Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 22
Jahr und Tag hatten diese Worte in Röhls Seele geschlummert, bis ihm das Buch des Forschers Kandt in die Hände fiel, in dem dieser unter dem Titel „Caput Nili” seine Forschungsreisen zur Entdeckung der Nilquellen beschrieben hatte. Dieses Buch und jene Worte des südafrikanischen Goldsuchers bestimmten die Konferenz der Usambara-Missionare, den heimischen Vorstand zu bitten, einen Vorstoß in jene unbekannten Gebiete unternehmen zu dürfen.
Mit größtem Interesse las Vater das geistvolle Buch Kandts. Hier taten sich in der Tat neue große Ausblicke für die evangelische Missionsarbeit auf. Und alsbald ging die freudige Zustimmung nach Usambara hinüber: Vorwärts nach Ruanda!
Vater hat dann noch die hoffnungsvollen Anfänge in diesem wunderbaren Land der zentralafrikanischen Riesen und Zwerge erlebt. Bis über die Quellgebirge des Nil hinaus konnte die Arbeit ausgedehnt werden.
Auf der Insel Ijwi im Kiwusee, in dem sich die Berge des Kongo und des Nil spiegeln, wurde das Kreuz errichtet zum Zeichen, daß diese Insel, auf die Vater mit besonderem Nachdruck hinwies, mit ihrer starken, eigenartigen Bevölkerung die lebendige Brücke bilden sollte zwischen den Völkern des Nil und des Kongo. Neue Arbeitskräfte stellten sich ein. Theologen, Handwerker, Landwirte, Kaufleute und vor allem die, die überall mit mütterlichem Sinn im Kindheitszustand des einzelnen Menschen wie der Völker die tiefsten Wirkungen ausüben: Frauen, verheiratete und unverheiratete.
Die Erfahrungen, die in Usambara gesammelt waren, konnten jetzt auf dem neuen Gebiet ausgenutzt werden und fanden in der Person Johanssens, der vor dem Aufbruch nach Ruanda die Leitung der Usambara-Mission in die treu bewährten Hände seines Freundes und Schwagers Wohlrab legen konnte, ihren Brenn- und Mittelpunkt. Die schwarzen Gemeinden in Usambara sandten ihre besten Glieder zur Mitarbeit, das Mutterhaus Sarepta, in Verbindung mit der Frauenschule in Freienwalde, half die freiwilligen Frauenkräfte ausbilden, das Brüderhaus Nazareth die Handwerker und Landwirte. Durch die Verbindung mit dem Baseler Missionshaus und seinen kaufmännischen Unternehmungen traten auch Kaufleute in die Arbeit ein, um dem indischen und mohammedanischen Handel mit seinen verderblichen Wirkungen zuvorzukommen, und das erste Krankenhaus, von einem ausgebildeten Arzt geleitet, war in Vorbereitung.
So schickten sich alle Kräfte der Zionsgemeinde an, in vereinigtem Zusammenwirken untereinander und mit den Christengemeinden in Usambara im Herzen Afrikas das große Millionenvolk Ruandas zu erfassen. Gerade der Weg, den Vater von Anfang an eingeschlagen hatte, Kräfte auszusenden, die in ihrem Fach so gründlich wie nur möglich ausgebildet waren, verbürgte eine den Frieden der Mitarbeiter sichernde Arbeitsteilung und damit den tiefgegründetsten Erfolg: Theologen mit vollem wissenschaftlichem Rüstzeug für die allseitige Erforschung und Durchdringung des Volkslebens, Handwerker, die ihre ganze Kraft ihrem Berufe widmen wollten, ebenso Landwirte, Kaufleute und Ärzte, jeder mit freiem Raum zur Entfaltung seiner Gaben und Kräfte auf seinem besonderen Gebiet, und dazwischen eingestreut in Haushalt, Schule und unter den Kranken die durch stillen Dienst herrschende Frau. Dieser Weg wurde immer fester ausgebaut, immer fröhlicher beschritten, immer dankbarer zurückgelegt. Er wird auch, sobald uns Gott eine Rückkehr schenkt, aufs neue klar ins Auge zu fassen sein.
