „Es wundert mich gar nicht, daß die Kuh gestorben ist. Ich habe schon seit einiger Zeit gemerkt, daß du unsere Magd nicht recht gepflegt hast; darum hat die auch die Kuh nicht recht gepflegt, und so ist sie gestorben.” Sollten also die Pfleglinge recht gepflegt werden, innerhalb und außerhalb der Gemeinde, dann mußte auch für die Pfleger und Pflegerinnen gesorgt werden. So entstand für die Schwestern das stille Salem in der tiefen Bergeinsamkeit des Teutoburger Waldes und für die Brüder das auf der frischen Höhe liegende Pella – beides Zufluchtsorte für Zeiten der Erholung und inneren Sammlung. „Ihr dürft die friedsame Ruhe nicht verlieren,” hat Vater uns oft zugerufen.

Inzwischen waren draußen in der Senne durch die Kolonisten von Wilhelmsdorf die ersten Kulturen entstanden. Es zeigte sich, was für eine wertvolle Ergänzung man an der Senne hatte. Der Boden in Bethel ist schwer und für die schwächeren unter den Epileptischen nur bei gutem Wetter zu bearbeiten. Das ist bei dem leichten Sandboden der Senne anders. Hier gibt es bei jeder Witterung, namentlich auch im Winter, abwechselungsreiche Arbeit, die auch den Schwachen und Schwächsten immer wieder die Befriedigung einer nützlichen Tätigkeit gewährt. So siedelte allmählich eine Ackerbaustation nach der andern aus Bethel nach der Senne über. Die Krüppel folgten, dann auch die Lungenkranken, die in der milden Kiefern- und Tannenluft schneller genasen als unter den kräftigen, aber rauhen Winden des Teutoburger Waldes, und schließlich kamen auch noch mehrere Stationen der Gemütskranken dazu.

Auch Wilhelmsdorf selbst mußte sich dehnen, denn es zeigte sich immer mehr, wie viele arme Opfer des Alkohols unter denen waren, die sich arbeitslos und heimatlos, von aller menschlichen Hilfe verlassen, in der Kolonie einstellten. Es war nicht möglich, sie nach drei Monaten wieder zu entlassen. Das hätte nur geheißen, sie aufs neue dem alten Elende auszuliefern. So entstand eine besondere Trinkerheilstätte. Auch den Schiffbrüchigen gebildeter Stände, für die ihre Familien einen sicheren Hafen suchten, konnte man sich nicht entziehen, sodaß auch für sie eine Heimat geschaffen werden mußte.

Eine Witwe Eckardt, nach der die ganze Kolonie, die heute etwa 1200 Insassen zählt, den Namen Eckardtsheim erhielt, schenkte in Erinnerung an ihren verstorbenen Mann den Grundstock zu einem Gotteshause, der Eckardtskirche, die zum Mittelpunkt aller Anstaltshäuser in der Senne wurde.

Aber die Entlastung, die auf solche Weise die Tochterkolonie in der Senne der Mutterkolonie drüben im Teutoburger Walde bot, verpflichtete nun auch wieder die Mutter zu einer Gegenliebe gegen die Tochter. Viele von denen, die sich in Wilhelmsdorf und in den von Wilhelmsdorf abgezweigten Häusern bewährt hatten, baten: Stoßt mich nicht wieder hinaus in die versuchungsvolle Welt, gebt mir in Bethel eine meinem früheren Beruf entsprechende Arbeit, laßt dort meine Kräfte allmählich weiter erstarken, bis ich den Mut gewinne zu neuer Fahrt in die stürmische Welt! War es möglich, solche Bitte abzuweisen?

