Kitabı oku: «Die Revolution der Bäume», sayfa 4
Sein Publikum war alles andere als ihm wohlgesonnen. Die haben ihn angesehen, als ob er ein Aussätziger wäre, dabei hatte er in seinem dauerbekifften Zustand, der phasenweise einem ausgewachsenen Delirium gleichkam, zumeist gar nicht gewusst, was er tat, war phasenweise kaum noch zurechnungsfähig. Wie heißt das vor Gericht so schön? Im Zweifel für den Angeklagten. Jo war der Meinung, dass ein Eierkopf wie er, einer, der nicht weiß, was er tut, eine zweite Chance bekommen sollte. So ein armer Teufel hat ein verbrieftes Recht auf Absolution, oder?
Seine Zukunft hing davon ab, dass er das Kunststück fertigbrachte, der aus selbstgefälligen Arschgeigen bestehenden Grand Jury seine Sicht der Dinge zu verklickern. Als sein eigener Anwalt musste er das Schlussplädoyer selber halten, niemand wäre auf die Idee gekommen, sich auf seine Seite zu schlagen und ein gutes Wort für ihn einzulegen.
Und überhaupt? Was wollten die bloß alle von ihm? Er kann schließlich nichts dafür, dass ihm das Scheitern in die Wiege gelegt wurde. Das macht ihn nicht automatisch zum schlechten Menschen. Man kann doch niemanden für sein angeborenes Naturell verurteilen, ein Affe ist ein Affe und eine Rose eine Rose. Er ist nun einmal als Skandalnudel auf die Welt gekommen, und wenn man so eine eskapistische Ader erst einmal voll ausgebildet hat, ist ein gelegentlicher Griff ins Klo fast unvermeidlich, quasi schon vorprogrammiert und deshalb halbwegs verzeihlich.
Jo kennt das Prozedere inzwischen wie seine Westentasche. Noch besser weiß er um seinen undankbaren Part in diesem weltumspannenden Gesellschaftsspiel. Im Laufe der Zeit ist er in die Rolle des schwarzen Schafes hineingewachsen und hat sich damit abgefunden, der schwarze Peter, Buhmann und Arsch vom Dienst zu sein. Das überstrapazierte Gewissen der moralisch tadellos funktionierenden Gutmenschen braucht nun einmal einen ausgewachsenen Sündenbock wie ihn, also tat er ihnen den Gefallen und spielte brav seine Rolle.
Kleinmütig wie ein getretener Hund, wälzte er sich unter ihren kalten, abschätzigen Blicken im Urschlamm seiner Schuld. Eine meisterhafte Darbietung, deren Qualität auf der Echtheit seiner Gefühle basierte, eine Glanzstunde des Method Acting. Er hat alles gegeben; geheult, gebettelt und mit den Zähnen geklappert, um wieder in den solidarischen und hermetisch geschlossenen Reihen der Aktionsgruppe „Natur ist Leben!“ Einlass zu finden. Reumütig nahm er die Lektion in Demut entgegen, ließ öffentlich die Hosen herunter und schämte sich noch nicht einmal dafür. Im Gegenteil, er war überglücklich, endlich Abbitte leisten zu dürfen. Seine Angst, ein weiteres Jahr unter dem Damoklesschwert gesellschaftlicher Ächtung vegetieren zu müssen, fegte jegliche Hemmungen und Anflüge von falschem Stolz kurzerhand beiseite.
Als Stunden später die bereits scharlachrot verschleierte Sonne die Wipfel der Bäume küsst und purpurne, fein gewobene Wolkenschleier die nahende Dämmerung ankündigen, schaltet Hermann den handlich kleinen, mobilen Dieselgenerator aus, der ihnen tagsüber den notwendigen Strom geliefert hat. Auf dieses Zeichen hin, lassen die Genossen und Genossinnen kollektiv ihre Hämmer fallen und gehen zum gemütlichen Teil der Aktion über.
Mit routinierten Handgriffen nimmt ein Lagerplatz Gestalt an, in seiner Mitte die traditionelle Feuerstelle. Totholz wird gesammelt und aufgespalten und dann kunstvoll zu einer kniehohen Pyramide aufgeschichtet. Um diese herum nehmen im Nu zwei perfekt abgezirkelte Kreise Gestalt an, einer aus braunrot geäderten, eiförmigen Findlingen, der andere aus dicken, nach Harz duftenden Baumstämmen, die einige Leute aus dem Wald herbei gerollt haben. Selbstverständlich geht der zu Kleinholz zersägte Baum nicht auf das Konto der jungen Leute, zu derlei Grausamkeiten sind sie definitiv nicht im Stande.