Übrigens war es nicht so, daß Vater durch die besonderen Aufgaben, die Afrika stellte, den Blick der Zionsgemeinde und ihrer Mitarbeiter auf dies eine Missionsfeld beschränkte. Im Jahre 1905 lernte er im Berliner St. Michael-Hospiz in der Wilhelmstraße den Kandidaten Wilhelm Gundert kennen, einen Menschen von ungewöhnlicher innerer Glut und Hingabe, der sich entschlossen hatte, auf eigene Faust als Missionar nach Japan zu gehen. Vater riet ihm dringend, nicht ohne festen Rückhalt, wenn nicht an einer Gesellschaft, so doch an einer Gemeinde, den Schritt in die Heidenwelt zu tun. Gundert folgte Vaters Einladung nach Bethel, arbeitete dort eine Zeitlang mit und wurde von Vater in der Zionskirche für den Dienst in Japan abgeordnet und von der Zionsgemeinde für die ersten Anfänge in Japan auch mit Geldmitteln ausgestattet. Zu einer engeren Verbindung kam es nicht. Doch blieb die einsame Gestalt Gunderts auf fernem Vorposten im Osten für Vater und die ganze Gemeinde wie der ausgestreckte Arm eines Wegweisers zu neuen Aufgaben und Zielen, die der deutschen Christenheit gesteckt sind.
Lutindi
(Der Afrika-Verein.)
Als die Greuel des Sklavenhandels bekannt wurden, der ganz Afrika mit endgültiger Vernichtung bedrohte, war es der Kardinal Lavigerie gewesen, der im Jahre 1889 die Augen der römisch-katholischen Welt auf dieses dunkle Gebiet gelenkt und zur Abhilfe gerufen hatte. Er hatte eine Afrika-Liga ins Leben gerufen, die, mit dem Sitz in Algier, die römisch-katholische Christenheit aller europäischen Völker zum Dienste Afrikas vereinigen sollte, in der richtigen Erkenntnis, daß es nicht genüge, wenn die europäischen Weltmächte den Sklavenhandel auf dem Wege der Gewalt unterdrückten, sondern daß es vor allem darauf ankäme, die blutende Wunde Afrikas zu heilen. Aus dieser Liga ging der Orden der weißen Väter hervor, dessen Boten und Botinnen ganz Zentralafrika vom Indischen bis zum Atlantischen Ozean mit Stätten der Barmherzigkeit durchdringen sollten.
Und die evangelische Christenheit? Sie war, was ihre Arbeit in Afrika betraf, in viele einzelne kleine Missionsgesellschaften zersplittert. Würden sie in diesen Fragen Stoßkraft genug besitzen, in schneller und wirksamer Weise die Wunden zu verbinden, die der Sklavenhandel geschlagen hatte, und in die Gegenden, wo nur noch Völkertrümmer saßen, neue Entwicklungsmöglichkeiten zu tragen?
Nun erschien bei Vater eines Tages, es war im Januar 1892, unvermutet ein Fräulein Sutter. Sie war die Tochter eines deutschen von Basel nach Indien entsandten Missionars. Dort war sie geboren. Ihr Lebensweg führte sie nach Deutschland und später nach England. Ein treues deutsches Herz war bei ihr vereinigt mit einem starken Verständnis für die Schwäche nicht nur, sondern auch für die Stärke Englands. Sie hatte die Schriften des bekannten Naturforschers Drummond ins Deutsche übersetzt, darunter die geistvolle Beschreibung seiner Forschungstätigkeit in Inner-Afrika, der er auf Fräulein Sutters Wunsch für die deutschen Leser noch ein besonderes Kapitel über die afrikanischen Sklavengreuel beifügte. Sie war eine glühende Verehrerin Gordons, des Helden von Chartum, dessen Lebensbild sie in fesselnder Darstellung gezeichnet hatte. Das zog Vater an, denn auch er hatte die Tätigkeit Gordons im Sudan mit tiefster Anteilnahme begleitet und an der Hand einer Spezialkarte, die er sich eigens zu dem Zweck verschaffte, den Marsch der Entsatztruppen auf Chartum mit hoher Spannung verfolgt und fast wie um einen Freund geklagt, als der Entsatz drei Tage zu spät kam und der edle Mann sein Leben lassen mußte.
Nun stellte es sich heraus, daß Fräulein Sutter die katholische Afrika-Liga genau studiert hatte und dafür brannte, daß die evangelische Christenheit doch nicht zurückstehen, sondern in ähnlich großzügiger Weise auch an ihrem Teile bei der Rettung der Negerstämme mithelfen möchte. Sie hatte eine ergreifende Flugschrift über den Sklavenhandel verfaßt, die in Hunderttausenden von Exemplaren durch Deutschland ging. In Berlin hatte sie die führenden Kreise aufgesucht und überall Verständnis für ihre Absicht gefunden, aber niemand, der die Bereitwilligkeit der Gedanken und Gefühle zu einer gemeinsamen Tat sammelte. So war sie nach Bethel gekommen. Die außergewöhnliche Glut, die in ihr für alles Vergessene, Verachtete, Verstoßene lebte, tat Vater ungemein wohl. In dieser kinderlosen, einsam ihres Weges ziehenden Frauengestalt spürte er den Pulsschlag eines im höchsten Sinne mütterlichen Herzens, das für Millionen von armen versinkenden schwarzen Menschenkindern Raum hatte.
