Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 26
F. v. Bodelschwingh, P. em.
Bethel, Weihnachten 1909.
Ruhezeiten
Die große Arbeitslast hätte Vater nicht bewältigen können, wenn ihm nicht seine Eltern eine ungemein sonnige Naturanlage mitgegeben hätten. Namentlich sein Vater konnte auch in den schwersten Lagen frohgemut sein wie ein Kind. Seine Mutter neigte dazu, die Dinge schwer zu nehmen. Aber wie erzählt, war sie in der Zeit, in der sie ihren kleinen Friedrich erwartete, von ganz besonderem Gleichmut und innerem Frieden gewesen, sodaß Friedrich von Jugend auf unter seinen Geschwistern der zufriedenste und glücklichste war.
Wie haben denn auch wir Kinder diese Freude und dies Glück genossen! Wenn Vater abends von seinen Krankenbesuchen nach Hause kam, dann packte er wohl den Kleinsten von uns, warf ihn in hohem Schwung über seine Schulter, setzte ihn rittlings auf seinen Kopf, sprang und sang in der Stube herum, bis er den kleinen Reiter mit hohem Kopsdebolder wieder auf die Erde beförderte. Oder er ließ uns Größere der Reihe nach antreten, stellte sich mit ausgebreiteten Händen hinter uns und ließ uns dann in seine Arme fallen. Dabei kam es darauf an, daß man es wagte, sich ganz tief, ohne mit den Füßen rückwärts zu treten, fallen zu lassen, den sicheren Händen des Vaters vertrauend. Wer sich am tiefsten fallen ließ, ohne zu zucken, der hatte gewonnen.
Zuweilen des Sonntags baute er auch mit uns und unserm geliebten alten Baukasten einen hohen Turm bis unter die Decke. Abends kam dann die Hauptfreude: das Sisemännchen. Er hatte aus der Zeit, wo er in Pommern hier und da einmal einen Hasen geschossen hatte, noch eine Schachtel mit Pulver übrigbehalten. Daraus nahm er eine kleine Menge, rührte sie mit Wasser an und formte sie zu einer Pyramide, die er dann hinter dem Kachelofen langsam trocknen ließ. Abends, wenn es dunkel geworden war, wurde ein Stückchen Feuerschwamm an einen Stock befestigt, das Sisemännchen oben auf den Turm gesetzt und mit etwas frischem Pulver bestreut. Jetzt kam der feierliche Augenblick, wo Vater den Feuerschwamm anzündete, den Stock mit dem brennenden Schwamm dem Kleinsten in die Hand drückte und ihn in die Höhe hob. Mit verhaltenem Atem standen wir andern um den Turm her, langsam näherte sich das glühende Stückchen Schwamm der kleinen Pyramide. Jetzt – si … i. i. i. i zischte das Pulver auf, und, nach allen Seiten hin spuckend, sprühend und dampfend, verzehrte sich das kleine Sisemännchen in seiner eigenen Glut.
Zu Ostern gab es natürlich ein Osterfeuer mit den in der heißen Asche gerösteten Kartoffeln, die die Eltern besonders liebten. Die Krönung des Festes aber war allemal der Böllerschuß aus der kleinen Kanone. Sie war aus Messing und nicht länger als ein Finger. Aber das ganze Jahr über freuten wir uns auf den Augenblick, wo sie am Abend des Ostertages von Vater in Tätigkeit gesetzt wurde. Wieder mußte der Kasten mit Pulver herhalten, aus dem sie geladen und dann mit Papier zugepfropft wurde. Dann kam wiederum ein kleines Stückchen Feuerschwamm auf einen Stock, über das Mundloch wurde ein bißchen Pulver geschüttet – und nun – bumm – knallte der Schuß, daß es durch Mark und Bein ging. Aber ehe wir es uns versahen, war Vater auch schon wieder verschwunden und sann über seiner Predigt für den zweiten Ostertag. Uns aber blieb in Erinnerung an solche kurzen Augenblicke ein unbeschreibliches Gefühl des Glückes und der Dankbarkeit.
