Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 27
Kaiser Friedrich
Wie schon früher gesagt, blieb in der äußeren Form die Entfernung gewahrt, die den Pastor einer Gemeinde der Elenden von dem Erben des Kaiserthrones trennte. Aber wenn Wahrheit und Treue das Wesen der Freundschaft bilden, so wurde durch sie das in der Jugend geknüpfte Freundschaftsband bis zuletzt festgehalten.
Im Sommer 1885 wandte Vater sich Stöckers wegen in einem ausführlichen Briefe an den Kronprinzen. Es war in der Zeit, wo Stöcker die Niederlegung des Amtes als Hofprediger nahegelegt worden war. Der Brief ließ es dahingestellt, ob es für Stöckers Kampfnatur überhaupt richtig gewesen wäre, das Hofpredigeramt anzunehmen, widerriet aber aufs ernstlichste, ihn jetzt, nachdem er das Amt übernommen, fallen zu lassen. Ohne ihn von Fehlern freizusprechen und ohne sich mit seiner Arbeitsweise in allem einverstanden zu erklären, trat der Brief zugleich aufs wärmste für die persönliche Lauterkeit und Selbstlosigkeit Stöckers ein. Nur der vielleicht zu heißen Liebe und Hingabe Stöckers an Volk, Vaterland und Kaiserhaus seien seine Fehler zuzuschreiben; und es sei erstaunlich, daß einem Manne, der mehr als irgend ein anderer seiner Zeitgenossen im öffentlichen Leben gestanden und gekämpft habe, nicht mehr angehängt werden könne als die kleinen und kleinlichen Vorwürfe, mit denen seine Gegner versuchten, ihn mundtot zu machen. Mit großer Entschlossenheit tritt der Brief schließlich auf den christlich-sozialen Boden, der jedoch nicht als eine Sache der Partei, sondern der Gesinnung aufgefaßt wird. Mit dem Sieg der Gegner der von Stöcker vertretenen christlich-sozialen Parole seien die Tage des deutschen Kaiserreiches und des Hohenzollernhauses gezählt. Darum dürfte Stöcker jetzt nicht gehen.
Eine Antwort auf den Brief erfolgte nicht, wurde auch nicht erwartet. Aber Stöcker blieb damals im Amte.
In den Ferien waren die Blumen immer Vaters besondere Freude. Er pflegte mit der Mutter und uns die zartesten Blumen zu ganz kleinen Sträußen zu binden, die dann den Briefen an Kranke und Freunde beigelegt wurden. Solch einen kleinen Strauß schickte er mit einem begleitenden Briefe im Sommer 1887, als wir auf der Insel Wangeroog waren, dem Kronprinzen, dessen Todeskrankheit sich damals schon angebahnt hatte. Der Kronprinz antwortete:
Bareno, Lago Maggiore, 9. 10. 87.
Lieber Freund!
Ich danke Deinen Kindern vielmals für das Dünensträußchen, welches aus Wangeroog wohlbehalten nach den Tiroler Alpen gelangte, aber nicht minder Dir und Deiner Frau für die Gesinnungen, mit welchen die Blumen gebunden, nebst den guten Wünschen, von denen sie begleitet wurden.
Es tut so wohl, aus der Heimat Grüße der Teilnahme zu erhalten, namentlich, wenn der Körper es nötig macht, lange fern zu bleiben! Doch kann ich mitteilen, daß die Ärzte das Übel als bezwungen ansehen, zumal seit Juli keine Nachwucherungen erfolgten. Dafür muß ich aber mit vieler Geduld eine langsame Genesung in einem andern Klima als dem heimatlichen mir gefallen lassen, weswegen ich den Mund halten und mich möglichst vor Erkältungen bewahren soll. Geschieht dies, und sollte es Gott fügen, so dürfte ich im Frühjahr als Genesener heimkehren.
Mich freut’s, daß Du Dir endlich einmal Ruhe und Luft gestattest, denn angesichts Deiner unermüdlichen Tätigkeit und Hingebung für Dein Liebeswerk könntest Du es ja fast gar nicht aushalten und bist es der Sache und Deinen Freunden schuldig, auch an Dich zu denken. Denn wir bedürfen Deiner auf mannigfachem Gebiet!
Gott segne und erhalte Dich, die Deinen und Deine Schöpfungen. Hoffentlich auf Wiedersehen im Frühjahr!
Dein alter Freund
Friedrich Wilhelm.