Kaum hat die wohltemperierte Sommernacht den Vorhang zur Außenwelt geschlossen, prasselt bereits ein anheimelndes Feuer in der Mitte der Lichtung. Das zuckende Licht der Flammen zaubert schattige Erscheinungen auf das schweigende Rund der Bäume, tanzende Schemen, die von Stamm zu Stamm huschen und immer weniger von dieser Welt sind.
Jo bemüht sich krampfhaft um eine demonstrativ relaxte Körperhaltung, spürt aber, wie sich mit seiner aufkommenden Panik alle Muskeln verhärten, sein ganzes Ich eine verschreckte Schutzhaltung einnimmt. Er weiß genau, was jetzt geschieht. Präzise und berechenbar, ja, auf eine perverse Art zuverlässig wie eine Schweizer Uhr, läuft in ihm ein tausendundeinmal durchlebter Automatismus der Angst ab, bricht sich das bange Lebensgefühl von einem Bahn, der sich auch in der tausendundersten Nacht nicht erfolgreich weigern kann, auszuziehen, um das Fürchten zu lernen.
Gelähmt, unfähig, die Notbremse zu ziehen, steht Jo neben sich und schaut sich dabei zu, wie er unaufhaltsam immer kleiner wird. Er versucht so zu tun, als wäre er ein unbeteiligter Beobachter, ein nur mäßig interessierter Voyeur, den das Ganze eigentlich gar nichts angeht.
Ein Psychodoktor sähe in ihm vermutlich einen zerrissenen Menschen, aus Jos Perspektive jedoch ist dieser Zustand der Spaltung ein nicht von der Hand zu weisender Fortschritt, er empfindet es als ausgesprochen wohltuend, seinen Schrumpfungsprozess inzwischen von außen betrachten zu können und nicht mehr so zwanghaft eingekeilt zu sein zwischen all seinen widersprüchlichen Gefühlen. Wer nicht wirklich existiert, der braucht auch keine Angst zu haben.
Zum Glück gibt ihm seine auserwählte Eiche etwas Halt in dieser dunklen Stunde, es tut gut, eine so kraftvolle Verbündete in der Nähe zu wissen. Den verspannten Rücken gegen ihren mächtigen Stamm gepresst, rutscht er unruhig auf seiner Isomatte herum und versucht die Geister zu ignorieren, die sich mit der zunehmenden Dunkelheit in immer schärfer konturierte Gestalten verwandeln. Späte Gäste, die außer ihm offensichtlich niemand wahrnimmt. Jedenfalls scheint der fröhlich tratschende Rest der Truppe im Gegensatz zu ihm keine Gedanken an irgendwelche Begegnungen der dritten Art zu verschwenden.
Fucking strange! Der dicke Baum dort drüben öffnet plötzlich seine gigantischen Kulleraugen. Reißt sie sperrangelweit auf.
Jetzt ist es passiert! Das, was er die ganze Zeit befürchtet hat. Einer der Tagschläfer ist aufgewacht. Das dämliche, laute Gelaber hat ihn aufgeweckt. Aus der Mitte seiner runzeligen Rinde heraus glotzt er ihn an wie ein Auto. Da! Jetzt hat er ihm auch noch zugeblinzelt...
Jo möchte den anderen am liebsten den Mund verbieten, sie bitten, leiser zu sein.
Seid doch endlich still! Ihr weckt sie sonst alle auf. Es sind so viele dort unten. Sie fühlen sich gestört und hangeln sich aus den tiefen Schatten ihrer labyrinthischen Höhlen hinüber in die Welt der Menschen. Bald werden ganze Heerscharen an die Oberfläche kommen und der Wald voll von ihnen sein.
Jo befürchtet, dass er die Kontrolle verlieren könnte. Wenn viele gleichzeitig auftauchen, wird es schwierig für ihn, den Überblick zu behalten. Dann kann er unmöglich alle im Auge behalten. Aber einer wird sich um sie kümmern müssen, jemand muss sie genau beobachten. Aufpassen, das sie keinen Unsinn anstellen. Denn so entspannt und harmlos, wie sie jetzt gerade wirken, sind sie nämlich nicht. Jo weiß, dass sie sich auch in etwas ganz Anderes verwandeln können. In etwas Garstiges und Feindseliges, listig wie hundsgemeine Kobolde. Wenn sie wollen, können sie ohne Ende Scheiße bauen und einem das Leben schwer machen...
