Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 25
Gebet, so wird euch gegeben!
Vaters bereits erwähntes Wort „Die Anstalt gehört der ganzen Christenheit!” war aus seiner innersten Überzeugung heraus gesprochen. So sah er die Aufgabe der Anstalten und darum auch seine eigene Aufgabe an. Er für seine Person gehörte wirklich der ganzen Christenheit, ja der ganzen Welt stand er als Schuldner gegenüber. Seine Liebe kannte keine Grenzen, darum war auch sein Arbeitsfeld unbegrenzt. „Laßt es euch gern sauer werden!” konnte er uns gelegentlich zurufen. Es war in der Tat ein saures Leben, so von aller Welt vom Morgen bis zum Abend um Hilfe angegangen zu werden und niemals ein Ende zu sehen. Aber geklagt hat er nie darüber. Er ließ es sich wirklich gern sauer werden. Es war ihm immer eine Freude, wenn er um etwas gebeten wurde. Er machte es jedem leicht, ihm mit einem Anliegen zu kommen, welcher Art es auch war.
Wie konnte er uns unsere Wünsche, unsere kleinen und großen Nöte entlocken! Für sorgenvolle, traurige Angesichter, die in sein Haus kamen oder ihm unterwegs begegneten, hatte er immer das Auge der zartesten Liebe. Dann konnte seine Stimme den Klang annehmen, mit dem die Mutter ihrem verzagten Kinde seine Last, sein Geheimnis entlockt. „Hast du einen Kummer? Darfst ihn mir wohl sagen; – vielleicht nur ein Kümmerchen? ein ganz kleines Kümmerchen? Ich sage es auch niemand.” Manchmal wurde schon allein über solchem Klang der Kummer zum Kümmerchen, das Kümmerchen zum kleinen Kümmerchen und verschwand wie der Nebel im Schein dieser sonnenhaften Liebe.
Aber wer dann doch mit einem Schmerz, einem Anliegen, einem Wunsch herauskam – ungetröstet ging keiner von ihm. Er gab immer etwas. Er konnte natürlich nicht alle Bitten erfüllen, die an ihn herankamen. Aber ganz leer ging man niemals davon, es mochte nun ein Briefchen sein, das er einem aufgeregten Kranken an seinen Hausvater mitgab, oder ein Ratschlag oder ein kurzer väterlicher Zuspruch – etwas bekam jeder mit.
Und niemals war er in Hast. Auch wenn im letzten Augenblick der Abreise jemand kam, niemals gab es ein rasches Abweisen. „Liebes Herz, komm ein andermal wieder! Du siehst, ich habe jetzt knappe Zeit.” Aber eben wiederkommen, man durfte immer wiederkommen! Kam jemand mit äußeren Anliegen, so blieb es sein Grundsatz, nicht zu leihen, sondern entweder zu schenken oder Arbeit zu geben. Er hatte es seit Paris zu oft erfahren, daß man ihn immer wieder angeborgt, ihm aber fast nie zurückgegeben hatte. Natürlich machte er auch Ausnahmen von diesem Grundsatz, aber nur in sehr seltenen Fällen. Kam ein Schneider, der um Hilfe bat, so verfiel Vater immer wieder auf den Ausweg, sich eine Weste machen zu lassen. Einen ganzen Anzug konnte er nicht anwenden, aber eine Weste, eine Weste! „Lieber Freund, können Sie mir wohl eine Weste machen?” Als er seine Augen geschlossen hatte, war die unterste Lade seiner Kommode ganz voll von Westen!
Bei solcher Hilfsbereitschaft konnte es natürlich nicht anders sein, als daß sein Schreibtisch sich immer aufs neue füllte mit Bittbriefen der verschiedensten Art und sein Zimmer mit Bittstellern von nah und fern. Für die Beantwortung der brieflichen Bitten um Rat und Hilfe erstand ihm in Missionar Layer die stille, nie ermüdende Hilfe. Bei denen, die selbst kamen, sah er es schnell den Gesichtern ab, ob er ihr Anliegen in Gegenwart seines Sekretärs und des Kandidaten erledigen konnte oder ob es unter vier Augen geschehen müsse. „Geh ins Stübchen!” hieß es dann. „Ich komme.”
Begreiflicherweise konnte es auch geschehen, daß er nicht kam, sondern im Gedränge der Arbeit den Wartenden vergaß. Sechs Stunden lang hat einmal ein armer sorgenvoller Schuster im Stübchen unter dem großen aus Holz geschnitzten Kruzifix gesessen, ohne sich ans Licht zu wagen, offenbar in dem Gefühl, daß das geduldige Warten zum ersten Teil der Hilfe gehöre. Aber als er dann endlich entdeckt wurde, ist er doppelt getrost seine Straße gezogen.