Denn wenn er sich uns gab, dann gab er sich ganz, dann waren alle Lasten abgeschüttelt, dann war er ein Kind unter uns Kindern, ein Junge unter uns Jungen. Das machte ihm überhaupt sein Leben leicht, daß er bei allem ganz war. Wenn ein armer Kranker in die Stube kam, dann konnte er sich von allem, was ihn beschäftigte, losreißen, sodaß der Kranke spürte: Hier ist nun wirklich einer, der sich meiner Sache ungeteilt annimmt, hier ist mein nächster Freund, mein hingebendster Berater, dem mein Anliegen gerade so wie mir selbst die eine große Hauptsache ist, um die sich alles dreht.
Aber auch bei den kleinen und kleinsten Dingen ging es Vater so, nicht aus einer Überlegung, sondern aus dieser glücklichen Naturveranlagung heraus, sich einem einzigen Gegenstand ganz hinzugeben. Wenn im Vorfrühling die Stare kamen und auf dem Rasenplatz vor unserm Fenster auf- und abstolzierten, dann war er ganz versunken in sie, schwatzte mit ihnen, pfiff ihnen was vor und jauchzte über die Pracht ihres Gewandes, das in der Frühlingssonne in allen Farben glänzte. Oder wenn die Grasmücke draußen vor dem niedrigen Treppenfenster ihre Jungen ausgebrütet hatte, dann lag er auf seinen Knien in dem geöffneten Fenster, bog den Ast mit dem Nest behutsam zu sich herüber und unterhielt sich in den süßesten Tönen mit den Kleinen im Nest, als wenn er ihr Vater wäre und nichts anderes zu tun hätte, als für die Kleinen zu sorgen.
Aber im nächsten Augenblick war er schon wieder ganz in andere Gedanken versunken. Und wie tief konnte er versunken sein in die Sache, die ihn beschäftigte. Dann hörte und sah er nichts um sich her. Dann vergaß er Essen und Trinken. Dann suchte er seine Brille und hatte sie auf der Nase, dann eilte er mit fremdem Hut und fremdem Mantel davon, ohne es zu merken, wie ein glückliches zerstreutes Kind, das ganz von einem einzigen Gegenstand gefesselt ist und die Welt um sich her vergißt.
Seine beste Ruhezeit blieb natürlich die Nacht, nicht nur die Stunden des Schlafes, sondern auch die des Wachens. Und die schlaflosen Stunden nahmen mit den Jahren immer mehr zu. Aber auch sie genoß er dankbar und nutzte sie aus. „Wenn man”, schrieb einer seiner Kandidaten, „des Morgens zu ihm in sein Arbeitszimmer trat, machte er immer einen so frisch gewaschenen Eindruck, als wenn er sich auch von innen gewaschen hätte, nicht nur von außen.” Die wichtigsten Briefe, die er am andern Tage zu schreiben hatte, durchdachte er des Nachts, sodaß es oft wie ein Strom floß, wenn er morgens um sieben in sein Arbeitszimmer kam, wo sein treuer Sekretär mit nie versagender Pünktlichkeit schon auf ihn wartete, um die Stenogramme aufzunehmen. Aber war er des Nachts mit den Aufgaben des kommenden Tages fertig, dann plagte er sich damit auch nicht über das Ziel hinaus, sondern suchte den Schlaf, indem er im Gedächtnis ein Kapitel aus der Bibel wiederholte oder sich ein Kirchenlied vornahm. Es lag ihm immer daran, das Kirchenlied ganz zu beherrschen, ohne eine Strophe auszulassen, und er ließ sich keine Ruhe, bis alle Strophen beieinander waren. Wollte die eine oder andere gar nicht auftauchen, so nahm er schließlich sein Gesangbuch zu Hilfe, das immer neben der Bibel vor seinem Bette lag. Einmal war das Gesangbuch verlegt. Da zog er sich an, und unsere Schwester, die von dem Geräusch geweckt worden war, entdeckte ihn wie einen Nachtwandler, als er unten im Eßzimmer sich das Gesangbuch holte, weil er ohne die vergessene Strophe keinen Schlaf finden konnte.
