Sadece LitRes`te okuyun

Kitap dosya olarak indirilemez ancak uygulamamız üzerinden veya online olarak web sitemizden okunabilir.

Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 28

Yazı tipi:

Metz, Hunsrück und Ems

Statt nach Amrum hatten wir im Sommer 1888 eigentlich auf den Hunsrück reisen wollen. Dort, in einem Seitental der Nahe zu Füßen der alten Wildenburg, hatte die Familie von Stumm-Halbach ein Besitztum, die Asbacher Hütte. Hier hatte die Wiege der großen Stummschen Industrien des Saargebiets gestanden. Die Hütte selbst war längst außer Betrieb gesetzt, aber das alte Wohnhaus stand noch. Die Familie von Stumm bot es Vater an, um es nach seinem Belieben zu wohltätigen Zwecken zu verwenden. Um an Ort und Stelle zu prüfen, in welcher Weise das Anwesen am besten nutzbar gemacht werden könne, war beschlossen worden, dort oben die Ferien zu verleben und zugleich einen Abstecher nach Metz zu machen, wo unsere Schwestern arbeiteten und wohin Vater durch so manche Erinnerungen aus der Kriegszeit gelockt wurde. Durch den Ruf, der aus Amrum kam, hatte die Reise verschoben werden müssen; aber im nächsten Sommer, 1889, wurde sie nachgeholt. Zunächst ging die Reise nach Metz.

Unvergeßlich waren die Tage, die wir dort erlebten. Der Kaiser nahm große Parade ab, und die jugendliche Kaiserin kam zur Einweihung des Mathildenstifts, wo unsere Schwestern die Arbeit übernahmen. Wir haben da die edle, gütige Frau zum erstenmal gesehen. Am Schluß der Feier rief uns Vater der Reihe nach zu ihr heran, und nach der Mutter küßten wir Geschwister der Kaiserin die Hand.

Als das Kaiserpaar Metz verlassen hatte, führte Vater die Diakonissen und uns auf die Schlachtfelder hinaus. Wir suchten die Stelle, wo er am 14. August die ersten Toten aus der Schlacht von Colombey in einem gemeinsamen Grabe bestattet hatte, fanden auch wirklich den Grabhügel und richteten das zusammengesunkene Holzkreuz wieder auf. Auch nach den Schlachtorten des 18. August, Gravelotte und St. Privat, brachte er uns. Er durchlebte alles noch einmal und wir in tiefer Bewegung mit ihm. Wir hörten die Granaten sausen, die Kommandos tönen, die Verwundeten jammern, die Sterbenden röcheln und sahen die Stille der Nacht sich über das blutige Schlachtfeld senken. Es war keine Verherrlichung des Krieges, kein Rühmen des eigenen Volkes, nichts von Feindeshaß, aber wir ahnten eine höhere Hand, aus der Friede und Krieg kommt zum Heil der Völker.

Dann folgten die Wochen auf dem Hunsrück in der Asbacher Hütte. Sie erwies sich in der Tat als ein wertvolles Geschenk, das zunächst von unserm Diakonissenhause Sarepta übernommen wurde und dann in den Besitz des jungen Diakonissenhauses in Kreuznach überging. Der Aufenthalt selbst aber brachte den Eltern wenig Erfrischung. Die Fülle unerledigter Arbeit, die Vater in die Ferien begleitet hatte, war diesmal besonders groß. Die Feder von uns Kindern reichte nicht aus. Auch die Mutter mußte wie in alter Zeit wieder mithelfen. So kamen beide Eltern müde in den Winter hinein und wurden von der Grippe, die damals zum ersten Male umging, ergriffen.