Sollte sie aber gewährt werden, so mußte nun auch Bethel sich wieder dehnen. Es mußte seine Werkstätten, seine kleinen Betriebe erweitern, um Arbeit zu schaffen für die, die nur unter zweckvoller Arbeit an Geist und Leib genesen und neue Kräfte gewinnen konnten. So wurde aus der kleinen Schriftenniederlage die Buchhandlung, an die Buchbinderei schloß sich ein kleiner Laden an mit Heften, Bildern, Büchern; ähnlich ging es bei der Tischlerei, der Gärtnerei und den andern Handwerken. Auch für die Vorräte an Lebensmitteln, die bis dahin aus der Stadt bezogen worden waren, wurde eine eigene kleine Einkaufsstelle geschaffen. Ich sehe noch den Nico-Nix, einen holländischen Kaufmann, der irgendwie zu uns verschlagen worden war, mit strahlendem Angesicht in dem kleinen Verkaufsraum hinter dem Ladentisch stehen und seine Gäste bedienen.

Es konnte nicht ausbleiben, daß über solchem Wachsen Teile der Bielefelder Geschäftswelt in Unruhe gerieten. Ihnen war das schöne Tal für die Ausdehnung der Stadt genommen. Nun sollten sie auch nicht einmal an dem geschäftlichen Gewinn, den die Siedlung ihnen hätte bieten können, teilhaben? Aber Vater konnte wieder und wieder in überzeugender Weise dartun, daß die Entstehung und Entwicklung der kleinen Betriebe nicht aus dem Gedanken entsprungen wäre, einen Verdienst, der bisher andern zuteil geworden, für sich zu behalten, sondern daß es sich vielmehr für die Anstalt darum handele, ihren Kranken und Pflegebefohlenen durch eine ihren Neigungen entsprechende Beschäftigung recht zu dienen, und daß für solches Dienen die Ausdehnung der kleinen Anstaltsgeschäfte ganz unentbehrlich sei. Nicht „womit kann ich verdienen?” sondern „womit kann ich dienen?” sollte der Grundsatz dieser kleinen sich entwickelnden Betriebe sein. Und wenn über dem rechten Dienen auch eine kleine Ersparnis, ein kleiner Verdienst für die Anstalt abfiel, so durfte ihr das gegönnt werden.

So wurde immer wieder Raum geschaffen und Arbeit, um solchen, die sonst rettungslos versunken wären, zu helfen. Hierfür nur einige Beispiele. Für gewöhnlich wurde an der Regel festgehalten, daß nur, wer sich draußen in der geringen Arbeit der Senne mit Spaten und Karre bewährt hatte und für den sich andernorts kein sicherer Zufluchtsort zeigte, in einem der Arbeitsplätze in Bethel Aufnahme fand. Aber zum unabänderlichen Gesetz wurde das nicht. So wandte sich an Vater ein Kaufmann, der so, wie die Dinge lagen, rettungslos dem Gefängnis verfallen war. Er hatte eine tadellose Vergangenheit hinter sich. Um so schrecklicher war das Los, das, freilich durch eigene Schuld, vor ihm lag. Vater legte die Sache dem Kronprinzen vor; und durch dessen Fürsprache wurde die Strafe niedergeschlagen. Der Betreffende kam dann nach Bethel, und Vater nahm ihn, als die Kräfte seines bisherigen epileptischen Gehilfen Kneipp versagten, an dessen Platz. Mit unbeschreiblicher Gewissenhaftigkeit hat er Jahre hindurch vom Morgen bis zum Abend an dem Schreibpult in Vaters Arbeitszimmer gestanden, nie ermüdend, in tiefster Verschwiegenheit, die Liebe, die Vater ihm erwies, mit einem Leben voll Pflichttreue und Hingabe lohnend. Als die Kassenverwaltung einer in jeder Weise bewährten Kraft bedurfte, wurde er von Vater, der immer auf das Liebste, was er hatte, wenn es not tat, verzichtete, dorthin abgegeben, und bis an sein Ende ist er hier ein Vorbild der stillen Treue gewesen.