Nie hatte Vater den Eindruck, daß er selbst genug getan hätte, daß in Bethel genug geschähe, daß man überhaupt jemals genug tun könnte. Ja, alles, was die Christenheit tat, erschien ihm nur wie ein einziger kleiner kühlender Tropfen auf die weite fieberheiße Leidensstirn der Menschheit. So nahm er die Spuren auf, die Fräulein Sutter in Berlin hinterlassen hatte, und es entstand, mit dem Sitz in Berlin und unter einem dortigen Präsidium, der evangelische Afrika-Verein.
Kulturelle, soziale, humanitäre Pflege der Eingeborenen in allen deutschen afrikanischen Kolonien war das Ziel des Vereins. Alle evangelischen Kräfte, die an der Entwicklung Afrikas interessiert waren, auch die, die der eigentlichen Evangelisations- und Missionsaufgabe fernstanden, sollte er in sich vereinigen. Kulturstationen sollten in Afrika gegründet, in der Heimat geeignete Kräfte für die Hebung und Förderung der Eingeborenen herangebildet, zunächst aber in erster Linie für die befreiten und zu befreienden Sklaven gesorgt werden.
Das Blatt „Afrika” sollte alle diese Aufgaben vor der Öffentlichkeit vertreten. Pastor Müller, Grottendorf, später Superintendent in Schleusingen, der schon als Kandidat in Bethel seine große Hingabe bewährt hatte, übernahm mit höchstem Fleiß die Herausgabe des Blattes. Namentlich mit der Bekämpfung der Schnapseinfuhr in die Kolonien setzte das Blatt sofort mit größter Energie ein.
Es kam auch, wenn ich mich recht besinne, schon bald zu einer selbständigen kleinen Expedition nach der Insel Ukerewe im Viktoria-Nyanza zwecks Gründung einer dortigen Kulturstation, auf der die Eingeborenen zur Anlegung eigener Baumwollkulturen herangebildet werden sollten; und in der Heimat wurde die Anregung gegeben, die zur Aufrichtung der Kolonialschule in Witzenhausen führte.
Das kräftigste Reis aber ging aus der Arbeit des Vereins an den befreiten Sklaven hervor. Die arabischen Sklavenhändler pflegten ihre Menschenware in kleinen offenen Segelbooten von den ostafrikanischen Küstenplätzen aus zu verschiffen. Auf diese Boote wurde seitens der deutschen Küstenfahrzeuge Jagd gemacht, ihre Inhaber wurden kurzerhand gehängt und die Sklaven in Freiheit gesetzt. Aber nur ein Teil von ihnen konnte bei den vielfach ungeheuren Entfernungen an eine Rückkehr in die Heimat denken, und die evangelischen und katholischen Missionsstationen wurden gebeten, sie in Pflege zu nehmen. So kam eine große Schar befreiter Sklaven auf unsere Station in Tanga und in die Obhut einer Diakonisse und eines Diakonen. Der Aufenthalt in dem verführungsreichen, ungesunden Küstenplatz erwies sich aber je länger je mehr als durchaus ungeeignet. So empfahl Vater dem inzwischen ins Leben getretenen Afrika-Verein die Gründung einer besonderen Freistätte für befreite Sklaven auf den gesunden Höhen von Usambara. In unvergleichlich schöner Lage am Rande des Urwaldes, von starken Gebirgsbächen umrauscht, mit freiem Blick in das grüne Tal des Pangani und in die weite Tiefebene wurde die Station Lutindi gegründet.