Stellte sich der Schlaf auch dann noch nicht ein, so vertiefte er sich gern in irgend ein Buch, am liebsten Treitschke oder naturwissenschaftliche Aufsätze. Überhaupt blieb das Weltall gerade in diesen schlaflosen Stunden immer wieder der Gegenstand seiner Betrachtungen und Berechnungen. Dabei nahm er einen Kubikzentimeter Sand zu 100 000 Körnern an und rechnete nun aus, wieviel Sandkörner die Erde, die Sonne und andere Himmelskörper hätten. Beim Morgenfrühstück unterhielt er uns dann mit dem Ergebnis seiner nächtlichen Berechnung und den vielstelligen Zahlen, die er für die Riesenhimmelskörper gefunden hatte, und beides war der Gegenstand seiner Bewunderung: einmal wie unendlich groß die Welt sei und wie klein doch auch wieder, weil sich ihr Maß in einer einzigen Reihe von Nullen mit nur einer Eins davor ausdrücken lasse.
Auch im Gedränge des Tages war sein Schlafzimmer oft sein Zufluchtsort, wohin er sich zurückzog. Einmal erklärte er, er hätte nun keine Zeit mehr, sich zu rasieren, und ließ sich ein paar Tage lang die Stoppeln stehen. Aber schließlich gab er unsern vereinten Bitten nach, und die stillen zehn Minuten, die ihn oben im Schlafzimmer das Rasieren kostete, bildeten ihm allmählich eine immer liebere Unterbrechung im Getümmel des Vormittags. Fröhlich gingen während des Rasierens die Gedanken mit ihm durch, sodaß er, wenn er wieder im Arbeitszimmer erschien, häufig aus vielen Wunden blutete, die er mit kleinen Läppchen Papier zuzukleben pflegte.
Zur Mittagsruhe nach Tisch, während der er mit großer Aufmerksamkeit die Zeitung las, und ebenso zu den Vorbereitungen auf die Unterrichtsstunden suchte er gleichfalls am liebsten seine Schlafstube auf, und dann immer wieder zur stillen priesterlichen Arbeit für die eigene Seele und für die ganze Gemeinde. Einmal wartete jemand auf ihn, und ich suchte ihn oben. Ganz leise öffnete ich die Tür, um ihn nicht zu stören für den Fall, daß er ruhte. Da lag er auf seinen Knien vor seinem Bett. Ich schloß die Tür wieder, ohne daß er es merkte. Seitdem wußte ich mehr denn je, woher er die Ruhe hatte in aller Unruhe und zugleich die unermüdliche Tätigkeit, die alle mit sich fortriß.
In die Nächte hinein arbeitete Vater nur sehr selten. Die Abende waren ja freilich meist auch noch nach dem Abendbrot besetzt. Aber wenn es irgend ging, wurde doch noch eine halbe Stunde herausgeschlagen. Dann lasen wir vor, und Vater unterschrieb die den Tag über diktierten Briefe und Dankkarten. Dabei war es erstaunlich, mit welchem tiefsten Interesse er dem Vorlesen folgte, bis die Abendandacht den Schluß machte. Die Sonntagabende aber waren die glücklichsten. Dann hockte unser jüngster Bruder auf dem Sofa zwischen Vater und Vaters Schwester, der geliebten Tante Frieda, die einige Jahre nach der Mutter Tode zu uns gezogen war. Wir andern drei Geschwister saßen um den kleinen Tisch, und dann wurden Vater und Tante Frieda geneckt! Alte und neue Erlebnisse wurden hervorgekramt, an denen das entsagungsvolle Leben unserer geliebten Tante und die sich drängenden Ereignisse in Vaters Leben so reich waren. Alle wurden in das Licht des Humors, oft auch in das Salz der Kritik getaucht. Dann schmunzelte die alte Tante vor innerstem Behagen, und Vater prustete nach seiner Art in herzlichstem Lachen – bis er schließlich, wenn die Uhr zehn schlug, aufsprang: „Gute Nacht, gute Nacht, Kinderchen, ihr seid böse Buben!”