Seitdem litt Vater an einer Hinfälligkeit der Stimme, die ihn schließlich im Sommer 1893 zu einer Kur in Ems zwang. Mit sehr abgespannten Kräften langte er in Ems an; und nur langsam kehrten diese wieder. Eine besondere Anstrengung war ihm der Weg zur Kirche, die fast eine halbe Stunde entfernt lag. Aber die tiefen, geistvollen Predigten des Ortspastors Vömel, eines Schülers Becks, zogen ihn immer wieder an. Es war ihm schwer, daß so viele Badegäste, denen der Weg durch das heiße Flußtal zu weit war, diese Erquickung entbehren mußten. Auf der andern Seite aber empfand er es auch hier wieder als ein Unrecht, daß die Badegäste, die den Gottesdienst in der Ortskirche aufsuchten, den Ortseingesessenen die besten Plätze wegnahmen.

So entstand bei ihm und Pastor Vömel der Entschluß, am Badeort selbst in unmittelbarer Nähe der Quelle und der Wohnungen der Badegäste eine Kirche zu errichten. In schönster Lage wurde ein Bauplatz gefunden und erworben. Aber die Aufbringung der Kosten verursachte unendliche Mühe. Diesmal konnten nicht unbemittelte Kreise herangezogen werden, die schneller, williger und verhältnismäßig auch reichlicher zu geben pflegen als die bemittelten, sondern es galt, vor allem die wohlhabenden Kurgäste zu gewinnen, die in Ems Erholung und Genesung gefunden hatten. Aus den alten Kurlisten ließ Vater die Adressen der ehemaligen Badegäste herausziehen, und jeder einzelne wurde von ihm durch ein besonderes Anschreiben wieder und wieder zur Dankbarkeit für die heilkräftigen Emser Quellen ermuntert.

Auch an die Pläne der Kirche wandte Vater ganz besondere Sorgfalt. Die Ruinen des Klosters Paulinzella, die er mit uns von Oberhof aus besuchte, hatten ihn in hohem Maße angezogen. Er zeichnete ihre Motive ab, die dann von Baumeister Siebold dem Plan zu Grunde gelegt wurden. 1897 konnte endlich der Grundstein gelegt und zwei Jahre später die Einweihung gehalten werden. Sechs Jahre zähester Arbeit hatten damit ihren Abschluß gefunden.

Tante Frieda

Am 4. Dezember 1894 war unsere Mutter heimgegangen. In tiefer Verborgenheit trug Vater den Verlust seiner treuesten Mitarbeiterin. Nur unser jüngster Bruder, der von da an die Schlafkammer mit dem Vater teilte, hörte bisweilen nachts das stille Seufzen des Vereinsamten. Ohne Verabredung schlossen wir Geschwister den Ring der Liebe um unsern Vater noch fester. Wir sind ihm manchmal mit unserer Fürsorge lästig gefallen, haben manchmal des Guten zuviel getan. Aber er tat auch da, als merkte er es nicht. Weder mit der Gegnerschaft noch mit der Fürsorge, die seine Person erfuhr, hielt er sich lange auf, sondern ging zwischen beiden hindurch seinen eigenen Weg.

Der Diamant in dem Ring der Liebe, der sich um Vater legte, wurde vom Jahre 1898 ab unsere Tante Frieda. Hart wie ein Diamant war sie und zugleich leuchtend wie dieser von zartester Liebe. Tante Frieda war Vaters einzige noch überlebende Schwester. Sie hatte ihre Mutter bis zu deren Tode gepflegt und dann auch ihre einzige sehr geliebte jüngere Schwester, die Landrätin von Oven in Dillenburg, die ihr sterbend ihre fünf unmündigen Söhne hinterließ. Diesen fünf Kindern, denen sie nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater ersetzen mußte, hatte sie sich ganz gewidmet.

Sie war ein Muster der Treue und Einfachheit und von tiefem Verständnis für die Kindesseele. Wie eine Mutter haben die fünf Neffen sie geliebt, und sie hat es mit demütigem Stolz erlebt, wie alle – nur einer starb früh – in den Spuren ihrer stillen Treue und Schlichtheit zu Männern ungewöhnlicher Hingabe und Tüchtigkeit wurden. Als ein Neffe nach dem andern ihrer unmittelbaren Obhut entfloh, unterhielt sie in Dillenburg eine kleine Gymnasiastenpension, die ihr den Lebensunterhalt bot.