Erwies es sich auch, daß das Gelände für eine Ausdehnung der Station zu abschüssig war und daß die Nähe des Urwaldes zu gewissen Jahreszeiten immer wieder die kalten Morgennebel festhielt, so zeigte es sich doch, daß auch in einem geringen Gefäß edler Wein geborgen werden kann. Jahrelang haben hier die befreiten Sklaven, namentlich die Kinder, ihre Heimat gefunden, bis dem Sklavenhandel endgültig das Handwerk gelegt war, die Kinder selbst herangewachsen, in ihre Heimat zurückgekehrt oder in der umwohnenden Bevölkerung aufgegangen waren. Einige waren Christen geworden und hatten sich zu den Füßen des Lutindi-Hügels angesiedelt. Und gerade für diese hatte sich, noch ehe die Arbeit an den Sklavenkindern zu Ende ging, eine Aufgabe von eigenartiger Schönheit und Bedeutung gefunden:
Im Urwald von Lutindi hauste ein schwarzer Geisteskranker ganz für sich allein. Er nährte sich von den Früchten und Wurzeln des Waldes, schlief in irgend einer zerfallenden Hütte und war nur noch mit Fetzen bekleidet. Von Zeit zu Zeit wagte er sich hervor, kehrte für einige Augenblicke in Lutindi ein, aß sich satt, ließ sich ein Stück Stoff zur Kleidung schenken und war dann wieder verschwunden. Als er wieder einmal erschien, war gerade die Mittagsmahlzeit gerichtet. Auch für Bruder Bokermann, den Leiter der Station, stand das Essen bereit, und es gab sich, daß er aus seiner eigenen Schüssel dem verstörten Menschen seine Mahlzeit aufschüttete. Das wandelte dem armen Kranken das Herz um. Wider Erwarten verschwand er diesmal nicht, sondern blieb. Bokermann berichtete darüber an Vater und schilderte zugleich das Elend vieler anderer armer Geisteskranker, die teils das Opfer furchtbarer, qualvoller Geisterbeschwörungen wurden, teils auch gefesselt an den Felsenhang jenseits des Lutindi-Urwaldes geschleppt und dort in die Tiefe gestürzt wurden. „Darf ich diese Geisteskranken sammeln und aufnehmen?” fragte Bokermann. Es braucht nicht gesagt zu werden, wie die Antwort lautete.
So wurde aus der Heimstätte für befreite Sklaven eine Heimstätte für diese Gebundenen des Geistes und ist es bis heute geblieben. In immer steigendem Maße hat sie sich das Vertrauen aller umliegenden Stämme erworben. Oft Tagereisen weit werden die Kranken gebracht, manchmal noch mit Fesseln aus Lianen gebunden, aber doch nicht mehr, um sie dem Tode auszuliefern, sondern in der Hoffnung, sie einmal genesen wiederzubekommen. Aus den befreiten Sklaven und ihren Frauen sind einige der bewährtesten und treuesten Pfleger und Pflegerinnen geworden, die furchtlos sich in die kleinen Zellen der armen Tobenden hineinwagen und sie mit der Ruhe und Gelassenheit versorgen, in der sie vielfach uns unruhige Europäer übertreffen.
Gleichzeitig hat sich rings um die Station her in kleineren und größeren Niederlassungen eine Christengemeinde aus den Waschambalas gesammelt, die wie eine warme, schützende Mauer die Pflegestätte der Geisteskranken umgibt.
Diese Heimat der Geisteskranken ist begreiflicherweise ein besonders geliebtes Pflegekind der Gemeinde der Kranken von Bethel und ihrer Pfleger und Pflegerinnen geworden. Als der Oberpfleger Lutindis aber steht in unserer Mitte der, dem Vater diese Arbeit besonders ans Herz gelegt hat, unser lieber Bruder zur Heiden. Schon als Hausvater des Hauses Zoar, wo er manchen Kandidaten in den Dienst an den blöden Knaben einführte, hatte er die Fürsorge für Lutindi als Nebenaufgabe übernommen. Und als „Fürst von Zoar”, wie er nach der alttestamentlichen Geschichte von seinen Kandidaten genannt wurde, waltet er noch immer seines Pflegeamtes an Lutindi; der einzige der deutschen Fürsten, wie er selbst feststellte, an den kein Umsturz sich bis jetzt heranwagte.
Wenn auch die hohen Hoffnungen des Afrika-Vereins mit seinen ganz Zentral-Afrika umspannenden Kulturplänen zunächst unerfüllt blieben: in Lutindi ist Saat für die Zukunft ausgestreut. Denn hier ist ein Vorbild geschaffen, wie unter Führung eines Unstudierten, der aber Herz und Kopf auf dem rechten Fleck hat, und seiner gleichgesinnten tapferen Frau ein Brennpunkt entstehen kann, der das Licht und die Kraft barmherziger Liebe bis in weite Fernen trägt. Wenn es der Bethel-Gemeinde vergönnt war, bald da, bald dort ein Licht im dunkeln Afrika anzuzünden, so habe ich während der unvergeßlichen Zeit afrikanischer Arbeit keinen Ort gefunden, der so sehr an die Muttergemeinde in Bethel erinnerte, als – wie Vater sie so gern nannte – „die herrliche Höhe Lutindi”.