Dieses Familienglück erhöhte sich vollends, seit aus der Ravensberger Familie von Ledebur-Crollage eine Tochter nach der andern in unsere Familie eintrat. Die ritterliche Art, mit welcher Vater seinen Schwiegertöchtern begegnete, verwandelte sich mehr und mehr in überströmende zarteste Liebe als Dank für alles, wodurch die Lebensgefährtinnen seiner Söhne den Abend seines Lebens erhellten. Er erlebte es noch, wie die Schar der Enkelkinder anfing, ihn zu umspielen, und wurde nicht satt, sich an jedem einzelnen zu erquicken. „Solch einem geliebten kleinen Kindchen zu begegnen,” sagte er einmal, als ihm eins der Enkelkinder mit ausgebreiteten Ärmchen entgegenlief, „das ist mir geradesoviel wert, als wenn ich auf einen hohen, freien Berg stiege.”
Ruhepausen im täglichen Getriebe der Arbeit waren auch immer wieder die Tage und Stunden, wo aus der Ferne Gäste bei uns einkehrten, durch die neue Anregungen kamen oder alte Zeiten wieder lebendig wurden.
Schwester Eva von Tiele-Winckler! Es war jedesmal für Vater ein Trunk frischen Wassers, sooft sie kam. Immer stärker wurde die Hoffnung, sie ganz für die Arbeit in Bethel zu gewinnen. Und schließlich, als die Kräfte der alten Mutter Emilie in Sarepta eine Ergänzung verlangten, und nach deren Tode gab es wirklich mehrere Jahre gemeinsamer Arbeit. Nie seit dem Verlust unserer Mutter hat Vater glücklichere Jahre verlebt als die der gemeinsamen Arbeit und des Verstehens mit dieser hochgemuten Frau. Aber schließlich siegte bei ihr die Pflicht gegen die schlesische Heimat und die dort von ihr begonnene immer mehr wachsende Arbeit.
„Land meiner Heimat
In Nebel und Rauch,
Dir bleib’ ich treu
Bis zum letzten Hauch.”
Wie um ein fernes Kind hat Vater um sie gesorgt, für sie gebetet und sich an der Liebe erquickt, die sie wie eine Tochter ihm bis zuletzt erwies.
Tante Caroline von Zacha! Die Jugendfreundin der Mutter, mit ihrem jugendlichen Herzen, ihrem tiefen Verständnis und ihrem klugen Rat, der immer den Kern der Sache traf!
Hermann Wilm, der erste Senior des Konvikts, der, sooft er kam, mit seinem herzerfrischenden Humor alle die lieben Erinnerungen wachrief an die Frühlingstage der ersten Arbeit für Afrika und der doch nicht ruhte in der Erinnerung, sondern wie ein Sohn die gegenwärtige Freude und Last mit dem Vater teilte und zugleich mit ihm den Blick vorwärts richtete auf neues Hervorbrechen der Herrlichkeit Gottes.
Tage voll erfrischender Ablenkung brachte auch der Besuch des „Wassersuchers” von Bülow. Die Wasserleitung hatte schließlich doch nicht mehr für den immer stärker werdenden Wasserbedarf ausgereicht. So war an einer günstig erscheinenden Stelle ein Bohrloch geschlagen worden. Viel Zeit und Geld hatte man schon verbraucht, ohne daß die Bohrungen zum Ziel führten. Endlich bat Vater Herrn von Bülow, ihm die Liebe zu erweisen, uns aus der Verlegenheit zu helfen. Er kam wirklich, ließ seine Rute auf dem Felde arbeiten, wo bis dahin vergeblich gesucht worden war, und fand nach kurzer Zeit eine starke Quelle. Er stellte auch sofort die annähernde Tiefe fest, in der dann wirklich das reichlich sprudelnde Wasser gefunden wurde.