Durch einen Sturz, den sie bei Glatteis auf den Hinterkopf tat, hatte sie sich ein schweres Kopfleiden zugezogen. Einen um den andern Tag setzten für einige Stunden rasende Schmerzen ein. Dann konnte sie nur in gekrümmter Haltung ihre häusliche Arbeit verrichten, zwischen den zusammengepreßten Lippen von Zeit zu Zeit einen schweren, langgezogenen Seufzer herauspressend. Verschiedene Kuren gaben nur vorübergehende Erleichterung. Zehn Jahre lang dauerte das Leiden in fast ungeminderter Stärke. Dann ließ es langsam nach und verlor sich erst in den Jahren vor ihrem Tode ganz. So hatte sie, wie unsere Mutter, durch eigenes tiefstes Leid gelernt, andere Leidende zu verstehen, und ihre zähe, starke Natur war im Kampf mit dem Leiden nur noch zäher und stärker geworden, aber zugleich wunderbar zart und mitfühlend.

Ihrem Bruder gegenüber ließ sie diese Zartheit freilich kaum merken. Da war sie die um vier Jahre ältere Schwester. Sie war 71, als sie zu uns kam, und Vater 67. Er blieb für sie der jüngere Bruder, an dem sie bis zuletzt mit großartiger schwesterlicher Treue und Offenherzigkeit ihr Recht als ältere Schwester geltend machte. Sie hatte dasselbe offene Auge und denselben Wahrheitsmut wie unsere Mutter. Nur fehlten ihr deren köstliche Unmittelbarkeit und blitzender Humor. Sie trug an Dingen und Menschen schwer, grub auch wohl ihre Gedanken und Bedenken in sich hinein, ehe sie sie vulkanartig äußerte. Und während Mutter meist den Kern der Sache sah und mitten ins Schwarze traf, blieb ihr Gemüt eher an Nebendingen haften, an denen sie sich stieß und um deren Abstellung sie sich vergeblich bemühte.

So ärgerte sie an ihrem Bruder die Art, mit der er Dinge und Menschen immer von der besten Seite ansah. Statt ihm in dem, worin er recht hatte, zuzustimmen und ihn dadurch willig zu machen, auch die Kehrseite nicht aus dem Auge zu lassen, schlug sie ihrerseits zu stark nach der Gegenseite um und gab dem in der drastischsten Weise Ausdruck. Wenn Vater von einem Gaste, der bei uns einkehrte, sagte: „Was für ein lieber Mensch”, – dann sagte sie: „Ein gräßlicher Peter.” Und wenn Vater eine Erinnerung aus der Kindheit in den goldensten Farben malte, dann konnte sie es nicht lassen, die tiefsten Schatten in das Bild hineinzusetzen.

Vor dieser Art seiner Schwester hatte Vater eine gewisse Scheu, sodaß er zunächst nicht wagte, sie ganz in sein Haus zu bitten, sondern ihr nahelegte, die Fürsorge für die alternden Schwestern im benachbarten Feierabendhaus zu übernehmen und von da aus nur die Hauptmahlzeiten mit uns zu teilen. So wurde sie jahrelang die mütterliche Freundin der in heißer Arbeit müde und alt gewordenen Diakonissen. Ihnen gegenüber trat die Herbigkeit, die sie ihrem Bruder zeigte, zurück. Da kamen vielmehr ihr zartes, liebevolles Verständnis und ihre große Verschwiegenheit in den Vordergrund. Vor den Ohren der alten Schwestern konnte sie sogar hier und da mit schwesterlichem Stolz in Bewunderung ihres Bruders umschlagen, um dann, wenn sie mittags oder abends an unserm Tisch saß, nur wieder desto kritischer gegen ihn zu sein. Vater ließ solche Kritik ruhig über sich ergehen. Höchstens daß er hier und da einmal das Tischgespräch etwas schneller abbrach als sonst und im Davongehen nur sagte: „Du machst es heute einmal wieder stark, meine alte, liebe Schwester.”