Die Ausgestaltung
Als Pastor der Gemeinde
Die Aufgaben, die sich auf Vaters Schultern legten, sah er nie an als bloß ihm persönlich, sondern als der ganzen Gemeinde gegeben. Er konnte und wollte seine Arbeit nicht tun ohne ihre innere Zustimmung und Mithilfe. Darum blieb die Gemeinde immer der Kern seiner Tätigkeit, und die Verkündigung und Pflege der göttlichen Wahrheit in der Gesamtheit und an den einzelnen hat er für sich und seine Mitarbeiter immer als den eigentlichen Mittelpunkt angesehen.
In Paris schrieb er seine Predigten noch auf. Aber oft konnte er kaum entziffern, was er selbst geschrieben hatte. So machte er sich, wie wir sahen, schon in Dellwig frei von seinem Konzept. Und vollends in Bethel ließ ihn das Gedränge seiner Arbeit selten vor dem Sonnabendnachmittag an seine Predigt kommen. Von Anfang an hatte er nicht gut am Studiertisch nachdenken können. In Dellwig war er am liebsten in den Wald und die einsamen Weiden längs des Ruhrtals gegangen; in Bethel wurde der Friedhof oben im Walde sein stiller Zufluchtsort, wohin er sich mit seinem Text zurückzog. Dort zwischen den Gräbern standen die Entschlafenen im Geiste um ihn und wurden ihm zu Auslegern und Zeugen für das, was er der Gemeinde bringen wollte. So trug ihm die Gemeinde der Vollendeten das zu, was er der Gemeinde der Streitenden zu sagen hatte. Nur selten nahm er andere Ausleger oder Predigten zur Hand; wenn es doch vorkam, am liebsten Bengel, Rieger und Löhe.
Je näher die Stunde der Predigt kam, je ernster wurde er, je gebeugter wurde seine Gestalt. Die Last der Verantwortung legte sich auf ihn. „Gib mir ein Tröpflein für meine arme Gemeinde!” hörte man ihn wohl seufzen. So war es nichts Erdachtes, was er brachte, sondern Erlebtes, Erkämpftes, Erbetenes, oft aus tiefster Armut heraus Erbetteltes. Aber wenn er dann auf der Kanzel stand, dann merkte man nichts mehr von den Kämpfen, die hinter ihm lagen. Dann war es wie frischester, perlender Tau, der aus den ewigen Höhen kommt. Ein Kandidat der Theologie, voll Zweifel und Zerrissenheit im Herzen, saß zum ersten Male in der Zionskirche, als Vater auf die Kanzel trat und den Gruß in die Gemeinde hinunterrief: „Gnade sei mit euch und Friede!” Es sei ihm, erzählte er später, durch Mark und Bein gegangen, hätte ihn um und um geworfen und von Stund an seinem Leben die klare entscheidende Richtung gegeben. Denn mit zwingender Gewalt habe er hier gespürt, das sei erfahrene Gnade, erlebter Friede, die auch für ihn erfahrbar und erlebbar seien.
Die Predigt, die auf solchen Gruß folgte, konnte darum auch nur auf Tatsachen sich gründen. Nicht wie ein Luftgebilde trat sie vor die Gemeinde, sondern sie ruhte von Anfang bis zu Ende auf Geschehenem. Wenn ich nicht irre, ist es Professor Kähler gewesen, der einmal sagte: „Die beste Art der Evangeliumsverkündigung ist nach Gesichtspunkten geordnete Erzählung.” So war es bei Vaters Predigt. Schon das Thema wurde am liebsten in Form einer Geschichte geboten und die Teile mit Geschichten gefüllt; vor allem mit Geschichten der Bibel und eigenen Erlebnissen. Vor unsern Augen wiederholten sich diese Geschichten. Aber Abraham, Joseph, Moses, David waren keine Menschen der Vergangenheit, sondern Menschen von heute. Die Jahrtausende, die uns von ihnen trennten, schrumpften zusammen; Vergangenheit und Gegenwart flossen ineinander. Vor allem bei den Geschichten des Herrn. Wir zogen mit den Weisen; wir knieten an der Krippe; wir saßen mit im Boot auf dem stürmenden See; wir lagerten im Grase mit den Tausenden, und die Jünger teilten Brot und Fische unter uns aus; wir sahen Jairi Töchterlein vor uns die Augen aufschlagen; wir standen mit verhaltenem Atem unter dem Kreuz und von Trauer und Hoffnung hin- und hergerissen vor dem leeren Grabe.