Natürlich waren es nicht immer nur Personen, sondern auch allgemeine Anliegen, die an Vater herantraten. Eine Gemeinde möchte eine Eisenbahn-Haltestelle haben und bedarf der Fürsprache beim Ministerium. Ein Kirchbau ist ins Stocken geraten. Über ein Diakonissenhaus sind schwere Irrungen gekommen. Eine Anstalt ist zerfallen mit ihrem Vorsteher. Die Außenbezirke von Bielefeld haben Rat und Tat nötig zur Errichtung selbständiger Kirchengemeinden. In Ems sind die Kurgäste ohne geistliche Versorgung und bedürfen einer Kirche. Die Waisen und Witwen der südafrikanischen Buren leiden Mangel usw. Es ist unmöglich, die großen und kleinen Nöte aufzuzählen, die von nah und fern an ihn herandrangen. Aber wo er sich einer Sache annahm, da setzte er seine ganze Person ein, unter Umständen auch seine ganze Leidenschaft. Denn jede Lieblosigkeit, namentlich wenn sie im äußeren Gewande der Frömmigkeit kam, konnte sein Innerstes aufs tiefste erregen und sein Angesicht glühend, bisweilen sogar weiß machen vor Zorn.
Oft dauerte es Jahre, ja Jahrzehnte, bis im einzelnen Fall das Ziel erreicht, der Friede hergestellt, die Gemeinde aufgerichtet, die Kirche gebaut war – aber was einmal angefangen wurde, das wurde auch durchgeführt mit großer Zähigkeit und in dem ritterlichen Sinn, der sich gerade der Schwachen am liebsten annimmt und den Kampf nicht scheut.
Vaters unermüdliche Liebe – das konnte natürlich nicht ausbleiben – weckte Gegenliebe. Weil er selbst half, wo er nur konnte, darum wurde ihm auch geholfen. Weil er selbst sich so gern bitten ließ, darum gönnte er die Freude, gebeten zu werden, auch andern.
Schon in den ersten Jahren der Arbeit in Bethel kam einmal Georg Müller, der Vater der Waisen von Bristol, zu uns. Er sprach einen Abend in der Kapelle von Sarepta. Vater fühlte sich diesem Mann des Glaubens innerlich verwandt. Doch Müllers Meinung, daß man nur Gott, aber nicht Menschen bitten dürfte, billigte er nicht. Überhaupt hatte er die Überzeugung, daß Müller sich täusche, wenn er meinte, er bäte Gott, aber nicht Menschen. Müllers ausführliche Berichte über den Fortgang seiner Arbeit, vor allem aber seine immer erneuten Nachrichten über die wunderbare Erhörung seiner Gebete waren in Vaters Augen ganz deutliche Bitten, die an Menschen gerichtet wurden, wenn auch in verhüllter Form.
Aber gerade diese verhüllte Form liebte Vater nicht. Er mußte an seiner Freude zu helfen alle teilnehmen lassen, und das konnte er nur, wenn er mit einer klaren, deutlichen Bitte an die Türen und an die Herzen klopfte. Darum trat er auch stets für die Notwendigkeit und das Recht der Hauskollekten ein und wurde nicht müde, die Berufskollektanten, die tagaus, tagein in Hitze und Frost und Regen ihre Sammelwege gingen, für ihren mühseligen, entsagungsvollen Dienst zu ermuntern. Daß er nur im Aufblick zu Gott bei den Menschen anklopfen konnte, verstand sich für ihn von selbst.
Wie oft trat er mitten aus der Arbeit ganz unvermerkt an sein Fenster! Wir wußten, was da vor sich ging. Aber es blieb sein und auch unser Geheimnis. Von seinem persönlichen Gebetsleben hat er nie gesprochen. Er hat die großen Verheißungen, die dem Gebet geschenkt sind, immer wieder vor der Gemeinde und im Familienkreise gepriesen, aber nie zum Gebet gedrängt. Er wußte, daß dies Größte, Heiligste, Gewaltigste, durch das Erde und Himmel bewegt werden, ohne alles Zutun eines Menschen entsteht. Darum waren ihm auch die öffentlich abgekündeten Gebetsversammlungen wesensfremd. Für ihn war das Gebet das große Vorrecht der Gemeinde, des Familienvaters, jedes einzelnen Christen und der kleinen verborgenen Häuflein, aber eine öffentliche Abkündigung des Gebetes liebte er nicht und nahm darum auch nicht an diesen Veranstaltungen teil.
