Kitabı oku: «Die Revolution der Bäume», sayfa 5
Eine Zeit lang spielte sie brav ihre Rolle und testete das zweifelhafte Vergnügen, als reines Lustobjekt herzuhalten in allen möglichen Variationen durch. Doch abgesehen davon, dass sie als Frau bei solchen emotionsarmen Quickies nicht wirklich auf ihre Kosten kam, wurde ihr von dem schalen Nachgeschmack solches mechanischen Flüssigkeitsaustausches irgendwann regelmäßig speiübel. Sie deutete ihr Unwohlsein als Abwehrreaktion ihres Körpers, als ob er jeden fremden Tropfen Schweiß, Speichel und Sperma, jede oberflächliche Berührung aus seiner Intimsphäre herauspressen müsste, um sich nicht mehr ganz so besudelt und benutzt zu fühlen.
Auch auf geistiger Ebene machten ihr die One-night-stands zunehmend zu schaffen. Auf das kurze Glück feuchtwarmer Zweisamkeit, folgten Tage düsterer Schwermut, die sie in ihrer Heftigkeit an die depressiven Abstürze ihrer Mutter erinnerten.
Sie lässt sich von dem unbequemen Holzklotz auf den, mit spärlichen Grasbüscheln bewachsenen, Waldboden gleiten, streckt sich und reckt sich genussvoll der Wärme des Lagerfeuers entgegen und wirft derweil einen beiläufig erscheinenden Rundumblick in das Reich der Schatten. Jo ist echt der seltsamste Typ, den sie jemals getroffen hat.
Hockt da, am äußersten Rand des Flammenscheins, wie immer ganz für sich allein und scheint mal wieder mit den Geistern Zwiesprache zu halten. Auch wenn sie in dem fahlen Zwielicht keine Lippenbewegungen ausmachen kann, hört sie ihn raunen und flüstern, Pro und Contra abwägen, mit wem auch immer über den Sinn des Lebens diskutieren. Dr. Seltsam, er macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt...
Zum ersten Mal begegneten sie sich vor ungefähr einem halben Jahr bei einer Animal-Freedom-Aktion. Damals brachen sie in einen Zoo ein und befreiten ein gutes Dutzend Raubvögel aus ihren Käfigen. Eine coole Aktion, sie hatten viel Spaß dabei. Dass die Vögel ein paar Tage später freiwillig in ihre Gefängnisse zurückkehrten, trübte ihr Erfolgserlebnis allerdings spürbar ein. In der bürgerlichen Schundpresse berichteten sie dann, dass die Tiere in der freien Wildbahn nicht überlebensfähig und am Verhungern waren. Angeblich, weil sie in Gefangenschaft geboren und deshalb nicht in der Lage waren, sich selbst zu versorgen.
Solche Statements stehen ihrer Meinung nach vor allem für die selbstgefällige Arroganz und doppelbödige Heuchelei, die Menschen gegenüber Tieren an den Tag legen. Diese Typen fürchten sich nur davor, sie könnten so etwas Lästiges wie Mitgefühl mit einer Spezies entwickeln, die tagtäglich in Form von gebratenen Hähnchen und anderen geschmacklichen Entgleisungen auf ihren Tellern liegt.
Und außerdem, selbst, wenn dem so wäre und der aufgeblasene Pressefuzzi tatsächlich recht hätte? Sie als Vogel wäre jedenfalls mehr als froh, wenn ihr jemand die Freiheit schenkte. Lieber verhungern, als ein jämmerliches Dasein hinter Gitterstäben fristen, oder?
Dass Jo hinter ihr her ist, ist kaum zu übersehen. Im Prinzip wäre sie ja auch gar nicht abgeneigt, mal ganz abgesehen von seinen gelegentlichen, tranceartigen Aussetzern, findet sie ihn ziemlich süß. Aber er verhält sich wie alle diese Typen aus der linken Szene, große Klappe und nichts dahinter. Die sind genauso schüchtern wie sie geil sind, widersprüchlicher als pubertierende Schuljungs vorm ersten Mal. Ihre Angst, in irgend ein politisch unkorrektes Fettnäpfchen zu treten, wäre direkt zum Schreien komisch, wenn sie nicht jegliche Art von natürlichem Kontakt zwischen Mann und Frau verhinderte.
So viele verpasste Chancen. Dabei will sie doch auch hin und wieder angebaggert werden! Diese Anmachen sollten natürlich rein verbal und frei von aufgesetzten Macho-Allüren vonstatten gehen. Wie sagt man so schön? Wer ficken will, muss freundlich sein.