Hier in der Kassenverwaltung fand auch ein anderer für den Rest seines Lebens Arbeit, der aus der Senne herüberkam, wo er zunächst ein Jahr lang in Reih’ und Glied rigolt, gerodet und die Karre geschoben hatte. Er hatte mit dem Kaiser zusammen auf einer Schulbank gesessen, war Offizier geworden, hatte dann aber infolge des Trunkes seinen Dienst verloren. Seine Familie übte die Barmherzigkeit an ihm, daß sie ihm alle Mittel entzog, durch die er seinem unglücklichen Hang weiter hätte frönen können, sodaß er sich bemühen mußte, in der Senne wenigstens sein Leben zu fristen. Nicht widerstrebend, sondern freiwillig fügte er sich diesem Zwang und wurde schließlich einer der glücklichsten Menschen, die in unserer Mitte gelebt haben. Seine Todeskrankheit, die mit seinem früheren Leben im Zusammenhang stand, war freilich lang und schwer; aber gemurrt hat er nicht, sondern wie sein Leben, so ist auch sein Sterben ein Segen für viele geworden.

So könnte noch mancher genannt werden, der nach einem Leben voll Unruhe und Niederlagen schließlich zum Frieden und zum Sieg gelangte und nun unter den Siegern steht, die die ewige Krone erlangt haben. Unter ihnen sei nur noch unser lieber Lehrer H. erwähnt. Von einem nächtlichen Gelage heimkehrend, war er unterwegs im Frost liegen geblieben. Als man ihn fand, waren seine beiden Arme so vollständig erfroren, daß sie abgenommen werden mußten. Darüber kam er zur inneren Einkehr und Umkehr. Er trat in den Unterricht an den epileptischen Schulknaben ein, und der Friede und die innere Kraft, die von ihm ausgingen, waren so stark, daß die unruhigen Knaben keinem Lehrer lieber gehorchten als diesem Mann, der ohne Arme vor ihnen stand.

Nicht immer war es leicht, die richtige Beschäftigung zu finden. Aber auch hier machte Vaters Liebe immer wieder erfinderisch oder ließ sich von den Hilfesuchenden selbst auf neue Bahnen weisen. So kam ein früherer Kavallerieoffizier, dessen Kraft zu irgend welcher körperlichen Arbeit einfach nicht mehr ausreichte. Es stellte sich aber heraus, daß er eine große Kenntnis ausländischer Briefmarken hatte. Darum bat Vater in einem der Anschreiben, die an die Freunde im Lande und auch im Auslande gingen, um ausländische Briefmarken. Die Bitte war nicht vergeblich, die Marken strömten herbei, und Herr v. N. hatte eine Arbeit, die seine Kraft ausfüllte und die sich schließlich so ausdehnte, daß eine ganze Zahl schwacher Pfleglinge eine Tätigkeit fand, die gar nicht anstrengte und die doch zur Sorgsamkeit und Gewissenhaftigkeit erzog.

Immer dringendere Bitten um Aufnahme von Gemüts- und Nervenkranken führten dazu, daß auch für diese Leidenden sich ein Zufluchtsort nach dem anderen in Bethel auftat. Es fehlte in den staatlichen Anstalten vielfach an den geeigneten Pflegekräften, oft auch an ausreichender seelsorgerlicher Beratung. Dazu kam, daß die Überfüllung der westfälischen Provinzialanstalten die Verwaltung der Provinz zu der Bitte veranlaßte, Bethel möchte ihr die unheilbaren Kranken abnehmen.

„Unheilbar”, gerade solch ein Wort lockte Vater. „Das Wort unheilbar”, sagte er oft, „steht im Wörterbuch eines Christen nicht. Wer danken gelernt hat, ist gesund geworden, auch wenn er sein ganzes Leben in der Zelle zubringen muß.”

Immer wieder trieb es ihn zu den Umnachteten des Geistes in den verschiedenen Häusern. In Magdala, dem Hause der gemütskranken Frauen, hielt er jahrelang die wöchentliche Bibelstunde. Im Anschluß daran ging er regelmäßig zu denen, deren Zustand die Teilnahme an der Stunde nicht erlaubte. Namentlich suchte er die einzelnen Zellen der Tobsüchtigen auf, ganz allein, nur mit seinem kleinen Blumenstrauß in der Hand. Er ist, soviel wir wissen, niemals angegriffen worden.