Die große Zuversicht aber, mit der er in der Verborgenheit oder mit der ganzen Gemeinde Gott um seine Hilfe bat, machte ihn nun auch zuversichtlicher, die Menschen zu bitten. Was er Gott gesagt hatte, warum sollte er das nicht Menschen sagen? Da kannte er keine Grenzen und kein Geheimnis. Die Hilfe, die er suchte, war nicht Geld, sondern Menschen. „Ein Tröpflein Liebe”, sagte er oft, „ist mehr wert als ein ganzer Sack voll Gold.” Um Liebe warb er. Hatte er sie gewonnen, so waren natürlich Geld und Gut und jede Art irdischer Hilfe auch gewonnen. „Ich suche nicht das Eure, sondern euch”, das drang durch alle seine Bitten hindurch. Und wie taten sie unbeschreiblich wohl! Hier wurde das Herz in seiner Tiefe bewegt. Hier wurde der Mensch nicht immer wieder erinnert an sein armes, totes Geld, sondern befreit von seinem Geld, emporgehoben über sein Geld und zu lebendiger Mitarbeit berufen mit allem, was er war und hatte.
Dieser persönliche Klang zog sich durch alle seine Berichte. Man fühlte ihnen ab: sie sind nicht mit der Absicht geschrieben, Geld herauszuschlagen. Sie gingen tiefer als ins Portemonnaie, sie drangen ins Gemüt, ins Gewissen, in die Welt der Gedanken und des Willens, in das Innerste der Person. Und immer waren sie so geschrieben, daß auch der Geringste sie verstehen konnte.
Schon in Basel hatte er die Batzen-Kollekte kennen gelernt. So führte er kurz nach seinem Eintritt in Bethel die Pfennig-Kollekte ein. Jedesmal zehn Freunde der Arbeit erklärten sich bereit, wöchentlich fünf Pfennig für die Pflege der Epileptischen beizusteuern. Einer von den zehn übernahm das Einsammeln und die Verbindung mit Bethel. Oft war es eine Witwe oder ein Krüppelkind, die den Mittelpunkt eines solchen kleinen Kreises bildeten, wöchentlich von Haus zu Haus zogen, um die Gaben in Empfang zu nehmen, und alle Vierteljahr das Blatt mitbrachten, das aus der Arbeit in Bethel berichtete.
Nie ging Vater auf mächtige, wohlhabende, angesehene Persönlichkeiten in erster Linie aus, sondern immer vor allem auf die Kleinen, Schwachen, Geringen. Es besuchte ihn einmal ein Pastor, der für ein großes Hilfswerk eine Stadt nach der andern bereiste, aber nur zu den Reichen ging, nur große Gaben wünschte und auch bekam. Aber es waren nur einmalige Gaben. Nach kurzer Zeit brach das Werk zusammen. Es war nicht in der Tiefe gegründet gewesen. Vater konnte umgekehrt eher erschrecken, wenn er eine ganz große Gabe bekam. Wie, wenn das bekannt würde?! Dann würden seine kleinen Gehilfen und Mitarbeiter hin und her im Lande denken können, ihr Dienst sei jetzt unnötig, während doch gerade aus den kleinsten und verborgensten Quellen und Rinnsalen der Strom entstand, der die immer wachsende Last des Elends, die sich in Bethel sammelte, auf starkem Rücken trug.
Diese Überzeugung, daß die kleinsten Mithelfer die sichersten seien, gab dann auch wieder und wieder die glückliche Form für seine Bitten. Als es sich um den Bau einer Wasserleitung handelte, berechnete er genau die Wassermenge und die Kosten der Leitung. Es stellte sich heraus, daß die neue Anlage täglich 50 000 Liter liefern würde und daß zu ihrer Fertigstellung rund 50 000 Mark nötig seien, also für jeden Liter eine Mark. Damit war die Bitte gegeben:
„Ein Liter kalten Wassers!