So wurden angesichts der Großtaten Gottes die eigenen Sorgen, Wünsche, Erlebnisse und Zweifel klein. „Was ich besitze, seh’ ich wie im Weiten, und was entschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.” Die Person des Heilandes, alle Welten, alle Zeiten überragend, stand unmittelbar vor uns, den Ernst und die Güte Gottes auf der Stirn, Segen und Frieden in seiner Hand und auf seinen Lippen. So kam der Glaube zustande, nicht durch Überredung, sondern durch den Anblick der Wirklichkeit. Und in diesem Menschen, der auf der Kanzel stand, trat er selbst, der Herr, vor uns hin, weckte das Vertrauen, das sich ihm ganz hingab, und den Gehorsam, der zur entschlossenen Nachfolge willig wurde, und die Buße, die mit Petrus sprach: „Herr, gehe von mir hinaus; denn ich bin ein sündiger Mensch!”
Zu dem Herrn aber, der zum Vertrauen, Gehorsam und zur Buße lockte und reizte, trat dann die Wolke von Zeugen, die uns ermunterte, solchem Locken und Reizen nicht zu widerstehen, sondern dem Fürsten des Lebens uns aus ganzer Macht zu überlassen. Dann sandten die Gräber, zwischen denen Vater am Abend vorher gestanden hatte, ihre Boten in unsere Mitte: Heinrich Hudel kam und der alte Heermann, Pastor Stürmer und der treue Mellin, und die Brüder und Schwestern, die den Weg des Glaubens gegangen waren durchs Leben und durch den Tod. Und die Apostel und Märtyrer mischten sich hinein und die Erstlinge von den Bergen Usambaras, und Kiase, der Aussätzige, rief: „Hört es, Leute, Leute! Kein Leid mehr, keine Schmerzen mehr, kein Sterben mehr; hört es, Leute, Leute!”
So war es der Glaube, der uns gepredigt wurde, aber gepredigt von einer Liebe, die sich auch zu dem Schwächsten herunterließ und sich auch dem müdesten Kopf verständlich machte. Denn diese aus der Schrift und dem Leben geschöpften Geschichten konnte jeder verstehen; hiervon konnte jedermann etwas mitnehmen nach Hause. Und wenn die Geschichten selbst dem wirren, kranken Gehirn vielleicht auch schnell wieder entschwunden waren, der Glanz der großen, herrlichen Wirklichkeit, der über ihnen lag, ging mit in die Woche hinein.
Aber weil es Geschichte war, erhabenste Geschichte, weltbewegende Ereignisse, Erlebnisse, die über alles andere Erleben hinausgingen, darum brauchte auch der Gesundeste, Klügste, Nachdenksamste unter uns nicht leer auszugehen, sondern sah sich zu eigenem Nachdenken geweckt, zur eigenen Ausgestaltung dessen, was er gehört hatte, angeregt. Alle aber waren vereinigt in dem einen Lebensstrom, worin, wie Luther sagt, der Elefant schwimmt und das Lamm plätschert. Nicht hier und da ein einzelner war es, zu dem er sprach, sondern die ganze Zuhörerschaft. So wurden wir zur Gemeinde zusammengefaßt.
Und eben ein Sprechen war es, keine Rede. Wäre es eine Rede gewesen, so wären uns die 40, ja 50 Minuten, die Vater auf der Kanzel stand, zu lang geworden. Aber weil es ein Gespräch war, wo Frage und Antwort wechselten, darum ließen wir ihm gern lange Zeit. Er sprach mit allen, mit denen, die körperlich vor ihm saßen, und mit den andern, die im Geiste versammelt waren. „Paulus, Paulus,” konnte er wohl fragen, „was sagst du? Ich sterbe täglich? Ich verstehe dich nicht, wie meinst du das?” Und dann fragte er wieder in die Gemeinde hinein: „Kann es von euch mir wohl einer sagen, wie Paulus das eigentlich meint?” Und wenn die Antwort noch auf sich warten ließ, dann ging er zu Luther hinüber und fragte den, bis es eins von den Epileptischen aus dem Munde Luthers mit deutlicher Stimme durch die ganze Kirche hin sagte: „Es bedeutet, daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe.”