Das wurde aber von Jahr zu Jahr gelinder, sodaß Vater die Furcht vor seiner Schwester vergaß und sie sich einigten, daß sie ganz zu uns zog. Ihre Kräfte hatten nachgelassen, während die Aufgaben im Feierabendhaus zugenommen hatten. „Ich baue dir bei uns ein Sterbestübchen”, sagte Vater. Hinter einem kleinen Vorkämmerchen wurde ein ganz stilles Zimmer geschaffen. Dahin siedelte dann Tante Frieda über mit den wenigen schönen, alten Möbeln, die sie noch für sich zurückbehalten hatte. Alles andere hatte sie an ihre Pflegekinder weggegeben. In ihrer Kommode lag ihr Sterbehemd, und über ihrem Bett hingen die Bilder ihrer nächsten und liebsten Verwandten, alle auf dem Totenbett.

Sie hatte für ihre Person ganz mit dem Leben abgeschlossen und konnte darum ganz für die Lebenden da sein. In ihrem „Sterbestübchen” war die Luft der Ewigkeit in wunderbarer Weise geeint mit einer völligen Offenheit für alle natürlichen Dinge der Zeit und für Menschen aller Richtungen und Verhältnisse. Die Frömmsten und die Gottlosesten fühlten sich wohl bei ihr. Ohne zu suchen, hatte sie für jeden das rechte Wort. Bei niemand machte sie Bekehrungsversuche. Aber jeder fühlte: So wie die solltest und könntest du eigentlich auch sein. Kam hier und da einmal eine kleine Schroffheit bei ihr zu Tage, so nahm ihr das niemand übel, weil jeder spürte: Das kommt aus liebevollstem Herzen. Sie selbst fühlte sich geradezu wohl, wenn man eher etwas zu schroff gegen sie war als zu zart. Übelnehmen kannte sie nicht. Niemals hat sie jemand etwas nachgetragen.

Für Kinder behielt sie bis in ihr höchstes Alter eine ganz unwiderstehliche Anziehungskraft, obgleich sie diese, arm wie sie war, durch keinerlei äußerliche Mittel an sich kettete. Jauchzend umsprangen sie die Kinder des Kinderheims: „Tante Frieda, zeig’ uns mal deine Zähne!” Dann überwand sie sich, holte schmunzelnd ihr künstliches Zahngehege heraus und hielt es der staunenden Menge hin. Ihre kleinen Ersparnisse verwandte sie für die Reisen zu ihren Neffen oder umgekehrt für die Besuche, die ihre Neffen bei uns machten. Zum Abschied steckte sie ihnen dann jedesmal das Reisegeld bei einschließlich des Trinkgeldes, das sie im Hause und dem Gepäckträger zu geben hatten. Blieb außerdem noch etwas übrig, dann gab es für Großneffen und Großnichten von Zeit zu Zeit einen Weg in die Stadt, wo sie mit ihnen bei Schokolade und Kuchen feierte.

Vater hatte bestimmt damit gerechnet, daß er seine alte Schwester überleben würde; und manchmal kamen Zeiten so großer Schwäche, daß wir ihr Abscheiden in nächster Nähe glaubten. Sie wollte aber allein sterben und niemand dabei Mühe machen. Einige Male kam es vor, daß Vater sie abends zum Sterben einsegnete. Dann fand man ihn am andern Morgen an der Tür ihres Zimmers lauschend, ob er ihre Atemzüge hörte oder ob wirklich alles still geworden wäre. Sie lebte aber immer wieder auf und überdauerte ihren Bruder noch um drei Jahre.

Ihre letzte Reise machte sie nach Hannover, wo einer ihrer Neffen als General stand. Als der sie in Uniform mit seinem Burschen auf dem Bahnhofe abholte, wollte sie sich seine Begleitung nicht gefallen lassen: „Ihr müßt euch ja schämen, mit mir alten, häßlichen Person über die Straße zu gehen.” Dann willigte sie aber doch ein. Auf dem Heimwege besuchte sie in Bückeburg die Witwe und die Kinder ihres ältesten Bruders. Dort starb sie, nachdem sie mit unserm jüngsten Bruder noch das Abendmahl gefeiert hatte. Ihr Sterbehemd hatte sie bei sich in ihrem Koffer. Auf dem Friedhof in Bethel zu Häupten ihres Bruders ist ihr Grab zu finden.