Lisa gibt den hellrot glühenden, viel zu heiß gerauchten Joint weiter, schnappt sich ihre zerschrammte Wandergitarre und fängt zur Einstimmung an, ein paar leise Akkorde zu zupfen. „Smells like teen spirit“ von Nirvana zählt zu ihren absoluten Lieblingssongs. Sie glaubt genau zu wissen, in welcher Stimmung er entstanden ist. Jedes einzelne Wort, jede Silbe kann sie fühlen, den Wahrheitsgehalt in jedem Vers schmecken.
Nachdem sie sich ein wenig warm gespielt hat, setzt sie sich aufrecht hin, weitet ihre Brust mit ein paar tiefen Atemzügen und haut, das universelle Wissen um die Heilkraft allumfassender Liebe in ihrer erstaunlich kräftigen Stimme, voller Inbrunst in die Saiten.
Nach anfänglicher Befangenheit, die sich mit der Wirkung des mit einem astronomisch hohen THC-Wert gepimpten Grases schnell auflöst, fängt das illustre Häufchen Mensch an, mitzusingen. Manche verhalten murmelnd, andere aus vollem Halse, je nach stimmlichem Potential und vorhandenem Selbstwertgefühl.
Jo lehnt sich zurück in die starken Arme seiner hölzernen Amme und versucht die Show zu genießen. Ein wenig Aktion kommt immer gut, sie lenkt ihn von seinem verdrehten Innenleben ab und treibt die Geister zurück in die Welt der Schatten.
Das Dope scheint gut zu sein, jedenfalls beflügelt sein ungebremster Konsum zusehends den Mut des bunt gemischten Chors, sich stimmlich gehen zu lassen. Der Rausch, gepaart mit den Sangesfreuden, verändert die Stimmung auf der nächtlichen Lichtung kolossal.
Während eine popkulturelle Hymne auf die nächste folgt, hocken Jos sonst so knallharte Mitstreiter, völlig losgelöst im Hier und Jetzt, im Kreis um das Lagerfeuer herum. Nachdem sie zuerst nur zaghaft mit den Köpfen genickt haben, pendeln ihre Oberkörper schließlich immer rhythmischer und wilder im Takt der Musik. Gelegentlich lässt sich sogar jemand dazu hinreißen, mit den Händen ekstatisch die Luft umzurühren, Flowerpower.
Im flackernden Schein der Flammen wirken sie butterweich und unschuldig, aus der Zeit gefallene Kinder, deren Physiognomien Jo an die Hippies erinnern, die er einmal in einem Dokumentarfilm über das legendäre Woodstock-Festival im Jahr 1969 gesehen hat.
Der Reihe nach mustert er die wesentlichen Leistungsträger der Zelle. Neben Lisa und Hermann zählt noch ein weiterer junger Mann zu den unverzichtbaren Eckpfeilern seiner politischen Wahlfamilie. Sein bürgerlicher Name lautet Martin Gruber, aber unter dem kennt ihn in der Szene keiner. Während militanter Aktionen und anderer Ordnungswidrigkeiten sind Klarnamen und ähnliche erkennungsdienstlich verwertbare Merkmale definitiv tabu, außerdem klingen Spitznamen viel besser, irgendwie familiärer. Sie symbolisieren ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl und bergen ein Versprechen in sich. Die Erfüllung der Sehnsucht nach verwegenen Abenteuern und Grenzgängen, die die Routine des Alltags auf den Kopf stellen. Schließlich käme ja auch niemand auf die Idee, unter dem Allerweltsnamen Martin Gruber auf einem Piratenschiff anzuheuern. Das wäre ja kontraproduktiv, schon beinahe geschäftsschädigend. Genau dieses bourgeoise Image will man doch hinter sich lassen, wenn man sich dem Widerstand anschließt.
Alle nennen ihn Tarzan. Jo kann sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen. Kein Wunder, dass ihm die Szene so einen bekloppten Spitznamen verpasst hat. Als bekennender Nudist, er läuft sogar im tiefsten Winter barfuß, muss er mit allem rechnen. Seinem Spitznamen macht er alle Ehre, indem er sich, einen durchdringenden Urschrei ausstoßend, Hals über Kopf ins Schlachtengetümmel stürzt.