Zwei ständige Freunde von seltener Treue hatte unser Haus. Das war einmal unser Freund Nedden. Nedden stammte aus angesehener Familie, hatte mit Pastor Stürmer zusammen die Sexta des Gymnasiums besucht, war dann aber in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung stehen geblieben. Er arbeitete den Tag über unten in der Ökonomie, hauptsächlich mit dem Waschen der Rüben für die Kühe beschäftigt, und nur morgens und abends kam er zu kurzer Hilfeleistung in unser Haus. Alle Glieder schienen ihm verkehrt angewachsen zu sein, mühsam trug er den kleinen schweren Körper auf den schleppenden Füßen, und aus dem übergroßen Kopf schielten ein paar glanzlose Augen hervor.
Aber welches Feuer lebte in dieser unscheinbaren Gestalt, immer bewegt in Gedanken um die höchsten Dinge! Den Feierabend und Sonntag brachte er über seinen geschichtlichen Büchern zu, die er sich von uns holte. Die Erträge seiner Forschungen, in denen richtige und verkehrte Beobachtungen in der komischsten Weise durcheinandergemischt waren, teilte er dann in vertraulichem Gespräch teils unserm Vater, teils den andern Hausgenossen mit. Die Worte seiner Weisheit waren all die Jahre, die er bei uns aus- und einging, eine nicht endende Quelle der Erheiterung. Auch als seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten, blieb er der Hausfreund, der allemal an seinem Geburtstag im Rollstuhl an unserm Kaffeetisch erschien und mit größtem Behagen sich die kleinen Zeichen unserer Freundschaft und Dankbarkeit gefallen ließ.
Und dann Schwester Klara! Sie wohnte in dem kleinen Pförtnerhause der Anstalt, das hart an der Straße am Eingang in unsern Garten lag. Sie war der Cerberus, den jeder Besucher zu passieren hatte. Es war ein beständiger friedlicher Krieg zwischen ihr und Vater. Vater hatte ihren Dienst so gedacht, daß sie allen fremden Besuchern der Anstalt den ersten Weg zeigen, aber niemand abweisen sollte, der zu ihm selber wollte. Sie aber sah ihren Hauptdienst darin, Vater vor allem Anlauf zu schützen und jeden nicht wirklich notwendigen Besuch von ihm fernzuhalten. Dabei war sie grundsätzlich eher zu scharf als zu milde. Durch kein Bitten, durch kein Schelten, auch durch keinen Zorn des Vaters, der gelegentlich aufflammte, ließ sie sich von ihrem einmal eingeschlagenen Wege abbringen. Nur sie selbst weiß, wieviel sie in unsagbar stiller Treue und mit ihrem von Jahr zu Jahr kränker werdenden Herzen von Vater abgehalten hat.
Sie pflegte zwischendurch unsern kleinen Blumengarten und war vor allem ganz in der Verborgenheit die mütterliche Freundin mancher Epileptischen, die ihr Anliegen bei ihr ausschütteten. Nach Vaters Tode siedelte sie ins Feierabendhaus über, wo sie drei Jahre später unter schwerstem Leiden wie eine Heldin ein Leben der Treue beschloß.
Jedes Jahr einmal kam für Vater die eigentliche Ferienzeit. Das war die glücklichste Zeit für die ganze Familie, namentlich solange die Mutter noch lebte. Meist ging es an die Nordsee, nach Norderney, Wangeroog, Langeoog und schließlich immer wieder zum schönen Amrum. Dazwischen gab es Ferienzeiten im Gebirge: im Harz, im Sauerlande, auf dem Hunsrück, im Thüringer Wald. Einige Male auch wurden wir von Freunden in noch weitere Fernen gelockt: nach Holland, an die Ostsee, nach Schottland und in die Schweiz.