Herbstfrüchte

Die theologische Woche

„Es kann uns niemand eine größere Wohltat erweisen als die, daß er uns die Heilige Schrift lieb und verständlich macht.”

F. v. B.

Im Sommer 1897 verbrachten wir unsere Ferien in Braunlage im Harz. Eines Sonntags, während wir in der Kirche saßen, erschienen in der Bank neben uns zu unserer großen Überraschung fünf bekannte Professoren der Theologie, Nathusius aus Greifswald, Schaeder aus Königsberg, Feine aus Wien, Lütgert aus Halle und zu unserer großen Freude auch Schlatter aus Berlin. Sie hatten mit andern Kollegen, unter ihnen auch Cremer aus Greifswald, eine Zusammenkunft in Wernigerode gehabt, und jene fünf hatten sich am Schluß ihrer Konferenz noch zu einer kleinen Harzwanderung zusammengetan. Sie beschlossen, den Nachmittag mit uns zuzubringen. Am andern Morgen nahmen sie Abschied, bis auf Professor Schlatter, der bei uns blieb. Müde von der Arbeit und dem Staub Berlins hatte er ohnehin die Reise zu der Konferenz in Wernigerode mit einer kleinen Ausspannung verbinden wollen. So bezog er für acht Tage unmittelbar neben unserer Waldwohnung ein Zimmer.

Im Winter 1893 hatten Vater und Schlatter sich zum erstenmal gesehen. Unser ältester Bruder Wilhelm und ich studierten damals in Greifswald, und Vater kam auf unsere Einladung, um bei einem akademischen Missionsfest zu sprechen. Die Predigt in der Jakobikirche, in der die akademischen Gottesdienste abgehalten wurden und in der nun ein großer Teil der akademischen Welt versammelt war, wurde Vater ganz besonders sauer. Fast verlegen wie ein Kind war er, als er anfing zu sprechen, bis er allmählich sich selbst wiederfand und dann mit großer Zuversicht von den Aufgaben an der Völkerwelt diesseits und jenseits des Todes sprach. „Ich hoffe,” sagte er, „auch noch in der jenseitigen Welt fröhliche Arbeit zu finden an denen, die noch nichts vom Evangelium gehört haben.”

Am andern Tage saß er mit uns im Kolleg, erst bei Cremer, dann bei Schlatter. Wir hatten uns mit ihm auf die letzte Bank zurückgezogen, wie Studenten es zu tun pflegen, die ein Kolleg „schinden” und nicht wagen, einen günstigen Platz zu beanspruchen. Es war seit seiner Studentenzeit das erste Mal, daß Vater wieder unmittelbar mit dem wissenschaftlichen Leben und der wissenschaftlichen Arbeit in Berührung kam. So fleißig er bis zu seinem theologischen Examen wissenschaftlich gearbeitet hatte, so hatte später die Fülle anderer Aufgaben, die auf seine Schultern gefallen war, ihn kaum mehr zum eigentlichen wissenschaftlichen Studium kommen lassen. Jetzt zogen ihn der Ernst und die Gründlichkeit, die er den beiden Männern abspürte, ungemein an, sowohl Cremers herbe Ergriffenheit als ganz besonders Schlatters sprudelnde Frische. Aber zu einer näheren Berührung kam es damals nicht.

Das wurde nun durch Schlatters Kommen nach Braunlage anders. Wir machten gemeinsam eine Fahrt nach Ilsenburg zur Fürstin Clementine Reuß. Auf dem Rückwege im Wagen erzählte Vater von unserm früheren Besuch in Goslar, wo wir im Museum die alten Strafwerkzeuge gefunden hatten, darunter auch den Doppelkasten, die sogenannte „Beißkatze”, worin Marktweiber, die sich gezankt hatten, auf öffentlichem Markte eingesperrt wurden, die Gesichter gegeneinander gekehrt. Schlatter warf ganz ahnungslos dazwischen: „Ja, die alte Justiz war doch recht grausam.”