Als im Februar 1888 die Besorgnis um das Leben des Kronprinzen immer höher stieg, wurde Vater von seinem Schwager, dem Oberhofprediger Kögel, gebeten, nach San Remo zu reisen. Kögel selbst glaubte, den alten Kaiser Wilhelm nicht verlassen zu sollen, dessen Tage ja ebenfalls gezählt waren. Prinz und Prinzessin Wilhelm begrüßten den Gedanken mit größter Freude und verabschiedeten Vater für seine Reise in großer Bewegung und Herzlichkeit.
Vater erzählte später, wie schwer ihm beim Aufbruch ums Herz gewesen sei und wie wohl ihm auf dem Wege nach Italien die Lieder der Epileptischen in der Anstalt bei Zürich getan hätten und das kurze Zusammensein mit dem alten Samuel Zeller in Männedorf am Züricher See. Mitte Februar war er in San Remo. Professor von Bergmann vermittelte die Audienz bei der Kronprinzessin. Freundlich, aber bestimmt lehnte sie es ab, Vater zum Kronprinzen zu bringen. „Er sollte nichts vom Sterben wissen”, war Vaters Eindruck. Für zwei Tage ging er nach Nizza, um dort die Diakonissenstation zu besuchen, in der zwei Bielefelder Schwestern arbeiteten. Als er zurückkam, erhielt er dieselbe Ablehnung. Traurig reiste er zurück.
Heimgekehrt, bat Vater die ihm befreundete Fürstin-Witwe Elisabeth von Lippe-Detmold, in Kunstschrift drei schlichte Strophen zu malen, die dem Herzen eines schwer Leidenden entquollen waren (Ernst v. Willich). Er schickte sie nach Charlottenburg mit der Bitte, sie im Krankenzimmer des sterbenden Kaisers aufzuhängen. Soviel wir wissen, wurde wenigstens diese Bitte erfüllt. Die Strophen hießen:
Wenn der Herr ein Kreuze schickt,
Laßt es uns geduldig tragen;
Betend zu ihm aufgeblickt,
Wird den Trost er nicht versagen.
Denn es komme, wie es will:
In dem Herren bin ich still.
Ist auch oftmals unser Herz
Schwach und will wohl gar verzagen,
Wenn es in dem stärksten Schmerz
Keinen Tag der Freud’ sieht tagen,
Sagt ihm, komm’ es, wie es will:
In dem Herren bin ich still.
Darum bitt’ ich, Herr, mein Gott:
Laß mich immer glaubend hoffen,
Denn dann kenn’ ich keine Not,
Gottes Gnadenhand ist offen.
Drum, es komme, wie es will:
In dem Herren bin ich still.
Bei der Todesnachricht schluchzte Vater auf. Man fand ihn nachher im Selbstgespräch unter dem Bilde des Kaisers Friedrich, das in unserm Wohnzimmer hing: „Mein Friedrich, bist du wirklich tot?”
Amrum
Vater litt von Zeit zu Zeit an einer Schwäche des Halses und der Brust, die ihm das Atmen und Sprechen erschwerte. Zur Linderung dieses Gebrechens ging er immer wieder ans Meer. Es war im Jahre 1876, daß er mit unserer Mutter zusammen zum ersten Male an die See reiste, und zwar auf die Insel Borkum. Der Herbst war hereingebrochen, und die meisten Gäste waren schon abgereist. So verlebten die Eltern dort ganz besonders glückliche, stille Wochen, von denen sie uns oft erzählten.
Kurz vor ihrer Abreise aber durcheilte eines Morgens eine Schreckensnachricht die Insel. Man hatte in den Dünen die Leiche eines jungen Mannes mit zertrümmertem Schädel gefunden und nicht weit davon einen Strandhammer, womit augenscheinlich die Tat ausgeführt worden war. Es handelte sich um einen jungen Landwirt vom Festland, der als Badegast auf die Insel gekommen war. Man hatte ihn noch am Abend vorher bis spät in die Nacht hinein mit einem andern Badegast im Wirtshause beim Kartenspiel gesehen. Es konnte kaum anders sein, als daß dieser andere der Mörder war. Sofort wurden alle Boote mit Wachtposten besetzt, damit keiner die Insel verlassen könnte. Vater aber und sein Vetter, der Landdrost von Quadt, halfen bei der Suche nach dem Täter. Bald war denn auch der mutmaßliche Mörder entdeckt, der so lange am Leugnen blieb, bis man in seiner Wohnung die Geldbörse des Ermordeten fand und bis die am Strand und in den Dünen gefundenen Fußspuren zeigten, daß sie genau mit dem Maß seiner Stiefel übereinstimmten. Da gestand er seine Tat ein. Während des Kartenspiels hatte ihm der Ermordete erzählt, daß er der Sicherheit wegen all sein Geld stets bei sich trüge und daß er auch jetzt seine ganze Barschaft in der Höhe von 80 Mark in der Tasche habe. Das hatte den Mörder gereizt. Er lockte sein Opfer an den Meeresstrand, ergriff dort einen großen Holzhammer, der den Strandarbeitern gedient hatte, um Holzpflöcke zur Herstellung eines Schutzdammes in den Sand zu treiben, und jagte hinter seinem Opfer her. Man konnte die Spur der beiden im Sande verfolgen. Der Ermordete war geradeswegs auf den Leuchtturm zugeeilt, dessen Licht zum Strand herüberleuchtete. Der Mörder aber war ihm mit langen Sätzen nachgejagt, war ihm bei einem Sandberge, den er von der kürzeren Seite umkreist hatte, zuvorgekommen und hatte ihm so den tödlichen Streich versetzt.