Vor zehn Jahren haben die Freunde der epileptischen Kranken uns schon einmal ein köstliches Weihnachtsgeschenk gemacht in Gestalt eines frischen Wassertrunkes, da sie uns eine Gebirgsquelle kaufen und in unsere Anstalten leiten halfen. O wie dankbar waren wir, als zu Weihnachten das frische Wasser in unsern Häusern plätscherte! In den zehn Jahren ist aber die Zahl unserer Anstaltsglieder von 1000 auf 3000 Seelen gewachsen, und was damals reichte, reicht heute längst nicht mehr. Aus vielen Häusern dringt mir jetzt, sooft ich mich sehen lasse, der Ruf entgegen: „Wasser! Wasser!” Wer jemals diesen Ruf von den Lippen armer Verwundeter und Sterbender in den heißen Schlachttagen 1866 und 1870 vernommen hat, der vergißt ihn nie! Aber auch in Friedenstagen tut ein solcher Ruf weh. Frisches Wasser ist namentlich für Kranke eine sehr große Wohltat.
Brunnen graben hilft bei uns nichts, sie versiegen im Sommer. Wir haben, um uns zu helfen, eine zweite Wasserleitung aus dem Gebirge zu legen beschlossen. Dazu aber mußten wir in den sauren Apfel beißen und einen kleinen Bauernhof kaufen, der ein Recht auf das Wasser hatte und der auf keine andere Weise das Wasser abgeben wollte. Das wird ja nun freilich teures Wasser! Mit den Kosten der Leitung müssen wir mindestens 50 000 Mark dafür ausgeben, bekommen dann aber auch täglich 50 000 Liter köstliches Gebirgswasser, also für je eine Mark Anlagekapital täglich für alle Zeit einen Liter Wasser und das ohne jede Arbeit hoch in alle Häuser hinein und außerdem den kleinen Bauernhof mit drei Häusern im Gebirge, die wieder einem kleinen Teil der immer noch so großen Zahl wartender Kranker eine so erwünschte Heimat gewähren können.
Immerhin wird es uns sehr schwer, neue 50 000 Mark Schulden auf uns zu laden. Damals haben uns etwa 12 000 Geber je 50 Pfennig geschenkt und uns so die große Weihnachtsfreude bereitet. Wie wäre es, wenn jetzt jeder Leser sammelte, um für alle Zukunft täglich unsern armen Kranken einen Liter frischen Wassers zu reichen! Wäre das nicht ein liebliches Weihnachtsgeschenk? Ich halte es nicht für unmöglich, daß Gott uns wiederum diese Freude bereitet, und ich wage zu bitten: Frisch ans Werk!
Den Dank überlassen wir dem, der gesagt hat: Wer dieser Geringsten einen mit einem Becher kalten Wassers tränket, wahrlich, ich sage euch, es wird ihm nicht unbelohnt bleiben.”
Einen Liter, das konnte jeder; diese Freude konnte sich auch der Geringste bereiten. Aber gerade weil die Bitte sich so zu dem Geringsten hinunterbeugte, war auch der Wohlhabende gefaßt. Konnte der Kleine einen Liter geben, dann konnte der Vermögende zehn, zwanzig, fünfzig, hundert Liter schicken. So floß bald die Wasserleitung über. Und viele neue Freunde, die bis dahin den Aufgaben von Bethel fernstanden, waren hinzugewonnen.
Als die erste Nachricht über die große ostafrikanische Hungersnot nach Berlin kam, ließ sich Vater von Missionar Döring die soeben eingegangenen Berichte auf dem Bahnhof in Berlin an den Zug bringen, um sie auf der Heimreise zu studieren. Ich mußte ihm einen Bericht nach dem andern vorlesen. Dann saß er lange mit geschlossenen Augen in der Ecke. Schließlich sagte er: „Schreib mal!” In kurzen ergreifenden Zügen schilderte er die Hungersnot und ihre Folgen. Was sollte geschehen? Sofort sollten die Missionare an der Küste Nahrungsmittel und Kleidung aufkaufen und überall den Eingeborenen gegen Arbeit abgeben. Steine sollten aus den Wegen geschafft, aus den Feldern geräumt und auf Haufen getragen werden, damit Häuser und Schulen und Kirchen daraus gebaut werden konnten. Also „Brot für Steine”. Als er fertig war, sagte er: „So, nun habe ich 100 000 Mark.” Er kannte die Herzen der Kleinen, der Armen, der Schwachen, die selbst etwas von Not und Druck wußten. Den Lohn für einen Stein, der draußen in Afrika einem hungernden Kinde ausgezahlt wurde, konnte auch das ärmste Kind sich von seiner Mutter ausbitten. Wer aber mehr geben wollte, dem waren ja keine Schranken gesetzt. In der Tat kam gerade die deutsche Kinderwelt durch diese Bitte in Bewegung. Jeder wollte helfen, damit für Steine Brot gekauft und der Hunger gestillt werden könnte. Und als schließlich die Hungersnot zu Ende ging, blieb noch so viel übrig, daß auch die sterbenden Familien der Buren in Südafrika mit versorgt werden konnten.