Ganz ruhig und entspannt bleiben, Alter! Lass dich nicht aus dem Konzept bringen. Du weißt es inzwischen doch viel besser, hast geschnallt, wie der dämliche Angsthase läuft. Wie ein Vollidiot rennt er im Zickzack vor seiner Angst davon und geradewegs ins Verderben hinein.
Vor allem darf man sich niemals der Panik ergeben, niemals der Versuchung nachgeben, sich tot stellen zu wollen. Denn das ist nur etwas für Loser. Die glauben noch an das kindische Versteck hinter vor das Gesicht gehaltenen Händen. Sie denken, wer nicht sieht, kann auch nicht gesehen werden.
Ruckartig kommt Jo in die Realität zurück und merkt, dass er aufgehört hat, zu atmen. Er befürchtet, das leiseste Geräusch könnte ihn verraten.
Nein! Diesen Hochsicherheitsknast vermeintlicher Sicherheit kennt Jo zur Genüge.
Nein! Ins Bockshorn jagen lässt er sich nicht mehr. Never, ever!
Nein! Anstatt wie ein trotteliges Opferlamm mit offenen Augen in die Falle zu tappen, beschließt er das Monstrum namens Angst zu verwirren, indem er genau das Gegenteil von dem macht, was es von seinen Opfern erwartet.
Lass jetzt alles los, jedes Gefühl und jeden Gedanken. Schalte radikal um auf Survivalmodus. Das Einzige, was in so einem Moment zählt, ist das immer gleiche Ein und Aus, das einen am Leben hält. Tu nichts, außer dem Kommen und Gehen deines Atems zu lauschen. Alles andere ist ohne Bedeutung. Beobachte deinen Körper, wie selbstverständlich er für sich sorgt, wie klar und ruhig er ist. Genau wie ein großer See, auf dessen Oberfläche bei einem Sturm kleine Wellen tanzen, bleibt er in seiner Tiefe gänzlich unbeeindruckt von äußerem Druck und Getöse.
Folge seinem Beispiel und erkenne die simple Strategie des Überlebens. Die naheliegendste Lösung ist gleichzeitig das Einfachste auf der Welt. Und das, was funktioniert, ist richtig. Tiefer Atem ist die beste Medizin in solchen Situationen.
Jo starrt in die Nacht, die Nacht starrt zurück. In seinem Rücken spürt er die lebendige Wärme der Eiche, ihre borkige Rinde strahlt Geborgenheit aus. Er ist ihr dankbar für diese Zuwendung, eine Dankbarkeit, die an Liebe grenzt. Der Baum empfindet auch Zuneigung für ihn, da ist Jo sich sicher. Hinter ihm steht eine Riesenportion Liebe für alle lebendigen Wesen, und er ist einer von ihnen. Er muss sich nur diesem allgegenwärtigen Schutz anvertrauen. Dann wird alles gut. Und ein Leben ohne Angst liegt vor ihm.
Chill mal wie Buddha, sagt er sich. Das sind nur Naturgeister. Die tun dir nichts. Du bist doch einer von ihnen, ein Freund der Bäume.
Jo hat einschlägige Erfahrungen mit Angstzuständen aller Couleur. Mit den Jahren hat er sich zu einem Krisenmanager erster Güte entwickelt, zu einem wahren Meister im Bewältigen von Panikattacken.
Was ihm neben den sich zumeist in den Abendstunden einstellenden, übernatürlichen Erscheinungen, am meisten zu schaffen macht, ist seltsamerweise eine positive Entwicklung, die eigentlich Anlass zur Freude sein sollte. Im Verlauf der letzten Monate weiteten sich die zunächst sporadischen, vereinzelten Glücksmomente zu ausgedehnten Glückssträhnen aus. Früher kannte er nur die rasanten Wechsel zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit, himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt. Doch nun wacht er morgens auf und ist einfach guter Dinge, grundlos glücklich und muss gar nichts weiter dafür tun. Als ob dieses Glücksgefühl sein ursprünglicher, natürlicher Seinszustand wäre.
Aber aus bitterer Erfahrung weiß er, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist und unmöglich stimmen kann. Denn umsonst ist nicht mal der Tod und Highlights wie plötzliche Anfälle von Frohsinn gibt es schon mal gar nicht geschenkt. Die haben ohne Ausnahme einen langen Schatten und darin verbirgt sich meistens ein Rattenschwanz.