Vater hatte niemals Freude an schauerlichen Geschichten. Aber diese Geschichte erzählte er immer wieder. Ihm spiegelte sich darin wie in einem Brennpunkte das ganze Elend, das vielfach durch das moderne Badeleben die stillen Inseln des Vaterlandes überflutet. Und die Todesangst des Erschlagenen und der Todesschrecken der friedlichen Bewohner von Borkum standen ihm immer aufs neue vor Augen, wenn er an so viele deutsche Badeorte dachte, die durch den Zustrom der Fremden in ihrem innersten Leben eine tödliche Wunde empfangen hatten.
Vater ging nie wieder nach Borkum, sondern statt dessen einige Male nach Norderney. Aber nachdem er zweimal in Norderney gewesen war, erklärte er: Ich gehe auch dahin nie wieder! Er sah, wie die eingeborene Bevölkerung durch die Badegäste ihres Sonntags beraubt wurde. Es war ihm fast unerträglich, in der Kirche zu sitzen und die von den Ortseingesessenen verlassenen Bänke zu sehen. Am meisten litt er unter dem Strom des Luxus und der Sünde, der durch die Fremden auf die Insel kam und viele Insulaner dahin brachte, ihr hartes, arbeitsames Leben aufzugeben und Sitte und Glauben der Väter zu verleugnen. Statt nach Norderney gingen die Eltern fortan mehrere Male mit uns Kindern auf die stilleren Inseln Langeoog und Wangeroog. In solchen Ferienzeiten taten dann die Eltern, was sie nur konnten, um Badegästen und Eingesessenen mit gutem Beispiel voranzugehen. Sie standen Sonntags früher auf als alltags und machten selbst ihre Betten. Dann wurden wir Kinder geweckt, damit wir das gleiche täten und so das Frühstück nicht so lang in den Sonntag hineingezogen würde. Ein Seebad nahm Vater nie am Sonntag, um dem Badewärter Arbeit zu ersparen, und mit ganzer Energie drang er darauf, daß Sonntags nur von einem statt von zwei Tellern gegessen wurde, damit den Mädchen die Arbeit des Spülens erleichtert würde.
So fiel die Bitte, die im Sommer 1888 von der Insel Amrum herübertönte, bei Vater auf wohl vorbereiteten Boden. Es kam nämlich von dort ein Brief des Inselpastors Tamsen, der Vater einlud, nach Amrum zu kommen und zu helfen, daß die Insel gegen die drohende Welle des modernen Badelebens geschützt würde.
Vater hatte noch niemals den Namen Amrum gehört und wußte nicht, wo es lag. Wir mußten ihm den Atlas herbeibringen und suchen helfen. Da lag denn die geheimnisvolle Insel wie ein einsamer Vorposten im Schleswiger Meer. Mit ihren Schwestern, den Inseln Sylt und Föhr, und den nach dem Festlande zu gelegenen Halligen bildet sie den letzten Überrest des einst so blühenden Landes, das vor fast dreihundert Jahren durch einen furchtbaren Sturm ins Meer gerissen worden war. 37 Kirchen waren damals mit ihren Ortschaften und einem großen Teil ihrer Bewohner im Meer verschwunden, um nie wieder emporzutauchen. Nur die Grundmauern einer einzigen von jenen 37 Kirchen blieben erhalten. Und bei klarem Himmel und stillem Wasser bringt der Schiffer von Amrum seine Gäste bis an die Stelle, wo zwischen Amrum und Sylt die Mauern der Kirche auf dem Grunde des Meeres zu sehen sind. Wenn aber lange Zeit hintereinander Ostwind weht und dadurch die tiefsten Ebben eintreten, dann steigen die Mauern der versunkenen Kirche sogar aus dem Wasser empor, ein ergreifendes Denkmal vergangener Herrlichkeit.