Wenn solche Bitten in die Welt hinausgingen, gab es Anstalten, deren Leitungen erschraken: „Gräbt Bodelschwingh uns nicht das Wasser ab?” Nicht immer blieb es nur bei solchen Schrecken und Befürchtungen stehen; es kam auch zu Verwahrungen, zu Protesten. Vater hatte dafür keine Empfindung. Er sah in solchen Befürchtungen einen verkehrten Sorgengeist, eine geheime Fesselung durch den Mammon. Ihm lag ja gar nicht am Gelde, ihm lag immer an der Liebe. Und die Liebe zu entfachen, war nicht nur erlaubt, das war Pflicht, das kam ja aller Welt zugut, nicht nur ihm und seiner besonderen Aufgabe. Er war überzeugt, daß diejenigen Missionsgesellschaften, die sich in ihrem Gebiet abschlossen und andere ausschlossen, gegen ihr innerstes Wohl handelten. Nur ja der Liebe keine Schranken setzen!
Und wenn man jetzt zurückschaut, so wird es in der Tat in den letzten hundert Jahren wenige Menschen gegeben haben, vielleicht keinen, die so wie Vater Liebe zu wecken wußten, Liebe, die nicht nur irgend einem kleinen Sonderbereich zugute kam, sondern die überall, wo in der Heimat oder in der Heidenwelt eine Not sich zeigte, zur Hilfe willig war. Darum wollte er nichts davon wissen, daß wohltätige Unternehmungen oder Missionsgesellschaften bestimmt umgrenzte Interessengebiete für sich allein in Anspruch nahmen und jedem andern den Zugang wehrten.
Das hat sich auch in der engeren Heimat Bethels, im Ravensberger Lande, gezeigt. Als die Anstalt gegründet wurde, stand mancher der führenden Männer des Landes mit Sorge beiseite. Würden die Werke der inneren und äußeren Mission, die im Lande angefangen waren, nicht durch das neue Unternehmen zu leiden haben? Das Gegenteil ist Wirklichkeit geworden. Zu den bestehenden Anstalten im Lande sind nicht nur die von Bethel hinzugekommen, sondern noch eine nicht geringe Anzahl neuer Pflegestätten, wie die schon erwähnte Anstalt Pastor Krekelers im Wittekindshof und die unter Pastor Siebold zu einem selbständigen Zweige gewordene Waisen- und Fürsorgeanstalt Eickhof in Schweicheln und viele kleine Pflegehäuser in einzelnen Gemeinden. Sie leben alle und werden leben, solange und in dem Maße, als Glaube und Liebe da sind.
Für die Freudigkeit und Willigkeit der Freunde im Lande war es natürlich von großer Bedeutung, daß sie wissen konnten: Man geht mit der Hilfe, die wir bringen, in Bethel sorgsam um. Vater selbst hätte nicht mit solch freudigem Gewissen immer wieder bitten können, wenn er nicht innerhalb der Anstalt unablässig zu größter Treue gegenüber dem anvertrauten Gut angehalten hätte.
Und die Kräfte der Freunde konnten nur wachgerufen und wachgehalten werden, wenn auch in Bethel selbst immer wieder alle Kräfte willig und munter blieben. Als die Wasserleitung gebaut wurde, sah man Vater, seinen ältesten Enkel an der Hand, beide mit dem Spaten auf dem Rücken, an die Arbeit ziehen, um den Graben für die Wasserleitung ausgraben zu helfen. Natürlich wollte jetzt keiner zurückstehen. Es war ein Helfen und Wetteifern von Kranken und Gesunden, bis die ganze 2500 Meter lange Leitung aus dem Berge herangeführt und der Graben wieder zugeworfen war. Aber wenn dann Vater abends die Leitung entlang ging und fand noch Arbeitsgeschirr, das nicht weggenommen war, wie konnte er dann noch denselben Abend an den Hausvater, der mit seinen Leuten an der betreffenden Strecke gearbeitet hatte, ein Briefchen schicken, das durch Mark und Bein ging!