Tagelang grübelt er kreuz und quer und sucht händeringend nach dem Haken an der Sache. Denn irgendeinen hässlichen Haken muss dieses ungewohnte Lebensgefühl ja schließlich haben. Und obwohl alles nun viel einfacher geworden ist, kommt es ihm gleichzeitig komplizierter vor, schon allein deshalb, weil er Phasen von Freude und Entspannung seit jeher extrem irritierend fand.
Dennoch muss er sich widerwillig eingestehen, dass sich sein ganzes Leben, seit dem Beginn seiner Abstinenz, wie von Geisterhand umgestaltet hat. Es ist deutlich strukturierter und überschaubarer geworden und geht ihm leichter von der Hand. Viele unumgängliche Alltäglichkeiten, zu denen er sich früher erst langwierig überwinden musste und die er ewig, zusammen mit einem Berg anderer unerledigter Dinge vor sich her schob, laufen heute wie von selbst.
Sogar die Welt seiner Gedanken entwickelt sich inzwischen zunehmend in eine optimistische Richtung. Manchmal ist sie sogar dermaßen lichterfüllt und positiv, dass es ihm so vorkommt, als ob ein Engel seine Hand über ihn halten und ihn mit einem Zauberspruch segnen würde. Dann erstrahlt alles in ihm, bis in jede einzelne Zelle hinein, in solch einer reinen Stille und Schönheit, dass es ihn irgendwann hochgradig anzuöden beginnt. Die Monotonie des Frohsinns ist ein echtes Paradoxon.
In exakt diesen schwachen Momenten sucht sie ihn heim, die Unerträglichkeit stillen Friedens. Eine alle guten Ansätze im Keim erstickende und zermahlende Unruhe nimmt sich krakenhaft Raum in ihm und verstopft jede seiner Gehirnwindungen, bis am Ende nichts als hochtoxischer Sondermüll mit Überschallgeschwindigkeit in seinem Kopf rotiert, absoluter Mindfuck.
Je mehr sich seine Gesamtsituation entspannt, desto stärker schürt seine zunehmende Nervosität eine böse Lust in ihm, das neu gewonnene Gefühl der Geborgenheit niederzureißen und zuzuschauen, wie die zarten Knospen seines frisch erwachten Selbstvertrauens im Glutkegel seines Zweifels zu Asche verbrennen. Ein alter, ausgetretener Pfad, der durch ausdauernden Selbsthass gebahnt wurde und nach wie vor eine Option ist, die er jederzeit abrufen kann. Dieser flackernde Wahnzustand ist ein alter Bekannter, dessen Antlitz ungesund beleuchtet wird vom giftig gelben Stroboskoplicht, das Jos latentes Misstrauen erzeugt. Er gleicht einem kurzen, dramatisch hohen Fieber, einer schwarzgesichtigen Krankheit, die alles in den Dreck zieht und jeden Sinn für das Schöne aus seinem Herzen brennt.
Verstandesmäßig erkennt er selbstverständlich, dass es ihm jetzt besser geht als je zuvor und er das Leben zunehmend besser auf die Reihe kriegt, trotzdem ertappt er sich gelegentlich bei der Lust auf ein ausgewachsenes Drama. Dann überfällt ihn ein unwiderstehlicher Bock auf totales Chaos, auf den guten, alten, ganz alltäglichen Wahnsinn, der ihn früher durch die Tage gepeitscht hat. Und während er bereits mit dem verlockenden Gedanken spielt, dem infernalischen Sog nachzugeben, kommt sie ihm gleichzeitig total verrückt vor, diese Sehnsucht nach dem so verflucht vertraut erscheinenden, todtraurigen Land namens Selbstzerstörung. Als ob sie ein warmer, perfekt eingetragener Lieblingsmantel wäre, von dem er sich nicht trennen mag.
Manchmal spielt er mit dem Gedanken, vorsätzlich zu scheitern. Ein katastrophaler Rückfall würde ihn in seiner latent skeptischen Vermutung bestätigen, dass es sich bei seinen Glücksgefühlen ohnehin um nichts als trügerische Illusionen handelt. Hinter ihrer hübschen Fassade steckt nichts als ein Strohfeuer seiner Neuronen, die ihn trickreich in Sicherheit wiegen wollen, nichts als eine Überlebensstrategie seiner Seele, damit er nicht vom rechten Weg abkommt und erneut abstürzt.