Aber ein wertvolleres Denkmal der alten Herrlichkeit ist Amrum selbst, nicht nur durch seine hohen, stolzen Dünen und die dahinter gelagerten fruchtbaren Felder und Wiesen, sondern vor allem durch das alte Friesengeschlecht, das auf Amrum zu Hause ist. Seefahrer und Ackerbauer sind die Amrumer von alten Zeiten her gewesen, und die Inschrift, die wir drüben auf einem der Friedhöfe der Insel Föhr entdeckten, paßt auch für manchen, der an der Kirchmauer von Amrum schläft:
„Mit gleichmäßiger Hand im wechselnden Laufe der Jahre
Führte das schwankende Schiff einst er durchs wogende Meer,
Dann durch den Acker, den stillen, die sicher gehende Pflugschar,
Und im Rate des Volks fehlte dem Lande er nie,
Bis zu dem Greise, dem müden, der Tod als Freund ist gekommen,
Führt, wie zum Hafen das Schiff, still ihn zum ewigen Licht.”
Bis dahin hatte nur hie und da ein einsamer Badegast Amrum betreten. Jetzt aber drohte die Spekulation sich der Insel zu bemächtigen. So sah sich Pastor Tamsen nach einer Hilfe um, die die Insel vor der Spekulation schützte, sie aber zugleich auf den Weg eines gesunden sozialen Fortschrittes stellte. Pastor Ninck in Hamburg riet ihm, sich an Vater zu wenden. Vater fing alsbald Feuer. Einige Briefe gingen hin und her, bis er eines Mittags sagte: „Kinder, telegraphiert nach Amrum: Wir kommen.”
Mit dem ersten Ferientage des Jahres 1888 waren wir unterwegs nach Hamburg. Am andern Morgen aber ging die Fahrt mit der „Freia” die Elbe hinunter nach Helgoland und der Insel Föhr, und zwei Tage später landeten wir auf Amrum. Am Hafen stand ein Pastor, der als Festprediger für das Missionsfest gekommen war, der aber infolge einer Todesnachricht die Rückreise antreten mußte, ohne seine Predigt halten zu können. So ging Vater alsbald statt seiner auf die Kanzel und freute sich, auf diese Weise gleich von vornherein in kräftige Verbindung mit der ganzen Inselbevölkerung zu kommen. Wie jauchzte sein Herz dieser Gemeinde entgegen, die mitten in der Erntezeit und an einem Alltage im festlichen Schmuck der Friesenkleider ihr Missionsfest feierte! Aus der Kirche aber ging es ins Pfarrhaus. Da waren die Tische mit Kaffee und Kuchen gedeckt, wie es sich am Missionsfest gehört; drei liebliche Kinder waren da und eine stille Pfarrfrau. Das Beste aber waren die glänzenden schwarzen Augen des Pastors, die aus dem hageren Antlitz, das schon die Vorboten eines frühen Todes zeigte, desto durchdringender leuchteten. Ich sehe noch, wie Vater den Arm von Pastor Tamsen faßte und die beiden Arm in Arm auf der weiten Wiese vor dem Pfarrhause in ernsten Gesprächen auf- und abgingen. Sie galten der Zukunft von Amrum.
Wir fanden ein leerstehendes Haus, dessen Besitzer auf dem Meer umgekommen war und dessen Witwe kinderlos bei ihren alten Eltern wohnte. Es lag an der Grenze des Kirchdorfes mit freiem Blick auf das Wattenmeer und die Insel Föhr, deren drei hohe Kirchen wie aus dem Wasser herauszuragen schienen.
Gleich am ersten Morgen bauten wir mit Vater zusammen am Rande der Wiese, die an den Garten unseres Hauses grenzte, aus einem großen alten Segel ein geräumiges Zelt. Dort brachten wir arbeitend unsere Vormittage zu. Die Nachmittage aber dienten der gründlichen Durchforschung der Insel. Wir hatten bei unsern Streifzügen unser Badezeug bei uns, um aus eigenster Erfahrung erproben zu können, an welchen Stellen sich am günstigsten baden ließe und welcher Teil der Insel überhaupt zur Errichtung eines Seebades in Betracht käme. Wir badeten zunächst im Wattenmeer, um den Untergrund zu erforschen. Aber der Sumpf, in dem wir alsbald bis über die Knöchel versanken, zeigte sofort, daß es ganz ausgeschlossen sei, an der dem Strand entgegengesetzten Seite der Insel eine Badegelegenheit zu schaffen. Dann ging es über Süddorf und den hochragenden Leuchtturm, den stolzesten der ganzen deutschen Küste, an das Südende der Insel. Auf diesen Teil, so hieß es, hätten vor allem auswärtige Unternehmer ihr Auge gerichtet. Aber trotz des wehenden Windes waren die Wellen und der Wellenschlag so unbedeutend, daß es Vater sofort klar war, daß kein Badegast, der kräftigeren Wellenschlag begehrte, sich auf diesem Teil der Insel befriedigt sehen könnte und daß alle Unternehmungen, die sich hier festsetzen würden, von vornherein mit dem Bankerott würden kämpfen müssen.