So ging Frage und Antwort hin und her, so waren wir alle beteiligt, alle zur Mitarbeit am Text berufen, alle zu Auslegern geworden, einer dem andern zum Wegweiser gesetzt auf dem Wege zum Leben. Darum drang unser Glaube, unser Gehorsam, unsere Buße über den Kreis des eigenen kleinen Ich hinaus; einer trat für den andern ein, einer empfing für den andern die Gabe des Lebens; gemeinsam wurde unsere Last, gemeinsam unsere Freude. Unser Blick, unsere Liebe, unsere Hilfe wuchsen schließlich nicht nur über die Grenzen des eigenen Lebens, sondern auch der eigenen Gemeinde hinüber; wir lernten teilnehmen an den Aufgaben draußen, für die Vater der Kanal war, der sie uns zuleitete, lernten uns freuen mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden.
Es war ein wunderbares Ineinander von Ernst und Heiterkeit, das über diesen Stunden lag. Es konnte vorkommen, daß die ganze Kirche hell und aus vollem Herzen lachte, und im nächsten Augenblick, wenn der Schrei eines Epileptischen, der im Anfall zusammengebrochen war, durch die Kirche drang, lag wieder der feierliche Ernst über der Versammlung. „Hört ihr den Todesschrei?” rief Vater dann wohl. „Wir können es nicht wissen, wie bald der letzte Schrei auch für uns kommt! Dicht, dicht stehen wir vor den Toren der Ewigkeit.”
Und es war nicht die Predigt allein, die uns den Sonntagmorgen so lieb machte. Die Liturgie kam hinzu. Schon in den ersten Jahren hatte Vater die Liturgie mit Rücksicht auf die Kranken in besonderer Weise lebendig gemacht. Auch hier war die ganze Gemeinde beteiligt in Buße, Anbetung und Dank. Alle dankten, beteten, lobten laut, bald im Chor sprechend, bald in wechselndem, bald in gemeinsamem Gesang. Vater las die Liturgie nicht, sondern, obwohl er sich streng an die für die ganze Kirche vorgeschriebenen Worte und Gebete hielt, erlebte er sie, während er sie las. Und so durchlebten wir sie mit. Er war wirklich unser Anführer in Beugung, Bitte und Lobpreis Gottes, sodaß trotz der regelmäßigen Wiederkehr die Liturgie uns keine leere Form wurde, sondern sich mit ewigem Gehalt füllte.
Große Sorgsamkeit hatte Vater auf die Ausgestaltung des Gesangbuches gelegt. Dem Minden-Ravensberger Gesangbuch hatte er einen eigenen Anhang beigefügt, der außer einer großen Zahl wertvoller Lieder die ganze Liturgie enthielt, sodaß jeder Kranke und Gesunde, der neu in die Gemeinde trat, von vornherein am Gottesdienst handelnd teilnehmen konnte. Dazu kamen die alten kirchlichen Responsorien und die Psalmen, die teils in den Hauptgottesdiensten, teils in den Abend- und Wochenfeiern zwischen Männern und Frauen abwechselnd gesungen wurden. Die Lieder ließ Vater am liebsten ganz durchsingen und zwar so, daß ein vierstimmiger Chor mithalf. Dann sang der Chor die erste Strophe, die Gemeinde die zweite, der Chor die dritte u. s. f. Oft griffen auch die Posaunen mit ein, namentlich wenn es galt, einer neuen noch unbekannten Melodie Eingang zu verschaffen. „Denn auf dem ehernen Geleise der Posaunen ziehen die neuen Melodien am sichersten in die Ohren und in die Gemeinde ein.” Und wer wird je den Silberton des einen Hornes vergessen, das bis heute von den Lippen und aus dem Herzen unseres Posaunengenerals Kuhlo sich in die Stimmen der Menschen, der Orgel und der Posaunen mischt, jubelnd bis zu den höchsten Tönen sich schwingend und dann wieder, wenn alle andern Stimmen verstummt sind, in heiliger Tiefe die verborgensten Saiten des Herzens rührend und so die ganze Gemeinde auf den Flügeln des Liedes vor Gottes Thron tragend!
Unvergeßlich werden uns auch andere Gestalten bleiben, die bei diesen Gottesdiensten mitwirkten.
Vater Scheele hatte den Küsterdienst. Ein wildes Leben lag hinter ihm. Erst im Alter war er zur Besinnung und gründlichen Umkehr gekommen. Nun stand er Sonntag für Sonntag, sein Samtkäppchen auf dem Kopf, am Haupteingang, um die Kirchgänger zu empfangen, den Glanz Gottes auf seinem Angesicht. Ein stiller Mann, ohne viel Worte, aber für meine Erinnerung von unbeschreiblicher Freundlichkeit gegen jedermann. Wir haben ihm sehr nachgetrauert. Am Eingang in den Friedhof, gleich zur rechten Hand, ist sein Grab zu finden mit dem Spruch darauf: „Ich will lieber der Tür hüten in meines Gottes Hause denn wohnen in der Gottlosen Hütten.”