Sein Leben lang wollte er irgendwo ankommen, endlich einen Ort finden, an dem sich nicht nur sein Körper zu Hause fühlt, sondern auch er selbst. Und ihm war jedes Mittel recht, den Weg dorthin zu beschleunigen, da kannte er keine Tabus. Dass diese Strategie zu keinem befriedigenden Ergebnis führte, lag von vornherein auf der Hand, auch wenn er es damals nicht wahrhaben wollte.
Seitdem er auf halber Strecke zwischen Hölle und Nirgendwo abgestürzt ist, lässt er sich treiben und in eine nach wie vor gänzlich ungewisse Zukunft mitschleifen und versucht, jeden einzelnen Tag auf's Neue, sich damit abzufinden, dass sein augenblicklicher Status Quo jetzt von Dauer sein wird. Und dass dieser genau dem Lebensgefühl entspricht, nach dem er sich früher so sehr gesehnt hat. Der unbeschreiblich träge, zuweilen zäh dahin fließende Strom inneren Friedens, den er nun zuweilen empfindet, ist das exakte Gegenteil vom flammenden Inferno radikalen Selbstzweifels, der ihn bisher so höllisch hart geritten hat. Heute reist er auf neuen Wassern, obwohl er sich nicht daran erinnern kann, bewusst eine Kursänderung vorgenommen zu haben.
Ihm ist klar, dass er um eine definitive Entscheidung langfristig nicht herum kommt. Ansonsten wird er in diesem wünschenswerten Zustand heilsamer Gelassenheit nicht wirklich ankommen, sich in ihm womöglich niemals ganz zu Hause fühlen. Aber trotz seines momentanen Eiertanzes zwischen den Stühlen namens Angst und Hoffnung, ist der berühmte, goldene Mittelweg sein Motto der Stunde. Der Weg, der dem Prinzip der Ausgleichung folgt und die perfekte, innere Balance zum Ziel hat, ist ein ausgesprochen hehres Ideal. Zur Abwechslung hat Jo die Messlatte ziemlich hoch gehängt, und zwar im positiven Sinne.
Als die XXL-Version eines Joints die Runde macht, verzichtet Jo dankend. Er ist jedes Mal ein bisschen stolz auf sich, wenn er es schafft, seinen neu gewonnenen Grundsätzen treu zu bleiben. Solche, für ihn traditionell eher untypischen Entscheidungen, fallen ihm wesentlich leichter, seit ihm sein permanent schlechtes Gewissen im Nacken sitzt. Diese im Moment friedlich schlummernde Wesenheit hat sich als überaus mächtige und garstige Kontrollinstanz erwiesen, die er auf gar keinen Fall herausfordern möchte. Schon die Option eines Fehltritts in Form von Drogen und Co erinnert ihn an seinen letzten Absturz, den er nur knapp überlebt hat und lässt seine Angst vor dem Overkill wieder drastisch lebendig werden.
The day after damals war der pure Horror. Das grünstichige Neonlicht über ihm an der kalkweißen Zimmerdecke erlosch niemals und sein ausgepumpter Magen fühlte sich an, als wäre er bis zum Rand mit glühenden Kohlen vollgestopft. Als makabere Krönung seines desaströsen Erwachens in der grauen Wirklichkeit, trat dann noch eine rabiat unfreundliche Psychologin in Erscheinung, die sich um Banalitäten wie Arztgeheimnis und Privatsphäre einen feuchten Kehricht kümmerte und ihm im voll belegten Mehrbettzimmer eine peinliche Standpauke hielt, in der sie ihm die Möglichkeit seiner Zwangseinweisung in die geschlossene Abteilung der nächstgelegenen Klapsmühle mehr als lebhaft vor Augen führte. Dabei klang ihr sonores Gelaber nicht wie eine leere Drohung, eher nach einer düsteren Prophezeiung.
Eigentlich müsste er mehr als dankbar sein, dass er noch mal mit relativ heiler Haut davon gekommen ist. Er fragt sich, warum er diese Dankbarkeit in Gedanken formulieren, aber nicht fühlen kann. Vermutlich, weil er weder das Leben, noch sich selbst liebt, und daher seine wundersame Auferstehung von den Toten nicht wirklich zu schätzen weiß.
In seinem Rücken schreit seine Vergangenheit um ihr Leben und krallt sich mit scharfen Krallen in sein schwaches Fleisch, und vor ihm steht sein Neuanfang, hält ihn fest an den Händen und versucht ihn auf die andere Seite der Medaille zu ziehen. Die Achterbahnfahrt eines Blinden, der Streckenverlauf liegt im Dunkeln.