Dann kam der mittlere Teil der Insel an die Reihe. Von Nebel aus ging es durch die hohen Dünen geradeswegs auf den Strand zu. Aber während früher die Wellen bis unmittelbar an den Dünenrand gespült hatten, hatte sich im Laufe der Jahre eine große Sandbank vorgelagert, die nur bei ganz hoher Flut überspült wurde. Diese Sandbank galt es in einer Breite von etwa einer halben Stunde zu durchqueren. Und wenn wir draußen auch einen vortrefflichen Wellenschlag fanden, so zeigte es sich doch, daß wegen der großen Entfernung an dieser Stelle eine Badeanlage wenig Aussicht auf Erfolg hatte. So blieb nur noch die Nordspitze der Insel übrig.
Eine Stunde von Nebel entfernt stießen wir auf den Flecken Norddorf. Es war, als wenn seine schilfgedeckten Häuser sich noch tiefer als die andern Häuser der Insel in den Sand hineinduckten und sich fast ängstlich an den Abhang anschmiegten, der sich im Rücken des Dorfes hinzog. Wohl blühten auch hier in den kleinen Gärten schüchterne Blumen. Aber sie wagten sich nicht so kühn hervor wie im geschützteren Nebel und im milderen Süddorf. Und die Stille und der Ernst, die ja überhaupt bei den Leuten der Meeresküste zu finden sind, schienen bei den Bewohnern von Norddorf in besonderem Maße Hausrecht zu besitzen. Mancher Sohn von Norddorf hatte sich jenseits des Ozeans eine neue Heimat suchen müssen, weil die alte Heimat nicht genug an Unterhalt und Arbeit bot. Und manchen Vater und Bruder hatte das Meer verschlungen. Es mochte am Nordseestrand wenig Dörfer geben, wo dem Verhältnis nach so viele Witwen und Waisen zu finden waren wie in Norddorf. Aber desto heimatlicher wurde unserm Vater dort alsbald zu Mute. Denn da, wo er auf Menschen stieß, die in Kampf und Entbehren und verborgenem Leid saßen, war ihm immer am wohlsten.
Von dem stillen Dorf aus wanderte unser Blick noch weiter nordwärts. Da lag vor uns das Marschland von Riesum, im Winter so oft von den Sturmfluten überschwemmt, aber jetzt mit seinen weidenden Schafen, Kühen und Pferden und seinem saftigen Grün ein überaus lieblicher Anblick. Über Riesum hinweg aber flogen die Augen zur nördlichen Spitze von Amrum, dem letzten einsamen Außenfort der Insel. Dahin ging nun die Wanderung.
Als wir an den Strand kamen, brauste ein Regenschauer hernieder, der uns zwang, in einem von den Strandarbeitern errichteten niedrigen Zelt Unterschlupf zu suchen. Das gleiche hatte vor uns schon ein altes ehrwürdiges Ehepaar getan. Es war der Kirchenrat Lotze, Löhes einstiger Gehilfe, der Nachschreiber und Herausgeber von Löhes Predigten, der sich mit seiner Frau in die weltverlassene Stille von Amrum geflüchtet hatte. Und während wir in dem engen Zelte hockten, erfüllte der alte Lotze Vaters Herz vollends mit Begeisterung für dieses schöne und ernste Stückchen Erde. „Hier hört man ordentlich die Stille”, sagte er, als er aus dem Zelte kroch und tief aufatmend seine Augen über den Strand und das einsam brausende Meer schweifen ließ.