Aber genau genommen passt der Name Tarzan überhaupt nicht zu ihm. Er klingt nach einem fröhlichem Naturburschen, ein Image, das den wesentlichen Kern seiner Persönlichkeit noch nicht mal ungefähr trifft. Denn Martin ist eine tickende Zeitbombe, der Scharfmacher vor dem Herrn. Wenn der bei einer Demo mit an Bord ist, kann man davon ausgehen, dass irgendwann die Wasserwerfer in Stellung gehen und die GSG 9 aufmarschiert.
Genau der Typ Mensch, den man nicht zum Feind haben will. In der Szene kennt zwar niemand seine Vorgeschichte, aber die muss es in sich haben. Als er eines Tages wie der Phönix aus der Asche in ihrer Mitte auftauchte, hielten ihn einige besonders argwöhnische Gesinnungsgenossen zunächst für einen Agent Provokateur. Für einen Zivi, der den Auftrag hat, die Eskalation von Protesten voranzutreiben und so der Staatsmacht die Legitimation zu liefern, ordentlich drauf schlagen und Demonstranten festnehmen zu dürfen.
Aber ein Bulle ist er definitiv nicht, dafür ist er viel zu chaotisch und das Fundament seines Hasses bei weitem zu solide. Damit er aus der Haut fährt, reicht als Auslöser oft schon ein klitzekleiner Funken, eine banale Meinungsverschiedenheit und ihn befällt quasi aus dem Nichts der Willen zum Grillen. In diesem Punkt erinnert er Jo an diesen Killertypen Charles Bronson, der vor seiner Zeit für die Rolle des starken Mannes prädestiniert war und auch heute manchmal noch außerhalb der Prime-Time in einem dieser verstaubten Hollywood-Schinken zu bewundern ist.
Jo hat die Szene noch lebhaft vor Augen. Er, so richtig schön stoned, kam im frühen Rot des Morgengrauens nach Hause, eine ebenso voll zugedröhnte, leidlich attraktive Braut im Schlepptau. Zum Runterkommen haben sie erst noch einen opulenten Joint inhaliert und dann beim diffusen Flimmerlicht der Glotze eine gemütliche Nummer geschoben. Ein Mann sieht rot, ja genau, so hieß der Streifen. Das wäre übrigens auch ein passender Titel für Tarzans Memoiren. In dem bluttriefenden Reißer nimmt Rächer Bronson das Gesetz höchstselbst in die Hand und macht dabei keine Gefangenen. Selbstjustiz und Lynchmobs, ja, darauf stehen diese waffengeilen Amis.
Und Tarzan auch. Wenn man den mal in Aktion gesehen hat, das vergisst man nie wieder. Es gibt Bilder, die wird man nicht mehr los, die prägen sich kratertief in die Hirnrinde ein, wie auf Lebenszeit ins Gedächtnis tätowiert.
Die Erinnerung an einen von Tarzans symptomatischen Ausrastern beschert Jo immer noch eine Gänsehaut. Sein von abgrundtiefem Hass verzerrtes Gesicht, als dieser rasend wie ein Berserker auf einen Bullen eindrosch, wird er mit Sicherheit niemals vergessen. Inmitten der eigentlich harmlosen Demo am 1.Mai, mit der die linke Szene alljährlich sich selbst und natürlich den sogenannten internationalen Kampftag der Arbeiterklasse feiert, befand sich Tarzan im Blutrausch. Er schien sich ganz in seiner eigenen, hermetisch abgeschlossenen Welt zu befinden.
In einem aberwitzigen Tempo schlug er immer wieder mit einer Eisenstange zu. Eine Szene, die surreal wirkte und Jo an einen dieser alten Schwarzweißfilme erinnerte, die damals mit weniger Bildern aufgenommen wurden und heute bei der Wiedergabe zu schnell laufen. In Jos Augen gebärdete sich Tarzan wie ein tobsüchtiger, aber äußerst gefährlicher Irrer, als er wie ihm Wahn und dennoch gezielt, sogar regelrecht systematisch, die wunden Punkte unter der Kampfmontur seines Gegners anvisierte. Er glich einem ferngesteuerten Kampfroboter, dem die Sicherung in dem Moment durchbrannte, als er gerade auf ein Maximum an zerstörerischer Effizienz programmiert war.
Auch im Nachhinein findet Jo seine auf das Wesentliche reduzierten Bewegungsabläufe in hohem Maße erschreckend. Als besonders unheimlich empfindet er die offensichtliche Tötungsabsicht. Es ging Tarzan nicht darum, jemanden Angst zu machen und ihn in die Flucht zu schlagen. Sein Handeln war geprägt von nackter Mordlust.