Es waren keine Zeiten der Zerstreuung, sondern der Sammlung und der stillen Arbeit. Hatten wir an irgend einem Ort erst einmal festen Fuß gefaßt, so wurde der Regel nach den ganzen Vormittag über gearbeitet. Denn Vater sagte immer wieder: „Nicht im Nichtstun besteht der Vorzug der Ferienzeit, sondern darin, daß man einmal arbeiten kann, ohne beständig unterbrochen zu werden.” Und für uns Kinder war es die höchste Freude, während der Ferienwochen ganz ohne Konkurrenz die Gehilfen des Vaters zu sein.
Sobald unsere kindliche Handschrift auch nur den bescheidensten Ansprüchen genügte, diktierte er uns seine Briefe und Aufsätze. Zuweilen wurde, ehe wir stenographieren konnten, das Verfahren dadurch beschleunigt, daß jedesmal zwei von uns ein Diktat aufnahmen, und zwar in der Weise, daß der eine die erste Hälfte des Satzes schrieb, der andere die zweite, und so fort. In Bethel besorgte dann Freund Kneipp, Vaters epileptischer Sekretär, das Zusammenstellen. Auf solche Weise wurden auch die Erinnerungen zu Papier gebracht, die Vater, sooft die Vormittagsarbeit eine Lücke darbot, aus seinem Leben diktierte. Es waren jedesmal nur kurze Abschnitte dieser Erinnerungen, die wir aus den einzelnen Ferienzeiten mitbrachten. Aber sie bereicherten unser ganzes Leben für die Zeit, die zwischen der vergangenen und folgenden Ferienzeit lag. Nach zwölf Jahren waren die ersten vierzig Jahre bis zur Übersiedelung nach Bethel beschrieben. Zu einer Fortsetzung über die Zeit seit der Übersiedelung von Dellwig nach Bethel konnte er sich nicht entschließen.
Nur ein kurzes Bad in der See oder im Bach pflegte die Vormittagsstunden zu unterbrechen. Die stärksten Wellen waren Vater immer die liebsten. Manchmal schwammen wir in Wangeroog auf die Sandbank hinüber, um dort uns den kräftigen Wellenschlag zu erobern. Und in der Asbach auf dem Hunsrück halfen wir ihm, als Ersatz für die entbehrten Meereswellen mit Hilfe eines Schüttes ein kleines Wellenbad zu bauen.
Nach getaner Vormittagsarbeit wurden am Nachmittag Insel und Land durchstreift, bald in kleinen Ausflügen mit der Mutter zusammen, bald in kräftigen Wanderungen durch Wald und Dünen, am liebsten ohne Weg und Steg geradeaus auf ein Ziel zu, oft bis in die tiefe Dämmerung hinein. Jede Kirche am Wege, jede Fabrik wurde besehen, jeder Bewohner des Landes, der ein Stück mit uns wanderte, gründlich nach Land und Leuten ausgefragt. Dazu erzählte Vater uns Sagen und Geschichten, ein Lied nach dem andern wurde angestimmt, auch die fröhlichen Studentenlieder. Am liebsten hatten wir es, wenn Vater deklamierte. Das half über jede Müdigkeit hinweg. Wohl blieb der Gedanke an Goethe ihm im Blick auf Goethes italienische Zeit immer schmerzlich; aber seine schönsten Gedichte waren Vater stets gegenwärtig. Und daneben vor allen Strachwitz und Uhland. In unserm Quartier hatte inzwischen die Mutter das Abendbrot bereitet. Was für ein fröhliches Nachhausekommen gab es jedesmal und welch gemütlichen Feierabend! Dann hatte jeder seine Handarbeit, und Vater las vor, bis die Abendandacht den schönen Tag beschloß.
1881 hatte uns eine Ferienreise in den Harz und nach Gittelde-Grund gebracht. Und als im September in Harzburg alles leer und wohlfeiler geworden war, siedelten wir noch für ein paar Tage dorthin über, um Goslar und den Brocken zu erreichen, von denen wir in Grund zu weit getrennt gewesen waren.