Und doch war diese Sorgsamkeit im Kleinen nicht kleinlich. Ein enges Gewissen und ein weites Herz blieben miteinander geeint. Er blieb der Vater. Es war nichts vom Aufseher, vom Aufpasser in ihm. Er erzwang nicht mit Gewalt eine Treue im Kleinen, wo er sah, daß sie Zeit haben müsse zu wachsen. Und nie sollte die Sparsamkeit die Freude und die Schönheit und den Frieden beschränken. Hätte er immer Zeit gehabt, sich jedes einzelnen Baues anzunehmen, so wäre mancher einfacher ausgefallen. Aber er ließ auch dem Baumeister Freiheit und beschränkte seine Freudigkeit nicht.
Für das Vertrauen der einzelnen Mitarbeiter am Elend aber war es schließlich von großem Wert, zu wissen, daß ihre Schultern nicht mit Aufgaben belastet wurden, die eigentlich von andern hätten geleistet werden müssen. Darum zog Vater von Anfang an und wo er nur konnte, die staatlichen Organe zu Mitarbeitern heran. Aber auch seine Eingaben an die Behörden trugen immer den persönlichen Ton, der an die Herzen drang.
Und immer unterstützte er die schriftlichen Bitten dadurch, daß er selbst kam. So suchte er einige Herren des Provinzial-Landtages in Münster morgens früh in ihrem Hotel auf, noch ehe sie aufgestanden waren, brachte ihnen ihre Stiefel ans Bett und gewann sie dann für seine Anliegen. „Sie sind ein gefährlicher Mensch”, sagte ihm einmal der Finanzminister Miquel, der pflichtgemäß immer die Sache vor die Person stellte, aber sich doch der persönlichen Glut nicht entziehen konnte, mit der Vater seine Angelegenheit vertrat.
Wie bei den Freunden im Lande, so war es auch, wenn er in die Regierungsgebäude, die Konsistorien und Ministerien kam, immer seine Art, von unten anzufangen. Die Pförtner, die Kanzlisten waren seine besonderen Freunde. Sie kannten ihn alle, sie taten ihm alles zu Gefallen. Sie wiesen ihm die Wege zu den Räten und Geheimräten, an die er sich im einzelnen Falle zu wenden hatte, und von diesen stieg er dann auf zum Präsidenten und Minister. Dieser Einfalt der Liebe, mit der Klugheit der Schlange gepaart, konnte auf die Dauer niemand widerstehen. Sie machte sich alle untertan, sodaß der Regierungspräsident von Minden im Blick auf sich und seine Beamten einmal scherzend sagte: „Wir haben die Ehre gehabt, unter Herrn von Bodelschwingh zu dienen.”
Einmal kam von Oberschlesien her ein epileptischer Knabe, Ferdinand Hintze, ganz allein angereist, nur mit einem Schild auf der Brust, auf dem die Bahnbeamten gebeten wurden, dem Jungen auf der Reise behilflich zu sein. Der kleine Ferdinand war denn auch von allen Zugführern und Schaffnern so freundlich behandelt und sicher geleitet worden, daß er bis an sein Lebensende nichts anderes werden wollte als Zugführer. Dieses Pappschild schickte Vater dem Eisenbahnminister ein, erzählte ihm, wie es dem Jungen ergangen sei und wie dankbar dieser wäre für alle ihm widerfahrene Hilfe, und schloß daran die Bitte, daß der Minister in den Fußtapfen seiner liebenswerten Beamten nun allen Epileptischen die große Liebe erweisen möchte, ihnen eine Fahrpreisermäßigung zu gewähren. Die Bitte schlug durch, sodaß seitdem alle Fallsüchtigen und andere mittellose Kranke mit ihren Begleitern zu halbem Preise reisen können, eine Wohltat, die Vater schon einige Jahre vorher allen deutschen Krankenpflegern und – pflegerinnen beider Konfessionen erkämpft hatte.
So wurde er der Bettelmann, von dem die Kinder deklamierten: „Edelmann, Bedelmann, Doktor, Pastor, Kutscher und Bauer und Lumpenmajor.” Und wenn er ein Bettelmann war, der immer wieder kommen durfte, so lag das an seiner tiefen Dankbarkeit. Er durfte bitten, weil er danken konnte. Und auch beim Danken dankte er immer für die Liebe, nie bloß für das Geld. Den Geber meinte er, nicht nur seine Gabe. Ganz unabsehbar ist die Fülle der Briefe, die er bittend und dankend schrieb und die doch immer wieder einen neuen Klang hatten, weil ihm Bitten und Danken nie zum Geschäft wurde, sondern zur täglich neuen Freude, die Gott ihm schenkte. So finden sich in dem Heft der Stenogramme aus Dezember und Januar 1891/92 u. a. folgende Diktate:
An Herrn Clemens Fischer, Bremen.