Das fuhr wie ein Blitz in Vaters Seele: „Nein, unsere heutige Justiz ist noch viel grausamer!” Und nun entlud er sein Herz über die Rechtspflege, die an den arbeitslosen Wanderern geübt wurde. Statt ihnen Arbeit zu geben, würden sie arbeits- und mittellos zum Betteln gezwungen; als Bettler würden sie verhaftet, vor Gericht gestellt und mit Haft und im Wiederholungsfalle mit Gefängnis bestraft; von der ersten Gefängnisstrafe ginge es zur zweiten und so weiter; immer tiefer, immer tiefer ins Elend hinunter, ein langsamer, qualvoller seelischer Tod. Das sei viel grausamer als die alte Justiz der Beißkatze. Dann entfaltete er seine Gedanken, wie durch eine vernünftige, barmherzige Justiz diese grausame Justiz, die die mittelalterliche an Härte und Erbarmungslosigkeit weit übersteige, abgestellt werden könne.

Schlatter, immer ruhig, kritisch, wissenschaftlich auch bei dieser für Vater brennendsten praktischen Frage, warf seine Einwände dazwischen, die zur weiteren Klärung beitragen, aber keineswegs mangelndes Interesse an dem Schicksal des Bruders von der Landstraße bedeuten sollten. Vater aber witterte hinter den kühlen, sorgsam abgewogenen Erwägungen Schlatters den Anwalt der herzlosen Justiz von heute. Sobald er aber irgendwo auf Herzlosigkeit gegen den Bruder von der Landstraße stieß, kannte er keine Rücksicht mehr. „Sie verstehen das nicht, mein lieber Professor”, sagte er ein wenig bitter. Und einmal hätte nicht viel gefehlt, daß er seinen Gegner bei den Schultern gepackt hätte, um zu versuchen, ihn durch einen körperlichen Ruck in das gewünschte Geleise zu bringen.

Ohne daß eine Verständigung gefunden worden wäre, stiegen wir in dunkler Nacht aus dem Wagen. Auch beim Mittagbrot am andern Tage war die Stimmung noch gedrückt. Es gärte und arbeitete unablässig in Vater. Endlich am Nachmittag hatte er verstanden, worauf es Schlatter eigentlich angekommen war, daß er ihn nicht hindern, sondern ihm zur weiteren Klarheit hatte helfen wollen. Er diktierte einem von uns Schlatters Gedanken, wie sie ihm inzwischen klar geworden waren, und um die Kaffeezeit ging er zu ihm hinüber. „Hier, Professor, meinst du es so?” – „Ja,” antwortete Schlatter, „so meine ich es; so wird es gehen.” So wurde Friede geschlossen und damit der Grund gelegt zu einer Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft, die für Vater und für viele eine reiche Quelle der tiefsten Freuden wurde.

Für die noch übrigbleibenden Tage unserer Ferienzeit waren die beiden fast unzertrennlich, und auch die in Wernigerode besprochenen Gedanken wurden zwischen ihnen weitergesponnen. Dort hatten die Professoren unter anderem erwogen, wie die Kluft, die die Männer der Praxis und die Männer der Wissenschaft trennte, überbrückt werden könne. Sie empfanden es schmerzlich, daß zwischen den Studenten, sobald sie die Universität verlassen hatten, und ihren ehemaligen Lehrern der Regel nach jede persönliche Beziehung aufhöre, und beklagten den Verlust, der dadurch sowohl für das kirchliche Leben als für die wissenschaftliche Arbeit entstünde. Beide Teile mußten durch die mangelnde Verbindung für ihre Arbeit Einbuße erleiden. Denn die wenigen Universitätsjahre zu den Füßen der Professoren sollten doch eigentlich nur die Einleitung in dauernde wissenschaftliche Arbeit bedeuten. Umgekehrt sollten die Männer der praktischen kirchlichen Arbeit unablässig das Leben der Universitäten befruchten, damit es nicht in leere Luftgebilde sich verflüchtige, die ohne Verständnis und ohne Bedeutung bleiben mußten für das wogende Leben des Volkes und der Christenheit.