Meistens weiß er nicht, was er fühlt, nur, was er passenderweise fühlen sollte. Dann spiegelt er eine angemessene Emotion vor, ruft sie aus der Erinnerung ab wie ein schlechter Schauspieler. Denn in seinem Herzen, dort, wo sich klare Impulse wie Hoffnung oder Trauer finden lassen sollten, gähnt nur ein schwarzes Loch. Und er kreist um diesen undefinierbaren Abgrund in seiner Mitte und versucht so zu tun, als wäre alles ganz prima und er ein neuer Mensch. Gut die Hälfte seines kreativen Potentials investiert er in den schönen Schein, mit dem er versucht seinen Mitmenschen vorzugaukeln, er hätte sich über Nacht in eine wahre Frohnatur verwandelt.
Als eine sanfte Brise den markanten Geruch von hochpotentem Supergras um Jos empfindliches Riechorgan fächelt, hat er das Gefühl, gleich kotzen zu müssen. Auch ohne den Konsum der heiligen Kräuter kommt es ihm so vor, als ob er dauerbreit wäre. Seinen Zustand könnte man auch als naturstoned bezeichnen.
Es kann auch von Vorteil sein, den Karren schon in jungen Jahren voll an die Wand zu fahren. Jedenfalls kommt Jo so frühzeitig auf den Trichter, dass es auch Alternativen zum Leben auf der Überholspur gibt. Im Gegensatz zu den meisten jungen Leuten seiner Generation, die möglichst oft maximal bekifft sein wollen, hat sich in seinem benebelten Hirn die Vorstellung, irgendwann auf dem steinigen Boden der Tatsachen zu landen, zu einer überwiegend positiv besetzten Zukunftsvision entwickelt.
Während er seine Abstinenz mit einer selbstgedrehten Zigarette belohnt, beobachtet er möglichst unauffällig den atemberaubend geformten Schattenriss der schönsten Frau der Welt. Zumindest ist sie das in seinen Augen und zwar bei jedem erneuten Hinsehen ein bisschen mehr. Seit Monaten schon träumt er beinahe jede Nacht von ihr und fiebert, sobald er aufwacht, das nächste Treffen der autonomen Planungsgruppe herbei und hofft, dass sie sich dort blicken lässt.
Die Räume jenseits und diesseits der Schallmauer, die durch die Mitte des Bewusstseins verläuft, befruchten sich ausnahmsweise gegenseitig. Traum und Wachzustand, die Jo besonders in Liebesdingen zumeist als sich widersprechende Perspektiven wahrnimmt, bilden, was Lisa angeht, eine bislang selten erlebte Einheit. Das kann eigentlich nur einen Grund haben, nämlich den, dass sie Seelenverwandte sind.
Eine, die Sinne betörende Augenweide und ein widerborstiger, sich gegen jede Konvention sträubender Wildfang. Obwohl Jo sich alle Mühe gibt, kann er seinen Blick nicht von ihr losreißen. Er liebt einfach alles an ihr, ihr Charakter vereint genau die Widersprüche, die auch ihn zu zerreißen drohen. Sie ist sein weibliches Pendant, auf eine ungekünstelte, freche Art verführerisch und gleichzeitig unnahbar kühl und distanziert.
Der Nachtwind frischt kurz auf und facht die Glut im Lagerfeuer an. Als die Holzscheite knisternd auflodern, glüht ihre weißblonde Mähne mit den Flammen um die Wette. Ihre spiraligen Korkenzieherlocken funkeln erst schneeweiß auf, züngeln dann in grellen Orangetönen empor und verlodern schließlich in immer matteren Farbnuancen, tauchen wie rubinrote, träge sich windende Schlangen in den Schatten der atmenden, lebendigen Finsternis des alten Waldes ab, der sie umgibt wie eine dunkelgrüne Schutzburg.
Als seine Angebetete unverhohlen gierig an dem immer noch kreisenden Joint zieht, sucht Jo eine obszöne Phantasie heim. Manchmal ist es ihm richtig unheimlich, welche Macht diese lüsternen Bilder über ihn haben, wie sie ihn aus heiterem Himmel in Beschlag nehmen. Obwohl er eigentlich eher zärtliche, behutsame Gefühle für Lisa hegt, bildet sich sofort eine unmissverständliche Beule in seiner zerschlissenen Cargohose.