Aber die Flut grauenhafter Lästerreden, die er dann und wann bei solchen Gelegenheiten anhören und über sich ergehen lassen mußte, befestigte ihn in der alten biblischen Überzeugung, daß bei diesem Leiden nicht immer nur körperliche Anlässe zu Grunde lägen, sondern auch die Mächte einer satanischen Welt ihr Wesen trieben. „Die Barmherzigkeit”, sagte er, „fordert es, an dieser Überzeugung festzuhalten. Ich kann nicht glauben, daß solch eine Flut von Schmutz aus dem Herzen eines reinen Mädchens emporsteigt. Das stammt aus einer anderen Welt.”

Mit dem Leiter einer großen städtischen Heil- und Pflegeanstalt, in der unsere Diakonen und Diakonissen arbeiteten, hatte er eine tiefgreifende Auseinandersetzung über die Aufgaben des Anstaltsseelsorgers. Sie führte dazu, daß er die Seelsorger sämtlicher deutscher Heil- und Pflegeanstalten zu einer besonderen Besprechung nach Bethel einlud, die, zumal manche von ihnen auf vereinsamtem Posten standen, mit größter Freude der Einladung Folge leisteten und sich von da an zu einer regelmäßigen Konferenz der deutschen Anstaltsseelsorger für Gemüts- und Geisteskranke zusammenschlossen, die bis heute besteht.

Schwerer noch als die Last, die sich durch die Aufnahme der Gemütskranken auf die Schultern von Bethel legte, war vielfach die Pflege derer, die nicht gemütskrank, aber auch nicht eigentlich gesund waren, sondern mit ihren erregten Nerven schwer an sich selbst trugen und anderen zu tragen gaben. Aber auch diese Last lehrte Vater uns mit Heiterkeit anfassen. Schmunzelnd pflegte er immer wieder zu sagen:

 
„Halbe Narren sind wir alle,
Ganze Narren sperrt man ein,
Aber die Dreiviertelnarren
Machen uns die größte Pein.”
 

Einer der ersten Gemütskranken, die in Bethel Zuflucht fanden, war ein Pastor Krekeler aus alter Ravensberger Familie. Er hielt sich für unwürdig, Nahrung zu sich zu nehmen. Mittags saß er an unserm Tisch, die Augen niedergeschlagen, in tiefe Schwermut versunken. Nur unter Vaters Zureden griff er zum Löffel, legte ihn dann aber hin, ohne seinen Teller leerzuessen. Da hörte auch Vater auf zu essen. „Lieber Bruder,” sagte er, „ich habe nun den ganzen Morgen schwer gearbeitet. Aber ich esse nicht, wenn du nicht auch ißt.” Das half, und der Teller wurde leergegessen. So ging es Schritt für Schritt vorwärts. Schon bald konnte Vater ihn bitten, ihm Sonntags eine Predigt abzunehmen. Das war Krekelers größte Freude. Aber sie wurde ihm nur dann gewährt, wenn er in der Woche vorher ein Pfund zugenommen hatte. Wiederholt hatte Krekeler die Bedingung erfüllt. Da, eines Sonntagmorgens, als er wieder predigen wollte, kam die Nachricht, daß er das Morgenfrühstück verweigert hätte. Vater eilte zu ihm und erklärte: „Du predigst nicht, wenn du nicht ißt, und hast die Verantwortung zu tragen, wenn ich jetzt unvorbereitet statt deiner auf die Kanzel muß.” Damit war der letzte Widerstand gebrochen. Schon bald konnte er seine Familie zu sich nach Bethel holen, und er und seine Frau übernahmen das Haus der epileptischen Pensionäre, in welchem er genesen war.