Als der Helm des Cops schließlich mit einem hörbaren Knacken in zwei Teile zersprang, zog einer seiner hysterisch schreienden Kollegen seine Dienstwaffe und schoss zur Warnung in die Luft. Aber Tarzans Hass war stärker als seine Angst. Völlig unbeeindruckt und brüllend wie ein wilder Stier, ging er zielstrebig auf den Typen mit der Knarre los und hat auf dessen Helm weiter gemacht, bis auch dieser in die Brüche ging. Eine Szene, die Jo stark an ein mittelalterliches Schlachtfeld erinnerte. Mann gegen Mann und kein Pardon.
Nach einer Weile hörte das Bullenschwein auf, zu quieken und lag mucksmäuschenstill, wie tot auf dem Boden. Doch selbst der regungslose Körper löste bei Tarzan keinerlei Mitgefühl aus. Dafür wurde es seinen militanten Kumpels aus dem schwarzen Block nun doch zu viel. Und die sind wahrlich nicht zimperlich in puncto Gewalt gegen die uniformierte Staatsmacht. Jedenfalls sind sie eingeschritten und haben das Massaker beendet. Sechs ganze Kerle mussten alles geben, um dem Springteufel Tarzan die Eisenstange zu entwinden und ihn zur Räson zu bringen.
4 / Frauenpower
Malerisch schön,
wie das Rot des Sonnenuntergangs mit den Bremslichtern der sich stauenden Autos korrespondiert.
Als Elena die Stadtgrenze hinter sich hat, gibt sie Vollgas. Sie liebt den Moment der Beschleunigung, den sanften Impuls, mit dem die Fliehkräfte ihren Körper in das weiche Lederpolster der Luxuslimousine drücken. Wenn sie in einem Affenzahn über die Landstraßen rast, fällt es ihr wesentlich leichter ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Die Kombination aus Geschwindigkeit und Leichtigkeit gibt ihr das Gefühl, fliegen zu können und beflügelt ihre Denkprozesse.
„Intelligenzbestie!“, schimpft Erwin immer, wenn er nicht weiter weiß. Andere Männer werden aggressiv, nicht wenige sogar rasend vor Wut und massiv handgreiflich, wenn sie sich hilflos fühlen. Das weiß sie aus eigener Erfahrung. Da hat sie mit ihrem Kerl noch Glück im Unglück gehabt. Das ganz große Los hat sie mit ihm aber auch nicht gezogen. Ein Umstand, der ihr allerdings schon bewusst war, bevor sie mit ihm vor dem Traualtar stand.
Sie hat ihn nicht aus Liebe geheiratet. Die Liebesheirat wird ihrer Ansicht nach ohnehin völlig überschätzt. Dabei kauft man meistens die Katze im Sack.
Elena ist kein Mensch, der sich künstlich mit schönfärberischen Illusionen über Wasser hält. Viel eher entspricht sie dem rationalen Typus von Frau, einer die weiß, was sie will und die auch bereit ist, dafür gewisse Kompromisse zu machen. Sie hält diesen Schachzug für einen guten Deal, glaubt, dass ihr im Gegenzug ein relativ großes Stück vom Kuchen zugestanden wird. Und dass sie sich so die gesellschaftliche Aufmerksamkeit verdient, die ihr Selbstwertgefühl benötigt, um zu einer runden Sache heranzuwachsen. Ohne das Spotlight allgemeinen Interesses, kommt sie sich ungeliebt vor, ihr Dasein erscheint ihr sinnlos.
Elena hat irgendwann akzeptiert, dass Frauen als Menschen zweiter Klasse geboren werden. Und dass es zum Beispiel nicht selbstverständlich ist, dass sie für ihre natürliche Schönheit Anerkennung bekommen. Sie müssen erst einmal etwas aus sich machen, sich mit Schminke und anderen kosmetischen Zwangsmaßnahmen verunstalten und dann so aufgedonnert etwas ganz Besonderes leisten. Und schließlich haben sie, je nach der Höhe der Sprossen, die sie auf der steilen Karriereleiter erklimmen, ihren Mann zu stehen und nach dem Vorbild der Schwanzträger ihre Machtposition zu verteidigen.