Im ersten Moment ist Jo erleichtert, dass sein Ding endlich mal wieder ein Lebenszeichen von sich gibt. Zumindest hat seine Libido noch nicht endgültig alle viere von sich gestreckt, in diesem Sinne ist so ein Ständer natürlich ein gutes Zeichen. Andererseits nervt ihn das unkonstruktive Eigenleben seines Schwanzes allmählich. Wenn er in Aktion treten soll, regt sich rein gar nichts, und wenn es Jo nicht in den Kram passt, wie jetzt gerade, läuft er zur Hochform auf.
Während er angestrengt versucht, das triebgesteuerte Tier seiner Lust zurück in die Höhle zu treiben, aus der es hervorgekrochen war, malt er sich aus, wie die unvermittelt jähe Woge der Gier, die ihn durchströmt, Lisas Grenzen überspült und direkt in ihre Intimzone brandet.
In Situationen wie dieser fragt er sich, ob es wirklich einen Unterschied gibt zwischen einer Idee und ihrer Umsetzung in der Realität. Ist die Vorstellung einer eigenmächtigen, sexuellen Handlung nicht auch schon ein subtiler Ausdruck von Missbrauch?
Wenn Gedanken eine Form von Energie sind, dann sind sie eigentlich doch genauso real wie eine Hand zwischen den Beinen. Schräge, lüsterne Phantasien eines notgeilen Arschlochs, das, anstatt sich zu beherrschen und respektvoll auf Abstand zu bleiben, einer Frau mit seiner Gier ungefragt zu nahe tritt. Mentale Übergriffe, die einer geistigen Vergewaltigung gleichkommen.
Dabei liegt ihm nichts ferner. Die Vorstellung, Lisa mit seinem meist planlosen Sexualtrieb auf die Nerven zu gehen, ist ihm zutiefst zuwider. Klar, früher war er ganzjährig auf der Balz, ein fickriger Rammbock. Damals war ihm rein gar nichts peinlich, moralische Bedenken spielten eine untergeordnete Rolle, Hauptsache er kam zum Schuss. Heutzutage ist ihm der ranzige Pornomüll in seinem Kopf ausgesprochen unangenehm. Das Zeug kickt nicht mehr, sondern stört nur noch. Das ganze Gewichse turnt ihn völlig ab und er hat das Gefühl, seinen Sex komplett neu erfinden zu müssen, um wieder richtig Spaß daran zu haben. Die unverbindliche, schnelle Nummer hat für ihn restlos jeden Reiz verloren.
Natürlich musste er es neulich trotzdem mal wieder versuchen. Nach dem Motto, der Appetit kommt mit dem Essen, wollte er testen, was passiert, wenn er es drauf ankommen lässt. Aber es war ein totaler Reinfall. Die unvermittelte Nähe zu der so gut wie fremden Frau hat ihn derart verstört, dass er keinen hoch gekriegt hat. Nach kurzem, lauwarmem Gefummel, lagen sie beide frustriert nebeneinander und haben sich angeschwiegen. Trotz der sommerlichen Temperaturen in dem seltsam kleinmädchenhaft dekorierten Schlafzimmer war ihm lausig kalt.
Und irgendwann begriff er, dass es die Distanz zwischen ihnen war, die ihn bis ins Mark frösteln ließ, dass sein Gefühl der Ungeborgenheit das Aufkommen jeglichen Verlangens im Keim erstickte.
Fremdheit trifft auf Sex, früher hatte ihn diese Mischung total aufgegeilt, jetzt passten die Komponenten plötzlich nicht mehr zusammen. Die unvermittelte Nacktheit, das tödlich lange Schweigen und die beklemmende Unvertrautheit zwischen ihnen. Gleichzeitig zu nah und zu fern... Seltsam, dass ihn dieser Kontrast früher nicht gestört hatte.
Unangenehm berührt, erinnert er sich daran, wie er nur wenige Zentimeter neben der Frau lag und versuchte, jeden Blickkontakt zu vermeiden. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, weil er befürchtete, dass sie das Ausmaß seiner Schwäche erkannte und er ihr vollkommen ausgeliefert wäre. So sehr hat er sich geschämt für seinen ausgemergelten Körper, seinen schlappen Schwanz. Am unangenehmsten war ihm aber seine Unsicherheit selbst. Dass er so komplett neben sich stand und nicht wusste, wohin mit sich, seinen peinlichen Versagensängsten und widersprüchlichen Gefühlen.