16. 12. 91.
Hochverehrter Herr!
Glauben Sie ja nicht, daß ich mich durch Ihre und Ihrer Mithelfer Gabe enttäuscht fühle. Wenn die Wohlhabenden und Reichen dieser Welt überall so willig wären, Becher kalten Wassers einzuschenken, wie Sie es gehofft haben, so würde das nicht gut für uns sein. Wir würden aufhören, arme Leute zu sein. Das Armsein ist uns recht nötig.
Ich habe neulich einmal an 57 Millionäre geschrieben und einen Beitrag erbeten für ein Krankenhaus in Ostafrika, wo drückende Not herrscht und das wir auch mit unsern Brüdern und Schwestern bedienen, die ihr Leben daran wagen. Aber von allen 57 habe ich keinen Pfennig für diesen Zweck empfangen. Da muß ich Ihre Ernte doch noch als eine verhältnismäßig reichliche ansehen und danke Ihnen doppelt für Ihre Liebe. Gott schenke Ihnen ein fröhliches, seliges Weihnachtsfest und eine Liebe, die nicht müde wird, auch wo man Enttäuschung erfährt.
Ihr Ihnen und allen Helfern Ihrer und unserer Freude innig dankbarer
B.
Zusatz zur Weihnachtsbitte für das Bielefelder Sonntagsblatt. 1891.
Übrigens möchten wir nicht allein für uns hier bitten, sondern ebenso für alle andern Anstalten der Innern Mission, die einem jeden der lieben Leser die nächsten sind. Außerdem möchte ich auch wiederum gern unsere Westfalen an einen fernen Westfalen erinnern, den Hausvater Meyer in Osterode in Ostpreußen mit seinen ostpreußischen Waisenkindern. Er hat seit vielen Jahren sich Weihnachten freuen dürfen, daß Westfalen ihn nicht vergessen hat. Und der gleichen Liebe und alten Treue empfehle ich auch das Waisenhaus Ducherow in Pommern.
An acht Geschwister in Berlin.
16. 12. 91.
Meine geliebten Kinder!
Wie freue ich mich, daß Ihr auch in diesem Jahre wieder treu gewesen seid. O ja, Treue ist eine ganz besonders köstliche Sache vor Gott. Er wolle Euch alle acht treu machen in allen Stücken, in der Liebe zu Gott und zu Euren lieben Eltern, aber auch in der Liebe zum Nächsten. Er wolle Euch treu machen im Gehorsam, treu in der Arbeit, treu im Glauben bis ans Ende. Wie freue ich mich auch, daß ich am Weihnachtsabend unsern lieben Kranken sagen kann, daß Ihr wiederum um ihretwillen ein Jahr willig den süßen Zucker entbehrt habt, um ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest bereiten zu helfen. Ich schicke Euch hiermit einige Büchelchen und Bildchen von unserer Anstalt. Grüßt mir auch Euren lieben Vater und Eure liebe Mutter und dankt ihnen auch herzlich, daß sie zu Eurer Gabe das gleiche zugelegt haben.
Es gedenkt Euer in dankbarer Liebe Euer
B.
An Fabrikarbeiter in Iserlohn.
18. 12. 91.
Unter den mancherlei schmerzlichen Erfahrungen von Gleichgültigkeit gegen die Not der Brüder ist es mir eine ganz besondere Ermunterung und Stärkung in unserer Arbeit gewesen, daß in Iserlohn unter denen, die selbst nicht reich an Gütern dieser Welt sind, ein solches Liebesfeuer erwacht ist, an unsere armen Kranken zu denken. Wer selbst arm ist, weiß auch am besten, wie es andern Armen zu Mute ist. Ich will unter dem Weihnachtsbaum unsern Kranken erzählen, was Iserlohner Fabrikarbeiter für sie tun. Das wird unsere Kranken erfreuen und beschämen und dazu dienen, daß sie desto stiller und geduldiger ihr schweres Leiden tragen.
Es grüßt Sie alle in dankbarer Liebe und wünscht Ihnen ein reich gesegnetes, friedevolles Weihnachtsfest
Ihr B.
Liebe Dorothea, liebe Gertrud!
24. 12. 91.