Gleichzeitig wurde er der Vater der Waisenkinder, die rings aus dem Lande sich einstellten und unter Schwester Pauline in einem besonderen Waisenhause gesammelt wurden. Er sorgte für ihre Unterbringung in den Familien des Landes und blieb auch weiterhin ihr väterlicher Freund, der sie regelmäßig besuchte und ihren Entwicklungsgang verfolgte und regelte. So erstarkten seine Kräfte mehr und mehr, bis er in Volmerdingsen am Hang der Weserberge wieder eine kleine Gemeinde übernehmen konnte. Hier legte er den Grund für eine Heimat der Geistesschwachen, die bis dahin in der Provinz Westfalen einer eigentlichen Zufluchtsstätte entbehrten und darum zunächst immer wieder unter die schwachen epileptischen Kranken von Bethel hatten gemischt werden müssen. Der kleine Zweig, der dort am Fuße des alten Wittekindsberges eingesenkt wurde, blühte unter seiner originellen Leitung schnell auf und ist jetzt ein Baum geworden, unter dessen Schatten viele arme umnachtete Menschenkinder ein glückliches Dasein führen. Lange Jahre hat Krekeler als der Glücklichste unter ihnen gelebt, bis plötzlich die alte Krankheit wieder durchbrach. Er flüchtete nach Bethel, und unter Vaters Zuspruch endete sein gesegnetes Leben.

Nicht eigentlich gemütskrank, aber schwer nervenleidend war ein Herr Schnitger, dem das Diakonissenhaus Sarepta eine Bleibestätte bot. Er war hochgebildet, hatte auf verschiedenen Gebieten gearbeitet und war auch im Kassenwesen erfahren. So übernahm er einen Teil der Kassenverwaltung von Sarepta. Sein Krankenzimmer war zugleich sein Arbeitszimmer, wo der Geldschrank stand und wo er die Kassenbücher unter musterhafter Sorgsamkeit führte und mit einer Handschrift, die zu den schönsten und charaktervollsten gehörte, die man sich denken kann.

Nun geschah etwas Merkwürdiges. Unten im Diakonissenhause, links neben dem Eingang, lag die Apotheke, in der von einer Schwester die ganzen Arzneien für die Anstaltshäuser bereitet wurden. Als sie eines Morgens in die Apotheke trat, fand sie den Giftschrank erbrochen und alle Gifte verschwunden. Der entwendete Giftbestand hätte völlig genügt, um viele hundert Menschen zu vergiften. Die Aufregung war groß. Den ganzen Tag über wurden die umfassendsten Untersuchungen vorgenommen. Aber alles blieb vergeblich. Am andern Morgen kam Herr Schnitger zu meiner Mutter, die für Kranke seiner Art immer ein besonderes Verständnis hatte, sodaß Schnitger schon vorher immer wieder sich gern ihr mitgeteilt hatte. Er sagte ihr, daß er am Abend vor dem Einbruch in der Apotheke gewesen sei, um sich etwas zu holen. Dabei habe er auch den Schrank mit der Aufschrift „Venena” (Gifte) gesehen und gedacht: „Die Gifte müssen aus der Welt verschwinden.” Denn er habe gespürt, daß das Morphium, das er von Zeit zu Zeit gegen seine große Schlaflosigkeit erhalten hatte, eine Gefahr für ihn werden könne, die er abschneiden müsse. Nun könne er sich freilich durchaus nicht besinnen, daß er das Gift weggenommen habe, für unmöglich aber halte er es nicht, da er eben an jenem Abend die Apotheke mit dem Gedanken verlassen habe: „Das Gift muß aus der Welt verschwinden.”

Es stellte sich heraus, daß die Nachtwachschwester in jener Nacht eine Gestalt beobachtet hatte, die aus der Richtung der Apotheke die Treppe heraufkam. Die Schwester war der Gestalt nachgeeilt und hatte gesehen, wie sie in dem Zimmer von Herrn Schnitger verschwunden war. Das konnte natürlich die Vermutung Schnitgers nur aufs äußerste bestärken. Wiederum aber waren und blieben alle Nachforschungen vergebens. Die Gifte sind bis heute nicht gefunden worden. Herr Schnitger aber erklärte: „Ein Mensch, der in Verdacht steht, Gift zu stehlen, kann unmöglich der Verwalter von Geld sein.” So stellte er seinen Dienst ein, suchte aber nach neuer Beschäftigung.

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Litres'teki yayın tarihi:
01 ağustos 2017
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