Es ist schwierig, sich auf dem Weg an die Spitze nicht in einen Kerl in Frauenkleidern zu verwandeln. Weibliche Qualitäten werden besonders dort oben, wo die Luft dünner wird und man für die wirklich begehrenswerten Posten über Leichen geht, wenig wertgeschätzt.
Elena ist nicht glücklich mit diesen gesellschaftlichen Missständen, aber sie hat sich dazu entschieden, eine gute Miene zum bösen Spiel zur Schau zu tragen. Besser sie führt ein Leben mit Lügen, als überhaupt nicht daran teilzuhaben und vom Ratrace ausgeschlossen zu sein. Wobei Ihr sehr wohl bewusst ist, dass die so gewonnene Aufmerksamkeit teuer erkauft ist und nicht ihr, sondern nur ihrer Maske gilt, einer Kunstfigur. Aber sie verbrennt lieber unter der artifiziellen Sonne verlogener Komplimente, als dass sie eine nonnenhafte Schattenexistenz führt.
Im Zuge dieser deprimierenden Gleichung wurde der Kampf um Anerkennung Elenas erklärte Lebensaufgabe. Sie ist bereit, ihr Recht auf Respekt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzufordern. Ob diese Rechnung am Ende tatsächlich aufgeht, spielt für Elena allerdings längst keine Rolle mehr, denn sie hat inzwischen vergessen, dass sie überhaupt existiert und warum sie sich auf diesen faulen Kompromiss eingelassen hat.
Während der Autofahrt von der Stadt zurück ins malerische Weihtal, kommt sie an einem Fitnessstudio vorbei. Es muss neu aufgemacht haben, sonst wäre ihr die grelle Neonreklame schon früher aufgefallen. In überdimensionalen, knallroten Lettern schreit sie ihre topaktuelle Message durch die rabenschwarze Finsternis.
In nur 30 Minuten pro Woche von einer Schwabbelwampe zum ultimativen Sixpack!
Eine Aussage, die Elena als sehr inspirierend empfindet. Während sie den 7er BMW zügig über die kurvige Landstraße lenkt, formt sie den Inhalt des Leuchtschilds vor ihrem inneren Auge um.
In nur 30 Minuten pro Woche von einer Dumpfbacke zum eloquenten Kommunikationstalent!
Bei der Vorstellung, dass sich ihr Mann mithilfe intellektueller Turnübungen in einen halbwegs gescheiten Gesprächspartner verwandeln könnte, bekommt sie einen schrillen Lachanfall, einen, der einen unterschwelligen Anflug von Hysterie erahnen lässt. Sie muss ihre volle Konzentration aufwenden, um nicht das Lenkrad zu verreißen und gegen den nächsten Baum zu krachen.
Zum Zeitvertreib spinnt sie vor ihrem geistigen Auge den hochdramatischen Handlungsfaden munter weiter. Es gab keine Bremsspuren, würde es später heißen. Beklommene Schweigeminuten, gefolgt von zustimmendem Nicken, synchron wie eine bescheuerte Herde Schafe. Jedem Vollidioten wäre sofort klar, was man ihm zwischen den Zeilen verklickern wollte. Posthum erklärte man sie, die Powerfrau, zur debilen Suicide-Queen...
Das kreative Visualisieren von Trauerfeiern ist Elenas geheime Leidenschaft. Kathedral ausgeschmückte Phantasien, in denen selbstverständlich die Verfasserin selbst im Mittelpunkt des Interesses steht, beziehungsweise ihr wunderschön zurecht gemachter Leichnam. Manchmal werden allerdings auch andere bestattet, die stinkenden Kadaver derer, denen sie die Pest an den Hals wünscht.
Wobei ihren Feinden der Tod wie eine Erlösung vorkommen wird. Ein Akt der Gnade, den sie ihnen erst gewähren wird, nachdem sie mit ihnen fertig ist.
Weihtal. Wir haben zwar keine Berge, dafür aber jede Menge Potential.
Nur in einem Kaff wie Weihtal kann man mit so einem nichtssagenden Slogan eine Wahl gewinnen und das zum dritten Mal in Folge. Der schmerbäuchige Bürgermeister namens Josef Braun ist für sie zum Symbol eines überholten, patriarchalen Chorgeistes geworden. Deshalb ist einer ihrer sich in diversen Variationen wiederholenden Tagträume speziell ihm gewidmet, diesem abgefuckten Machtmenschen und seinen professionellen Speichelleckern.