Ich habe Euer kleines Paket bekommen und danke Euch herzlich für die 10 Mark, die Ihr für 10 Liter Wasser Euch gespart habt. Und ganz besonders danke ich Gertrud für das Hemdchen, das sie in der Schule genäht hat. Ich will es heute gleich nach dem Kinderheim tragen. Da will ich es einem kleinen schwarzen Heidenkind schenken, das vier Jahre alt ist und dem es gerade paßt. Es ist schade, daß Ihr heute nicht einmal eine Stunde in Bethel sein könnt. Da würdet Ihr etwas sehen, was Ihr noch nie gesehen habt. Da werden viele, viele hundert Kinder und Kranke an dem schönen Kripplein um den Weihnachtsbaum versammelt sein und viele schöne Lieder singen, und am Schluß wird die kleine Heidin, der ich das Hemdchen schenken will und die jetzt Fatuma heißt, getauft werden. Ein schwarzer Soldat hatte sie in Afrika gestohlen und wollte sie wie den kleinen Joseph nach Ägyptenland verkaufen. Das hat der Schiffskapitän gemerkt und sie dem Soldaten abgenommen und uns mitgebracht. Und die kleine Fatuma hat sehr schnell den Heiland liebgewonnen und ist sehr fleißig und treu im Kinderheim, die andern kranken Kinderchen zu pflegen. Nun soll sie heute abend den Namen Elisabeth bekommen.
Es grüßt Euch und Eure lieben Eltern
Euer dankbarer4. 1. 92.
Mein teurer und geliebter Bruder und väterlicher Freund!
Ihre Simeonsgabe habe ich richtig erhalten, und unsere Kranken danken auch für diese Liebe auf das herzlichste. Der barmherzige Gott wolle den Spätabend Ihres Lebens, wo die irdische Sonne nicht mehr leuchten will, mit dem Morgenrot seines ewigen Lichtes hell machen, bis der Tag anbricht, dem kein Tag gleicht und wo alles, was hier noch dunkel ist, sich in volles Licht verwandelt.
In alter dankbarer, treuer Liebe
Ihr B.
An den wenigen Feierabenden, die ihm blieben, ließ er sich von uns vorlesen und unterschrieb währenddessen die Dankkarten. Es war oft nur ein einziger Satz, aber es lag ein Ton darin, der bis in den Grund der Seele wohltat.
Wer aber einmal in den Kreis der Freunde und Mitarbeiter eingetreten war, und wenn es auch nur mit der kleinsten Gabe gewesen wäre, dessen Liebe wurde festgehalten und gepflegt. „Lassen Sie mich Ihre Hand recht fest fassen”, so bat Vater immer wieder. Aber er konnte das nur, weil ihm viele treue Hände zur Seite standen. Wie die Baseler Mission ihm für die geschäftliche Leitung der Anstalt immer wieder Mitarbeiter gab, deren Treue und Tüchtigkeit auf dem indischen und afrikanischen Missionsfelde erprobt war – welche Fülle unermüdlichster Arbeit schließen auf diesem Gebiet die Namen Ostermeyer und Kehrer in sich! – so war es die Barmer Mission, durch die Missionar Heienbrok nach Bethel kam. Als Leiter des „Dankortes” blieb Heienbrok, unterstützt von einem Stabe treuer Mithelfer, immer erfinderisch, den Kreis der Freunde im Lande zu pflegen und sie durch die Schriften, die vom Dankort ausgingen, immer fester und enger an die gemeinsame große Aufgabe zu fesseln.
Die letzte Bitte, die Vater durch den Dankort aussandte, hieß:
Weihnachten!
Ein von 37 Jahre langem Bitten fast müder Mann, der dicht vor seinem 80. Lebensjahr steht, stellt sich notgedrungen noch einmal an die Spitze seiner großen Schar von Fallsüchtigen, Geisteskranken, Obdachlosen und verlassenen Kindlein und bittet in ihrem Namen: Vergeßt unser auch zu Weihnachten nicht!
Unter unsern nahezu 4000 Pflegebefohlenen haben viele niemand mehr, der zu Weihnachten an sie denkt. Darum darf ich ganz besonders für sie meine Hände ausstrecken nach den alten treuen Mithelfern unserer Weihnachtsfreude!
Ich freue mich, daß ich noch einmal diese vielleicht letzte Bitte für meine lieben Pflegebefohlenen wagen darf, und bin dankbar auch für die kleinste Gabe. Auch Spielsachen, Wäsche, Kleider, überhaupt Gaben jeglicher Art sind, je früher desto lieber, mit Freuden willkommen.
Es grüßt alle treuen Freunde in allen Landen, die im Namen des großen Freudenmeisters Herzen und Hände regen für unseres kranken, aber doch fröhlichen Weihnachtsgäste, und wartet auf die Stunde, wo die ewige große Weihnachtsfreude anbricht,