Dann ging es weiter, der Nordspitze zu. Kein Haus, kein Mensch, kein Schiff; nur die Kaninchen huschten daher, und die Möwen schrien in der Luft, und ein paar Schäfchen weideten einsam am Fuße der Sandberge. Lange standen wir auf den hohen Dünen, die hier steiler als an irgend einem Punkte der Insel ins Meer abfallen, weil nirgends so wie hier das Meer bis an ihren Fuß spült und ihre Fundamente benagt. Dann ging es hinunter in die Wellen. Sie waren freilich nicht so hoch und mächtig, wie man sie in Norderney findet oder gar in Sylt, aber es waren doch kräftige Wasserstürze, die einem den Rücken rot peitschen konnten und das Blut frischer durch die Adern jagten. Das war ein Bad so ganz nach unseres Vaters Sinn. Zu stark konnte er es nicht mehr vertragen; aber zu schwach liebte er es auch nicht. Er stampfte ordentlich vor Freude in den festen Sand des Strandes, als wir klappernd vor Kälte und Anstrengung wieder in unsern Kleidern waren.
Schließlich wurde noch das ganze Eiland der Nordspitze gründlich durchforscht. Mit langen Schritten, jeder Schritt zu einem Meter berechnet, maß Vater die ebenen Streifen Landes ab, die sich im Schutz der Dünen für menschliche Niederlassungen eigneten.
An den folgenden Tagen überlegte Vater eingehend mit Pastor Tamsen. Dann wurden die Amrumer zu einer Abendversammlung in die Kirche eingeladen. Hier stellte Vater der ganzen Gemeinde in seiner Herz und Gewissen packenden Weise die Gefahr vor, die der Insel drohe von einer Spekulation, die nur ihren eignen Gewinn suche und keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der Insulaner kenne. Er bot seine Hilfe an, rechtzeitig der Spekulation zuvorzukommen und dort oben im Norden der Insel ein Hospiz für stille Badegäste zu errichten, die leibliche und geistige Erholung suchten und gleichzeitig Sicherheit böten für die Erhaltung der Vätersitte und des Väterglaubens auf Amrum.
Vaters Worte schlugen ein. In der Sitzung der Gemeindevertreter, an der Vater und Pastor Tamsen teilnahmen und in der Vater seinen in der Kirche entwickelten Plan noch im einzelnen darlegte, wurde einmütig beschlossen, das ganze Vorkaufsrecht für alle bebaubaren Flächen im nördlichen Teil der Insel an Vater abzutreten. Damit war der entscheidende Schritt getan; und die Eltern kehrten mit uns in die Heimat zurück.
Nun galt es, Freunde für das junge Unternehmen zu gewinnen und das unentbehrliche Kapital flüssig zu machen. Aus schleswig-holsteinischen und Hamburger Kreisen bildete sich ein Verein, der im Bunde mit dem Diakonissenhaus Bethlehem in Hamburg und dem Bielefelder Diakonissenhaus die Aufrichtung des Amrumer Hospizes in die Hand nahm und, zumeist unter persönlichen großen Opfern, das nötige Kapital vorstreckte. Freilich ging über den Verhandlungen mit der Regierung, die die getroffenen Abmachungen zu genehmigen hatte, zunächst noch ein ganzes Jahr hin. Aber als das Frühjahr 1890 herankam, lag ein schwedisches Schiff im Hafen von Amrum. Vater hatte durch schwedische Gäste, die Bethel besuchten, von der Bauart der schwedischen Holzhäuser gehört. Das hatte ihm eingeleuchtet. Es schien ihm ohnehin geraten, auf der von den Sturmfluten so oft und schwer bedrohten Nordspitze statt schwerer Backsteinbauten möglichst leicht bewegliche Häuser zu errichten, die im Notfalle wieder abgebrochen und an einer andern Stelle aufgeschlagen werden konnten. So barg das schwedische Schiff in seinen Wänden drei fix und fertig zugeschnittene Holzhäuser, ein großes und zwei kleine, die in wenigen Wochen aufgeschlagen, mit schneeweißer Dachpappe gedeckt und mit den notwendigsten Möbeln eingerichtet waren.
Anfang August 1890 brachen die Eltern zum zweiten Male mit uns nach Amrum auf. Da lagen sie wirklich vor unsern erstaunten Augen, die drei schlichten, anmutigen Häuser, von denen das kleinste für uns bestimmt war.
Es begann ein ungemein glückliches Leben. Wir waren mit den Insulanern und Hospizgästen wie eine große Familie, die zusammengehörte und Freud und Leid miteinander teilte. Wohl trieb der scharfe Wind hier und da einmal den Regen durch die noch nicht ganz fest gefugten Bretter; wohl waren die Badehütten am Strand nur auf das notdürftigste eingerichtet; wohl hatte Schwester Pauline, die Hausmutter, manchmal Not, das Fleisch nach dem langen Transport von Hamburg her frisch zu erhalten, – aber Vaters Heiterkeit ließ keine Sorgen und Klagen aufkommen.