Sie selbst tot, wie gehabt. Ihr Geist schwebt über den Dingen wie ein rasiermesserscharfes Damoklesschwert, bereit, die Herren der Schöpfung das Fürchten zu lehren. Doch bevor sie ihnen die ultimative Lektion erteilen wird, mischt sie sich unter das Volk. Elena, der Racheengel spielt Mäuschen. Sie liebt es, diese gelackten Spießbürger beim Auswürgen all der frivolen Bösartigkeiten zu belauschen, die stets unter die Gürtellinie zielen und ausschließlich intern ausgetauscht werden.
Die Altherrenrunde mit lebenslänglichem Triebstau zählt zu den Klassikern. In ihrer Mitte schwadroniert der selbstgefällige Herr Braun, der bei ihr schon beim bloßen Hinschauen Brechreiz auslöst. Natürlich hat er mal wieder das Wort, und niemand hat die Eier, es ihm zu entziehen. Der alte Prahlhans nutzt jede Gelegenheit, um Hof zu halten und sich im Angstschweiß seiner Bittsteller zu suhlen.
Elena beobachtet die schlitzäugigen Blicke der sich bei ihm anbiedernden Schleimer, die das Terrain abchecken und sicher stellen, dass man unter sich bleibt. Dabei geht es nicht allein darum, unter Männern zu sein, sondern darum, ausschließlich gleichgesinnte Schwanzträger um sich zu sammeln. Schließlich hat man hat ja einen guten Ruf zu verlieren. Erst wenn man sich absolut sicher ist, dass die Luft wirklich rein ist, fängt man an, sich ungehemmt auszutauschen. Dann trifft säuerlicher Alkoholatem auf lüsternes Getuschel und angedeutete obszöne Gesten kreuzen sich mit vielsagendem Augenzwinkern und anderen ekelerregenden Ausdünstungen von senilem Kopfsalat.
Am Ende ist man sich einig über die Vorzüge der Verstorbenen. Ihre sterblichen Überreste werden angepriesen wie die eines gut gemästeten Stück Viehs, das es nun auszuweiden gilt.
„Also, wenn du mich fragst... Ein Prachtweib war das. Die hätte ich gerne mal... Aber so richtig! Hast du ihren Vorbau gesehen? Ich sag nur, Doppel D. Und erst den tollen Knackarsch? Damit konnte die bestimmt 'ne 1A Faust machen und einen so richtig abmelken. Wenn du weißt, was ich meine...“
Eine Vorstellung, die in den Köpfen eine geheime Fortsetzung findet und Appetit auf mehr macht. Münder wie Briefschlitze, aus denen graue Zungen hervorschießen und wulstige Lippen lecken, noch gut gefettet vom üppigen Trauermahl. Es gab Eisbein satt.
„Hä, hä! Schade um das saugeile Sahnestück.“
Üble Nachrede bis zum Gehtnichtmehr, das haben sie drauf, die selbstgefälligen alten Säcke.
Im Anschluss an das Überführen der Angeklagten auf frischer Tat, folgt zumeist der dramaturgisch überfällige Umzug in den tiefsten Keller des Hauses. Es ist eine von Elenas Lieblingsfantasien dort unten über die feinen Herren Gericht zu halten. Nun, wieder von den Toten auferstanden, sitzt sie unangefochten an den Hebeln der Macht und hat ein Instrumentarium an Folterwerkzeugen zur Verfügung, angesichts dessen sogar die mittelalterliche Inquisition vor Neid erblasst wäre.
Nach tagelangem, hochnotpeinlichem Verhör und grausamsten Torturen reißt sie den verdammten Wichsern die gespaltenen Zungen mit einer Kneifzange aus dem Rachen heraus.
Mit der rechten, vor Wut geballten Faust packt sie den Schaltknüppel, prügelt das Getriebe rabiat vom fünften in den dritten Gang und tritt das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Das chromblitzende Statussymbol reagiert dank üppiger Motorisierung selbst bei 110 km/h noch mit dem ohrenbetäubenden Kreischen durchdrehender Reifen und schießt hochtourig aufheulend durch das enge Nadelöhr der Allee.
Bei ihrer aktuellen, durch das Ambiente der nächtlichen Landstraße inspirierten, Version des Leichenschmauses kommen bei einigen Trauergästen zu vorgerückter Stunde schließlich doch erhebliche Zweifel an der offiziellen Version des Freitods auf. Mit einem halben Liter Hochprozentigen hinter der Binde hebt sich die Stimmung ganz von selbst, was die üblichen Pappenheimer dazu animiert, kleinstädtische Verschwörungstheorien vom Stapel zu lassen.