Seit er nüchtern durch das Leben geht, ist die Scham eine stete Begleiterscheinung seiner Lust. Das geht sogar so weit, dass ihm Erinnerungen an entgleiste Situationen aus der Vergangenheit die Schamröte ins Gesicht treiben. Vollkommen unvermittelt und wie aus dem Nichts steht er dann in Flammen wie ein lebendiges Streichholz und hat das Gefühl, dass ihn alle angaffen und Bescheid wissen um die Schneise der Verwüstung, die er in der weiblichen Welt hinterlassen hat.
Jo am Pranger. Jo, der Triebtäter, dessen Innenleben öffentlich zur Schau gestellt wird. Jo, der gläserne Frauenfresser, dem die gebrochenen Herzen und Verwünschungen seiner Expartnerinnen deutlich anzusehen, geradezu ins Gesicht geschrieben sind.
Als er spürt, wie die aufsteigende Hitze seine Wangen mit glühenden Kohlen füllt, weiß er, dass sein kahl rasierter Schädel jetzt die Farbe einer überreifen Erdbeere angenommen hat. Ein spät pubertierender Bubi, oben knallroter Feuermelder, unten schmales und blasses Strichmännchen.
Ha, ha, nun ist es wieder unter uns, das wandelnde Streichholz! Fremdschämen ist angesagt, Leute!
Jo ist mehr als froh, dass die Nacht ihn davor schützt, durchschaut, entlarvt und verarscht zu werden. Mit einem Ruck reißt er seinen Blick von Lisa los, um grüblerisch ins Feuer zu starren.
Ob sie es wohl auf eine mehr oder weniger bewusste Art mitschneidet, wenn er so durchgeknallte, lüsterne Gefühle und Fantasien hat, in denen sie der Fixpunkt seiner Begierde ist? Wenn dem so sein sollte, lässt sie sich jedenfalls nichts anmerken und macht gute Miene zum bösen Spiel.
Dank des turbogeilen Dopes schwebt Lisa ungefähr einen Meter über dem nach Wildkräutern und Verwesung duftenden Waldboden. Sie befindet sich in einem wunderbaren Zustand, fühlt sich leicht wie eine Feder und ist wunschlos glücklich. Doch nach der anfänglichen, von Euphorie geprägten Phase des Rausches, meldet sich viel zu schnell die andere Seite der Medaille und fordert den üblichen Preis. Die Schutzhülle, die ihren Geistkörper sonst so behütend umschließt wie eine Rüstung, wird merklich schwächer und fühlt sich plötzlich löchrig und diffus an.
So spürt Lisa die drängende Energie, die sich aus der vermeintlichen Anonymität des Halbschattens heraus, zielgerichtet wie ein Laserstrahl in ihre Aura bohrt, deutlicher als ihr lieb ist. Auch ohne groß den Kopf drehen und den Absender der doppeldeutigen Energiewellen genauer unter die Lupe nehmen zu müssen, eine Aktivität, die ihr, stoned wie sie ist, ohnehin viel zu anstrengend wäre, weiß sie längst, wer der heimliche Absender ist.
Jo ist attraktiv und auf eine sympathische Art versponnen, deshalb sonnt sie sich auch ganz gerne im Licht seiner Aufmerksamkeit. Ihr Traumtyp ist er nicht gerade, entspricht im Großen und Ganzen aber ihrem Beuteschema und wäre gewiss ein amüsanter Zeitvertreib. Besondere Illusionen hegt sie nicht, er ist auch nur ein Mann wie alle anderen. Seine verstohlenen Blicke sprechen eine deutliche Sprache, eine Fusion aus oberflächlichem Interesse und unterdrücktem Verlangen.
Mit Annäherungsversuchen jeglicher Couleur ist sie bestens vertraut. Dass Typen hinter ihr her sind, gehört zu ihrem Alltag. Das klingt nach jeder Menge Stress und ist es auch, in ehrlichen Momenten muss sie sich allerdings eingestehen, dass sie die ganze Bandbreite an Zuwendungen oft auch genießt, die von Seiten der Männerwelt auf sie herab prasseln, auch wenn sich diese in der Regel auf ihr niedliches Puppengesicht, ihren Arsch und ihre Titten beziehen. In diesem Punkt ist sie trotz ihrer Jugend bereits jeglicher Illusion entwachsen. Die meisten Männer wollen einfach nur ein bisschen flirten und dann möglichst fix und unverbindlich zur Sache kommen. Ein kleines Erfolgserlebnis zum Aufpeppen ihres Egos und als Sahnehäubchen ihr Sahnehäubchen möglichst spektakulär auf weiblichen Rundungen platzieren. After Action, Satisfaction. That’s the name of the game.