Der römische Dichter Horaz sagt einmal: „Es kommt darauf an, was zum ersten Male in ein neues Gefäß gegossen wird, denn dessen Geruch behält es für immer.” So ging es auch in Amrum. Von Vaters Art und Wesen strömte ein Wohlgeruch aus, der zugleich nach Erde und Himmel schmeckte. Natur und Gnade waren bei ihm wie zwei Rosen an demselben Stiel, und ihr Duft erquickte jeden, der mit Vater in Berührung kam, bis ins Herz. Diesen Wohlgeruch goß er damals in die neuen Häuser auf Amrum, und sie konnten ihn nicht wieder verlieren.
Schon im nächsten Jahre zeigte es sich, daß das erste Hospiz mit seinen drei Häusern nicht ausreichte, um das Werk, das einmal begonnen war, durchzuführen. Inzwischen waren nämlich auf der Südspitze der Insel mächtige Hotels entstanden. Eine umfassende Reklame hatte durch ganz Deutschland eingesetzt. Der Name Amrum war in aller Mund. Aber viele, die auf solche Reklame hin auf der Südspitze landeten, sahen sich enttäuscht, und Vaters Voraussage trat ein: ein Bankerott jener Hotelunternehmungen folgte auf den andern. Desto stärker aber wurde nun das Gedränge nach dem soviel günstigeren nördlichen Teil der Insel. Norddorf wurde von Gästen gestürmt. Und um den Gästen zu dem Quartier, das ihnen Norddorf gab, auch Speise und Trank darreichen zu können, blieb nichts anderes übrig, als an dem Dünenrande zwischen Norddorf und dem Meere ein zweites Hospiz zu bauen und bald ein drittes, bis im Jahre 1905 gar das vierte und im Jahre 1911 das fünfte hinzukam.
An Sorgen hat es freilich auf Amrum nicht gefehlt. Es kamen Zeiten, wo gute Freunde rieten, die Arbeit aufzugeben. Aber Vater blieb unerschrocken. Ja, er wurde zornig, wenn der Gedanke auftauchte, die Hospize zu verkaufen. Wie er nicht um Geldes willen die Sache angefangen hatte, so wollte er sie jetzt nicht um Geldes willen preisgeben. Er wußte, daß dann die ganze bisherige Arbeit verloren und das schöne Nordland mit seinen treuen Bewohnern der Macht der Spekulation rettungslos ausgeliefert sei. Jetzt konnten die Töchter Amrums in der Stille der Hospizarbeit zu tüchtigen Hausfrauen herangebildet werden. Was aber würde sonst aus ihnen werden?
Schon allein dieser eine Gedanke genügte für Vater, um die Treue, die er Amrum einmal versprochen hatte, nur desto fester zu halten. Und schließlich erlebte er es denn auch, daß alle Bedenklichkeiten überwunden und auch die Schulden- und Sorgenlasten leichter wurden. Hingebende Mitarbeiter fanden sich, die in leitender und dienender Stellung die Arbeit in Amrum trieben. Fast aus allen Ständen und Berufsarten stellten sie sich im Laufe der Jahre ein. Und daß es meist sogenannte Laien waren, die hier unter den Augen des unermüdlichen Herrn Kehrer nicht nur die äußere, sondern auch die innere und innerste Arbeit taten, war für Vater immer aufs neue eine besondere Freude. Der geistliche Vater der Hospize aber wurde mehr und mehr der alte Pastor von Wilucki. „Väterchen Wilucki!” wie oft hat das Vater gerufen, wenn er dem ehrwürdigen Manne um den Hals fiel, um ihm für seine unermüdliche Liebe zu danken, mit der er elf Jahre hintereinander seine emeritierten Kräfte vor den Hospizwagen spannte.
Nach unserer Mutter Tode hat Vater wieder und wieder sein liebes Amrum aufgesucht. Weil sein Herz jung blieb bis zuletzt, darum konnte er bis in sein hohes Alter hinein neue Freundschaften schließen. Und daß ihm Gott gerade auf Amrum so manches neue Freundesherz schenkte, gehörte zu seinen besonderen Erquickungen. Von denen, die inzwischen abgerufen sind, waren es vor allem der Herausgeber des „Baseler Volksboten”, Theodor Sarasin, und seine noch lebende hochgesinnte Frau, die beide mit ihrem Himmel und Erde umspannenden Interesse Vaters Herzen ganz besonders nahestanden. Hier fand Vater zwei ihm in ungewöhnlichem Maße gleichgeartete Naturen, in deren Gegenwart er sich besonders wohl fühlte.