In Goslar wurde Vater ganz von der Wunderuhr gefesselt. Wir erlebten gerade die Mittagsstunde, wo das Uhrwerk seine volle Kunst entfaltet. Aus einer kleinen Tür treten die zwölf Apostel hervor und wandern am Herrn vorüber, einer nach dem andern ehrerbietig sich vor ihm verneigend; nur der letzte, Judas, bleibt ungebeugten Hauptes. Dann wurde die Kreuzigung dargestellt. Ein Kriegsknecht, auf der Leiter stehend, schlägt die Nägel durch die ausgebreiteten Hände, und ein anderer stößt mit der Lanze in die Seite.
Der Meister hatte uns selbst alles erklärt, und Vater faßte solches Vertrauen zu seiner Tüchtigkeit, daß er ihn bat, sich doch einmal an den Bau eines Flugzeuges zu machen. Er hatte als Junge sich gelegentlich aus einem Stück Blech eine Flügelschraube geschnitten, die mit Hilfe eines leeren Garnwickels und eines Bindfadens in schnelle kreisende Bewegung gebracht wurde und so nicht unbeträchtliche Höhen erreichte, bis sie schließlich ermattet wieder zur Erde fiel.
Es war damals noch nicht die Zeit, daß ein Ersatz des Luftballons durch ein anderes Luftfahrzeug erörtert wurde. Aber Vater baute auf dieses sein Kinderspielzeug seinen Plan auf. An der Hand von Zeichnungen setzte er dem Goslarer Meister auseinander, daß es darauf ankommen würde, eine wagerecht und eine senkrecht kreisende Schraube zwischen Tragflächen aus dünnem Stoff anzubringen, um so eine Aufwärts- und eine Vorwärtsbewegung zu ermöglichen. Die Schrauben selbst aber sollten durch starke Stahlfedern in Betrieb gesetzt werden, die dann während der Fahrt durch den Luftschiffer nachgespannt werden müßten.
Mehrere Stunden lang vertieften sich die beiden Männer in das Problem, sodaß wir viel zu spät von Goslar fortkamen, uns im Walde verirrten, bis wir schließlich durch ein Licht, das auf dem Harzburgberge brannte, auf den rechten Weg gelockt wurden und glücklich unser Quartier erreichten. Der Goslarer Meister hat nie wieder etwas von sich hören lassen, aber den Gedanken des Luftfahrzeuges ließ Vater seitdem nicht mehr los. Es gehörte zu seinen Erholungsstunden, sich damit zu beschäftigen und eine Zeichnung nach der andern zu entwerfen. Wenn wir an die See kamen, fesselte es ihn immer, die Möwen zu beobachten, wie sie, ohne die Flügel zu regen, im starken Wind in der Luft standen. „Seht einmal, Kinder,” sagte er immer wieder, „wie still steht sie da, wie wenig Kraft hat sie nötig! Und der Mensch sollte nicht fliegen können? Ganz gewiß, es geht, es geht!”
Wo er mit Ingenieuren und Offizieren zusammentraf, setzte er ihnen seine Tragflächen mit den eingesetzten Schrauben auseinander und ließ sich durch kein Kopfschütteln irremachen. Später fügte er einen Fallschirm hinzu, den er zu einem unbedingt nötigen Bestandteil seines Flugzeuges machte. Als die Zeppeline aufkamen, konnte er sich nicht viel von ihnen versprechen; sie würden im Winde nicht lenkbar genug sein und bald wieder abkommen. Er hielt an den kleinen Luftfahrzeugen fest. Bis zu seinem Tode war er Bezieher der Luftschiffszeitung und berechnete voll Sehnsucht, wie lange es dauern würde, bis das erste Flugzeug das Mittelländische Meer überqueren und so den Weg nach dem geliebten Afrika abkürzen würde.