So wurde zwischen Vater und Schlatter bei einer Regenwanderung nach Andreasberg, die sie unter einem gemeinsamen Regenschirm vereinigte, für das nächste Jahr ein theologischer Kursus in Aussicht genommen. Schlatter wünschte, daß er nicht in einer Universitätsstadt sein sollte, sondern in einer Gemeinde. Denn dadurch sei von vornherein klar zum Ausdruck gebracht, daß die Besprechungen zwischen den Männern der Wissenschaft und denen der Praxis nicht den Köpfen gelten sollten, sondern den Personen, nicht dem wissenschaftlichen Betriebe, sondern im tiefsten Sinne dem wissenschaftlichen Leben. Darum ergab sich von selbst Bethel als Versammlungsort.

So kam im August 1898 die erste theologische Woche zustande. Die große Zahl der Besucher zeigte von vornherein, welch tiefem Bedürfnis der Gedanke entsprang. Cremer und Schlatter hatten die Hauptvorträge übernommen. Zugleich mit andern Teilnehmern strömten namentlich die alten Schüler der beiden Professoren herbei, um einmal wieder mit den geliebten Lehrern zusammenzusein und ganz anders, als sie es als unerfahrene Studenten gekonnt hatten, unter ihrer Leitung den tiefsten Fragen nachzugehen.

Die Vorträge selbst waren öffentlich. Es sollte jedermann sich überzeugen können, daß die theologische Arbeit keine Geheimniskrämerei sei, sondern für jeden Nachdenksamen ihren hohen Wert habe. So nahmen viele Nicht-Theologen beiderlei Geschlechts an den Vorträgen teil, aus der Anstalt sowohl wie aus Bielefeld und der Umgegend. Die Besprechungen aber, die den Vorträgen folgten, wurden im geschlossenen Kreise der Theologen gehalten, und dieses Ineinander von Öffentlichkeit und Vertraulichkeit bewährte sich auch bei allen späteren Kursen, die vom Jahre 1898 ab bis heute fast ohne Unterbrechung alle zwei Jahre stattfanden.

Andere Theologen wurden hinzugezogen. So der blinde, immer wieder mit besonderer Bewegung begrüßte Professor Riggenbach von Basel, Professor Kähler aus Halle, Professor Schaeder, später in Kiel und Breslau, Professor Lütgert aus Halle, Professor Bornhäuser aus Marburg. Die Führung behielten Cremer und Schlatter, die beiden, das darf wohl gesagt werden, neben Kähler in Halle damals bedeutendsten Vertreter der deutschen Theologie, die in tiefster Gemeinschaft der Überzeugungen einander ergänzten.

Wie einer der Durstigsten saß Vater zu den Füßen dieser „Wasserschöpfer”, wie er die Professoren am liebsten nannte, ohne es zu merken, daß er seinerseits durch seine meist ganz kurzen Bemerkungen, die er in die Besprechungen hineinwarf, die Seele des Ganzen blieb. Er war wie der Meister, der die wogenden Töne immer auf die letzten Grundakkorde einigt und zugleich die verborgensten Saiten des Herzens zum Schwingen bringt, auch die, in denen der Zweifel schläft und das Bangen vor dem Unergründlichen.