„Dahinter könnte auch der Matzke stecken. Der war schon immer scharf auf Elenas Geschäftsräume. Kein Wunder, bei der Lage. Jede Menge Laufkundschaft kam täglich bei ihr vorbei.“
„Ganz im Ernst, so eine Bremse ist fix manipuliert. Da braucht's nur ein paar Handgriffe und Peng! klebt man am Baum.“
„Selbstmord? Niemals, die doch nicht! Hat sich von nichts und niemand klein kriegen lassen. Die war doch voll das Stehaufweibchen!“
Doch Elena weiß es besser. Sie lässt sich ihr Endzeitgefühl nicht anmerken, trägt nach außen hin stets ein perfekt auf den Tag und den Anlass abgestimmtes Make-up zur Schau. Hinter der Fassade allerdings fällt es ihr schwer, sich etwas vorzumachen. Da kann sie sich auf den Kopf stellen und Termine am Fließband machen, die Realität holt sie weitaus öfter ein, als ihr lieb ist. Sie ist nun einmal nicht der Verdrängertyp, ein Charakterzug, den sie normalerweise zu ihren Qualitäten zählt. In diesem Fall mutiert er jedoch zu einer eher ungeliebten Eigenschaft, denn so bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich der unverblümten Wahrheit zu stellen. Ob sie will oder nicht, sie muss sich eingestehen, dass ihr die Verbitterung über ihre Lebenssituation inzwischen bis zum Hals steht.
In solchen zutiefst einsamen Momenten hat sie ein beklemmendes Bild vor Augen. Über eine Kloschüssel gebeugt, erbricht sie Unmengen von teerfarbenen, scharfkantigen Splittern. Von dieser düsteren Fantasie wird sie inzwischen auch nachts in ihren Träumen regelmäßig heimgesucht. Das macht ihr Angst, den Weg zum Psychiater spart sie sich trotzdem. Ihrer Meinung nach gibt es an diesem gruseligen Selbstporträt nicht besonders viel zu deuteln. Sie hat sich Vergiftungserscheinungen auf Herzebene attestiert. Sogar ihr Herz muss kotzen, so groß ist ihr Selbstekel.
Über den mit Stacheldraht umzäunten Rand einer Wiese schwappt gräulicher Bodennebel auf die Fahrbahn, eine unförmige, klebrig wirkende Masse, die entfernt an zähflüssigen Milchbrei erinnert und den auch die LED-Scheinwerfer des BMW nicht vollständig durchdringen können.
Elena mag Nebel, besonders als Stilmittel künstlerischen Ausdrucks in der modernen Malerei. In ihrer Galerie hängen etliche Kunstwerke, die zwar gegenständlich orientiert sind, auf denen die dargestellten Szenerien aber wirken, als betrachte man sie durch eine unscharfe Linse, diffuse Konturen und verwaschene Farben. Sie fühlt sich auf eine seltsame Art mit dem Urheber dieser Bilder verbunden, spürt einen schwer zu beschreibenden Verwandtschaftsgrad zwischen sich und dem noch unbekannten Maler. Vermutlich ist das der Hauptgrund, warum sie ihn in ihrer Galerie ausstellt, denn für besonders talentiert hält sie ihn eigentlich nicht.
Andererseits ist so ein kurzweiliger Flirt mit einem jungen Künstler immer recht inspirierend, schon allein deshalb, weil sie sich als Galeristin seiner vollen Aufmerksamkeit sicher sein kann. Warum auch nicht? Das schmückt und schmeichelt ihrem Ego. Eine Win-Win-Situation, nicht mehr, nicht weniger, da macht sie sich nichts vor.
Außerdem geht von den großformatigen Arbeiten, ihren Vorbehalten zum Trotz, eine gewisse Faszination aus. Ein schwer zu beschreibender Esprit, den auch die unausgegorene und teilweise stümperhaft wirkende, technische Ausführung nicht gänzlich zerstören kann. Wahrscheinlich ist die Anziehung, die sie verspürt nur eine oberflächliche Projektion, eine dünnwandige Seifenblase, die bereits morgen zerplatzen wird. Dennoch scheint sich in den Ölbildern ihr Innenleben zu spiegeln. Sie wirken auf Elena wie Sinnbilder für den Weichzeichner, der ihre Gefühle und Wünsche von ihr entfremdet, sie stetig abschwächt und in immer weitere Ferne rückt.