Aus der Menge der Freunde und Gäste riß sich Vater dann immer wieder los, um in der Einsamkeit nachzudenken. Gern stieg er auch in das Boot, um bis vor die Brandung der vordersten Sandbänke zu segeln, die weit draußen im Meere ihren schützenden Gürtel um Amrum legen. Dann las er den Gästen, die mitfuhren, vor, oder er saß still für sich allein unter dem Vordersegel und summte ein Lied vor sich hin. Einmal, als eine Mißstimmung unter den Hausmädchen des Hospizes ausgebrochen war, machte er ganz allein mit ihnen eine Segelfahrt hinaus ins Meer, und als sie abends heimkehrten, waren Friede und Eintracht wieder hergestellt.
Am liebsten hatte Vater die Halligen. Unvergeßlich ist die erste Fahrt, die wir dahin machten. Vater war zum Missionsfest nach der Hallig Hooge eingeladen. Da kein Dampfer dort anlegte, mieteten wir den „Hotspur”, einen starken Segelkutter des früheren australischen Goldsuchers und jetzigen Austernfischers Peters. Schon am Tage vorher mußten wir aufbrechen, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein. Erst dicht vor Mitternacht wateten wir von unserm Boote aus, Schuhe und Strümpfe in den Händen, an das einsame Eiland und suchten uns durch die Dunkelheit an den grasenden Kühen und Schafen vorbei den Weg zum Pfarrhaus. Es war dasselbe Haus, auf dessen Dach sich der Vorgänger des jetzigen Pastors mit Frau und Kind vor der Sturmflut geflüchtet hatte. Nur ihr kleinstes Kind hatten sie mit hinauf retten können, die andern Kinder trugen die Wellen davon in den Tod hinein. Die Kanzel aber, auf der Vater andern Tages seine Predigt hielt, stammte aus einer jener 37 untergegangenen Kirchen. Sie war nach jener Schreckenszeit an das Ufer von Hooge gespült worden.
Je öfter Vater nach Amrum kam, desto wohler fühlte er sich in der stillen Inselwelt, desto familienmäßiger schlossen sich die Bande zwischen Insulanern und Hospizgästen. Mancher schöne Familienabend wurde gefeiert. Dann kamen die stillen Männer der Insel und in ihrer eigenartigen Tracht die Frauen und Mädchen; und der Pastor und Doktor kamen; und hoch auf seinem Rappen kam der originelle alte Kantor Bandix Bonken, der drüben von der kleinen Hallig Gröde stammte und in dessen Geburtsjahr sich die Eintragung im Kirchenbuch der Hallig findet:
Geboren eins.
Gestorben keins.
Kopulieret ein Paar,
Welches des Küsters Töchterlein war.
Der „Geboren eins” aber war der spätere Kantor von Amrum.
Die Hospizgäste waren wie Kinder im Hause, die Sonntags dem Vater zuliebe und dem Dienstpersonal zur Freude ihre Betten machten und mittags auf leisen Sohlen durch das Haus schlichen. Unter allen schönen Stunden aber, die wir auf Amrum verlebten, waren jedesmal die schönsten, wenn Vater die Morgenandacht hielt oder wenn er, sei es in der Strandhalle, sei es an einer geschützten Stelle in den Dünen, die Bewohner der Hospize zu einer freiwilligen Bibelbesprechstunde vereinigte. Der letzten Stunde, die ich mit erlebte, lag der Text aus dem 2. Korintherbrief zu Grunde: „Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir verzagen nicht.” In der anschließenden Besprechung kam die Rede aufs Sterben, und Vater sagte: „Das letzte Sterben ist das schwerste nicht, aber den alten Adam täglich in den Tod geben, – nichts ist schwerer, aber auch nichts ist feiner.” „Auf das letzte Stündelein aber wollen wir uns bereit machen; desto leichter wird es sein, wenn es einmal da ist.” „Es ist mir wohl manchmal ein bißchen bange, wenn ich an die letzte Fahrt denke, aber” – mit dem Finger in die Höhe zeigend – „mein Heiland ist am Steuerruder. Und ist die letzte Fahrt überstanden, dann sind wir am lieben jüngsten Tage alle zusammen vor Gottes Thron und haben alle Vergebung der Sünden. Dann wollen wir danken und loben ohne Aufhören. Denn Dank und Lobgesang ist unser Ziel, wie wir überhaupt geschaffen sind zum gemeinsamen Lobe Gottes.”