Der Glockenläuter Waltemath! Er zog die Glocke während des Vaterunsers am Schluß des Gottesdienstes und zog sie die Woche über dreimal täglich als Betglocke. Er war Hausknecht nebenan in Hermon. Bei einem Brande hatte er einen Kranken, der in der Verwirrung nicht wußte, wohin fliehen, gefaßt und den fast zwei Zentner schweren ungelenken Mann die 40 Treppenstufen hinunter und ins Freie getragen. Seitdem hatte er einen Herzfehler, der ihn unzählige Stunden Schlaf kostete, ihn oft mühsam um Atem kämpfen ließ, aber den Frieden Gottes ihm nicht nehmen konnte. Wie Simeon hat er in diesem Frieden seinen Kampf vollendet.
Der Organist Eppelsheim! Bis zur Prima hatte er es in seiner pfälzischen Heimat gebracht. Dann hatte die Epilepsie seinen irdischen Hoffnungen ein Ziel gesetzt, aber nur um sein Leben in unvergängliche Harmonien zu tauchen. Mehr als zwei Jahrzehnte hat er uns davon auf der Orgel Zeugnis abgelegt. Es störte uns nie, wenn manchmal die Töne durch einen Anfall Eppelsheims jäh abgerissen wurden. Und auch auf ihn paßten die Verse, die „Martin”, der bekannte Domprediger Lange in Halberstadt, in seinem schönen Liede auf den „Mönch und seine Freundin” sang:
Liederleben, Geisterleben
Bebte hin durch seine Adern,
Feuer strahlten seine Augen,
Tiefe, heil’ge Herzensglut.
Jesuslieder waren’s alle,
Siegsgewaltig, liebesfeurig,
Brautgesänge, Hochzeitsweisen,
Gottesstreiter Schlachtgesang.
Ei, wie brausten die Register,
Jauchzten hell die scharfen Zimbeln,
Donnerten die tiefen Bässe:
Ein’ feste Burg ist unser Gott!
Der Kassierer Lahusen! Während Vater Scheele am Hauptausgang die Kollektenbüchse aufhielt – es wurde bei jedem Gottesdienst eine Sammlung gehalten – , stand er bescheiden Sonntag für Sonntag mit seiner Büchse an einer Seitentür, um dann am Schluß die gesamte Kollekte zu zählen. In Südamerika, wo seine alte bremische Familie Besitzungen hatte, war ihm ein Blatt in die Hände gefallen, das über Bethel berichtete und um helfende Menschen bat. Eines Tages stand er in Vaters Stube und fragte: „Können Sie mich brauchen?” So trat er erst als Gehilfe des Kassierers Mellin, dann als sein Nachfolger in die Arbeit ein. Ein Jüngling im Silberhaar. Immer im Trab – wohl an die siebzig Mal stürzte er während der Jahre seines Aufenthaltes im Laufe und renkte sich dabei jedesmal seinen Arm aus. Immer hilfsbereit, die langen Rocktaschen voll Johannisbrot für die Kinder am Wege, ein verborgener Freund geängsteter Seelen, voll Lebenskraft und Lebenslust bis zum achtzigsten Jahr. Nun ruht auch er in derselben Reihe mit Vater Scheele und dem alten Mellin.
Und schließlich Schwester Lydia! Sie war wie eine Priesterin des Alten Testaments, die aber durchgedrungen ist in das Allerheiligste des neuen Bundes. Sie holte die Liedernummern und schrieb das Abkündigungsbuch. Sie hatte die Tücher auf den Altar zu legen und ihn zu schmücken. Sie besorgte das Taufwasser, führte Täufling und Paten an den Taufstein und leitete die Abendmahlsgäste mit stillem Wink an ihre Plätze. Und das alles tat sie mit einer Würde, Demut und Anmut, daß ihr Anblick tiefste Erbauung war. In ihrer Seele war eine glühende Treue gegen das irdische Vaterland und sein Königshaus vereint mit anbetender Hingabe an das Königreich Gottes. Mit engem Gewissen und weitem Herzen, in der Tiefe der Sünderschaft wurzelnd und in die Höhe der Gnade mit Gedanken, Empfindung und Willen emporsteigend, so ist sie der ganzen Gemeinde eine Purpurkrämerin Lydia gewesen (Apostelgesch. 16, 13–15), die unter uns mit den besten Stoffen handelte, die die Welt kennt.