Es wäre furchtbar, eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass sich ihr nur gelegentlich, aber dennoch zuverlässig in regelmäßigen Abständen aufkeimender Hoffnungsschimmer, als vages, undefinierbares Glimmen in weiter Ferne am Horizont ihres untergehenden Sternes verloren hat und endgültig erloschen ist.
Elena schüttelt sich, gibt erneut Gas und versucht so, den Strom trüber Gedanken zu unterbrechen. Sie lenkt ihre Konzentration auf den mit zunehmendem Tempo schmaler wirkenden, tiefschwarz schimmernden Streifen Asphalt, der ihr zwischen den glitzernden Leitpfosten bleibt.
Eine Straße ist eine Straße ist ein Straße...
Im Laufe der letzten Jahre hat sie ihre Version der berühmten Waffen der Frau perfektioniert. Ihr Göttergatte erwies sich diesbezüglich als das ideale Versuchsobjekt. Sie ist inzwischen eine wahre Meisterin darin, ihn in Schach zu halten, gefangen, klein und dennoch bei Laune zu halten. Ein bisschen Arschwackeln und ein gelegentlicher Blowjob reichen für diesen Zweck völlig aus.
Durch die Blume gesagt, hält sie Erwin für ein ausgesprochen schlichtes Gemüt, hässlicher formuliert für einen ausgemachten Kleingeist. Sehr körperorientiert und pragmatisch, man könnte ihn als oberflächlich bezeichnen. Dennoch war es damals, vor ihrer Eheschließung, gerade seine Bodenständigkeit, die sie überzeugt hatte. Sein gradliniger Sinn für materiellen Erfolg hatte anfangs ja durchaus sein Gutes, denn schließlich suchte sie vor allem nach einem kinderlieben Versorgertyp.
Als Lady von Welt, im Bett eine Granate und intellektuell haushoch überlegen, war es für sie eine der leichtesten Übungen, ihn um den Finger zu wickeln. Im Anschluss an die etwas überstürzte Heirat gingen sie zunächst streng arbeitsteilig vor. Er scheffelte ordentlich Kohle und stellte ihr ein ansprechend repräsentatives Heim vor die wohl geformten Füße. Alles, was sie tun musste, war mit Sack und Pack dort einzuziehen. Im Gegenzug verwirklichte sie sich als Innenausstatterin und setzte ihre Vorstellungen von Nestbau kostspielig in die Tat um.
Drei entsetzlich lange Jahre ging sie ganz und gar in der bangen Erwartung ihrer Mutterschaft auf, Phasen der Euphorie und der Furcht vor Enttäuschung rangen um Vorherrschaft in ihrer Vorstellung vom Morgen. Doch anstatt sich von ihrer Zukunftsangst lähmen zu lassen, sprach sie sich Mut zu und bastelte hingebungsvoll zuckerzarte Mobiles mit Märchenmotiven, die später über dem Himmelbettchen ihres Kindes schweben sollten, für jeden Wochentag ein anderes. Bis ins Detail vervollkommnete sie je einen Satz Zubehör für einen potentiellen Jungen und ein mögliches Mädchen, und rechtfertigte die voraussichtlich zu 50 Prozent sinnlosen Ausgaben damit, dass sie ja auch Zwillinge bekommen könnte. In ihrem ruhelos nach Ablenkung suchenden Geist trug sie akribisch alle verfügbaren Informationen über die ersten, so nachhaltig prägenden Jahre nach der Geburt zusammen und erstellte minutiöse Tagesabläufe, die jedem frühkindlichen Bedürfnis gerecht wurden.
Stundenlang hockte sie im picobello eingerichteten Kinderzimmer und betete inbrünstig um Nachwuchs. Elena wurde von einem einzigen Gedanken beherrscht:
Wer auch immer vom Himmel aus die Geschicke der Menschheit lenkt, er möge ihr die ersehnte Schwangerschaft ermöglichen und sie zur glücklichsten Frau auf der Welt machen.
Der Wunsch eroberte ihr Bewusstsein, füllte schließlich jeden Winkel ihres Denkens aus, bis er größer wurde als sie selbst. Ein Monster unerfüllter Sehnsüchte, das ihr über den Kopf wuchs und ihren Blick für das Wesentliche, den alltäglichen Fluss ihres gegenwärtigen Lebens, trübte.
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