Er selbst hatte am Ausgang seiner Studentenzeit die beängstigende Unsicherheit kennengelernt, in die die Kritik hineinführt. Darum blieb er barmherzig mit denen, die in ähnlichen Kämpfen standen. Das kam immer wieder während dieser theologischen Wochen zum Ausdruck. Aber zugleich wies er in den Besprechungen, die sich an die Vorträge der Professoren anschlossen, die Wege, die zur Gewißheit des Glaubens führen: die Demut der Buße und die selbstverleugnende Liebe. Geistliche Hoffart, das sprach er immer wieder aus, war für ihn das Haupthindernis des Glaubens. „Das menschliche Herz ist so hoffärtig,” sagte er auf einer dieser theologischen Wochen, „daß es nicht einmal die Liebe eines kleinen Kindes vertragen kann, sondern sich darauf etwas zugute tut. Und wie ist es mir gegangen, als ich gestern hier predigen mußte? Da sagte mir mein Herz: So, nun mußt du vor den großen, berühmten Professoren predigen; wie fängst du es nur an, daß du ihnen gefällst? So hoffärtig ist das Herz. Den Hoffärtigen aber kann sich Gott nicht offenbaren.” Naturgemäß riefen die Besuche, die die Teilnehmer der theologischen Woche in den Häusern des Elends von Bethel machten, viele Fragen wach, die dann in den gemeinsamen Besprechungen vorgebracht wurden. Vater konnte sich demütig immer wieder in das schicken, was ihm an den Wegen Gottes unbegreiflich erschien, und die Buße, die sich unter Gottes Gericht beugt, löste ihm unbegreiflich scheinende Rätsel. „Ich leide auch zuweilen”, sagte er einem Teilnehmer als Antwort auf dessen bange Frage, „unter all dem Elend der Erde und kann es nicht verstehen. Aber dann denke ich immer wieder: Wie würde es sein, wenn das Elend nicht da wäre? Es würde noch viel schrecklicher auf der Erde aussehen, weil dann die Hoffart ohne alle Hindernisse wachsen würde. Das Menschenherz ist viel zu hoffärtig, als daß es das Leiden entbehren könnte.”

Neben der Buße aber war ihm die Liebe der andere Pol, um den die Erkenntnis Gottes schwingt. „Wie kann nur”, fragte ihn einer, „all dieses Elend, das sich in den Anstalten zusammenfindet, von Gott zugelassen werden?” Da sagte Vater nur: „Man muß etwas zum Lieben haben.” Und als ein zur theologischen Woche gekommener Gefängnispastor während der Besprechung darüber klagte, wieviele Gottesleugner er unter seinen Gefangenen fände, sagte Vater: „Ich habe noch nie einen Gottesleugner getroffen.” „Bebel!” rief eine Stimme in den Saal hinein. Vater aber sagte aus tiefster Überzeugung heraus: „Und wenn Bebel hier wäre, er würde es nicht wagen, Gott zu leugnen.” Da sahen wir in seine tiefsten Erfahrungen und Überzeugungen hinein. Er hatte in der Tat keinen Gottesleugner gefunden. In Debatten über das Dasein Gottes hat er sich nie eingelassen, aber unter der Glut seiner Liebe wurde auch in gottentfremdeten Gemütern die geheimnisvolle Gottesstimme wach. Sie spürten den Hauch aus einer andern Welt, und trotz aller Verstandeszweifel vermochten sie in seiner Gegenwart nicht, diese andere Welt zu leugnen. So wurde Vater uns zur Auslegung des alten Wortes: „Deus tantum cognoscitur, quantum diligitur”. Gott wird nur in dem Maße erkannt, als er geliebt wird. Und auch unser Nächster wird in dem Maße der Erkenntnis Gottes näher geführt, als er durch uns unter den Strahl der Liebe Gottes kommt.

Diese Liebe aber schöpfte Vater aus der in der Schrift geoffenbarten Liebe Gottes in Jesus Christus. Darum war ihm die theologische Woche und die Freundschaft mit den „Wasserschöpfern” solch eine besondere Erquickung. Ein Professor der sogenannten freien Theologie führte seine Studenten durch Bethel. Am Schluß machte er Vater einen Besuch. „Herr Pastor,” sagte er, „wieviel Gutes tun Sie den Kranken, und wie gütig haben Sie uns aufgenommen! Warum sind Sie zugleich so ablehnend gegen meine theologische Arbeit?” „Lieber Professor,” sagte er, „ohne den alten Glauben könnte ich keinen einzigen epileptischen Kranken pflegen – und du auch nicht.”

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
01 ağustos 2017
Hacim:
580 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre