Kitabı oku: «So weit wie möglich weg von hier», sayfa 5

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Maria Lewit

„Die Blätter vibrieren über mir als wäre ein Zittern durch den ganzen Baum gegangen. Himmelsflecken spielen Versteck, zwischen dem Grün der Blätter zeigt sich das blaueste Himmelsblau. Und wie ein Scheinwerfer im Theater, der die ganze Szene zum Leben erweckt, brechen die Sonnenstrahlen hindurch … Ich war nicht glücklich, ich war nicht unglücklich. Ich war einfach da, und das war alles. Ich philosophierte nicht über das Leben, aber mein Verstand war wie eine Kamera, die einen Abdruck hinterlässt von der Idylle des europäischen Sommers im Jahr 1939.“


Maria mit ihren Söhnen Joe und Michael bei der Preisverleihung des OAM, Melbourne 2011

So beginnt Maria Lewits autobiografischer Roman „Come Spring“ (Wenn der Frühling kommt).

Das Buch ist ein literarisches Juwel – geschrieben in einer wundervollen, poetischen Sprache, die ganz bewusst kontrastiert mit dem Inhalt, der von der Verfolgung der jungen Autorin und ihrer Familie handelt, von Angst, Hunger und Tod im besetzten Warschau. Ich erinnere mich, dass mein erster Gedanke beim Lesen war: „Dieses Buch sollte ins Deutsche übersetzt werden, damit es dem deutschen Leser zugänglich ist.“

Ich wollte die Autorin kennenlernen. Als Maria Lewit schließlich an einem Montag – montags ist „ihr“ Tag im Museum – zur Tür hereinkam, stürzte ich auf sie zu, stellte mich vor und teilte ihr auf der Stelle mit, dass ich ihr Buch gelesen hätte und wie großartig ich es fände.

Maria Lewit ist eine nüchterne Frau. Sie muss einigermaßen irritiert gewesen sein von dem Gebaren dieser fremden Person, aber wenn es so war, zeigte sie es nicht. Sie wechselte einige freundliche Worte mit mir, bevor sie sich dem zuwandte, weshalb sie gekommen war: Sie begrüßte eine Schulklasse mit ihrem Lehrer und ging mit der Gruppe hinüber in den Vortragssaal. Dort würde sie den Schülern nun über ihre persönlichen Erfahrungen während des Holocaust berichten.

Maria Lewit hat mir später eine Menge über sich erzählt – über ihre Kindheit und Jugend im zunächst freien und später besetzten Polen, über ihre Freunde und ihre Familie, über ihr Überleben. Sie besitzt noch einige Briefe von Schulfreundinnen aus dem Warschauer Ghetto. Maria und ich haben diese Briefe aus dem Polnischen ins Englische übersetzt – eine emotional nicht einfache Aufgabe: keine der Freundinnen hat überlebt. Mit etlichen Wörterbüchern umgeben verbrachten wir auf diese Weise viele Stunden miteinander. Ich profitierte dabei von Marias profundem Wissen über den Holocaust ebenso wie von ihrer Erfahrung und Klugheit. Manchmal gingen wir in ihre gut bestückte Bibliothek hinüber und schauten etwas nach, oft empfahl sie, eine leidenschaftliche Leserin, das eine oder andere Buch oder borgte es mir – nicht immer, aber doch vorwiegend über den Holocaust. Häufig allerdings spornte sie mich an, die ganze Holocaust-Lektüre doch einfach beiseitezulegen und mich mit freundlicheren Themen zu beschäftigen.

Maria Lewit wusste, warum sie das sagte. Je tiefer man in die Geschichte des NS-Terrors eindringt, desto verstörender wird es. Und als ob sie mich manchmal aufmuntern oder auch mit meiner Elterngeneration versöhnen wollte, erzählte sie mir zuweilen die Geschichte über einen „guten Deutschen“: „Schau, Hannah – es gab auch gute Menschen!“

Marias langjähriger Ehemann Julian verstarb im November 2005. („Mein Mann starb im Bett, in frischen Laken, von einem Arzt betreut, und im Beisein aller seiner Lieben.“) Marias Söhne Joe und Michael, vier Enkel und fünf Urenkel leben in Melbourne, die Familie ist oft beisammen und sie ist Marias große Freude.

Für ihr Buch „Come Spring“ und den nachfolgenden Emigrantenroman „No Snow in December“ (Kein Schnee im Dezember) wurde Maria Lewit mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Im Jahr 2011 erhielt sie zu ihrer großen Überraschung für ihren Beitrag zur australischen Literatur und für ihre ehrenamtliche Arbeit im Holocaust-Museum die „Medal of the Order of Australia“ (Orden zur Würdigung außerordentlicher Leistungen australischer Bürger). So ganz versteht sie die Ehrung und den Rummel um ihre Person nicht: Sie habe doch nichts Besonderes getan, um diesen Orden wirklich zu verdienen. Außer, vielleicht, allen (australischen) Museumsbesuchern und insbesondere den jüngeren unter ihnen immer wieder zu sagen, wie glücklich sie doch seien, in Australien zu leben.

Marias Geschichte

Maria wächst in einer gut situierten Familie in Łódź auf. Łódź, bekannt als das Manchester Polens, ist in den zwanziger Jahren – nach Warschau – die zweitgrößte Stadt Polens. Seit dem frühen 19. Jahrhundert hat sich die Stadt zu einem großen Textilzentrum entwickelt, das Polen, Deutsche und Juden gleichermaßen anzieht. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges hat Łódź 665.000 Einwohner, von denen 34 Prozent Juden und 10 Prozent Deutsche sind. Mit den mehr als 220.000 Juden ist die jüdische Gemeinde der Stadt die zweitgrößte Polens: Es gibt jüdische Schulen, Bibliotheken, Theater und Sportklubs; jüdische Intellektuelle, Poeten und Schriftsteller wohnen in der Stadt. Durch die industrielle Entwicklung entsteht auch so etwas wie ein jüdisches Proletariat.


Lidia und Borys Markus, aufgenommen in einem „Photomat“ in Łódź, Anfang der 30er Jahre

Marias Vater Borys Markus, ein polnischer Jude, ist Geschäftsmann in der prosperierenden Textilindustrie. Zusammen mit Jozef Lewit (der später Marias Schwiegervater werden soll) besitzt er eine Firma, die Taschentücher produziert. Die Firma hat eine Zweigstelle in Moskau, und auf einer seiner Geschäftsreisen trifft Markus die junge und sehr hübsche Russin Lidia Wagin. Die beiden verlieben sich, heiraten, und – der Ehe zuliebe – konvertiert die russisch-orthodoxe, also christliche Lidia zum jüdischen Glauben. 1919 kommt Tochter Genia zur Welt, 1925 wird die zweite Tochter Maria geboren.


Maria and Genia, Łódź 1931

Die Familie lebt sehr komfortabel in einem Sechs-Zimmer-Apartment im Zentrum von Łódź.

„Das Apartment war im 4. Stock und hatte einen Fahrstuhl. Es gab zwei Balkone mit einem hübschen Blick auf den protestantischen Kirchturm und die Stadt – mein Vater hatte die Wohnung wegen der Aussicht ausgesucht. Er und ich standen im ständigen Wettbewerb um die besten Fotos vom Balkon. Er hatte eine Zeiss Ikon und ich eine Kodak Box – ich für meinen Geschmack machte natürlich immer die besseren Fotos“, lacht Maria.

Wie alle wohlhabenden jüdischen Familien haben die Markus’ eine polnische Hausangestellte, die bei der Familie wohnt.

„Sie hieß Kazia, und ich habe sie geliebt. Sie war zwar Analphabetin, aber eine geborene Geschichtenerzählerin, und ich habe oft mit ihr in der Küche gesessen. Sie hat meine Eltern mit ‚Gnädige Frau‘ und ‚Gnädiger Herr‘ angesprochen und Genia und mich mit ‚Fräulein‘, während wir sie immer einfach mit ihrem Vornamen ansprachen. Irgendwie kam uns das gar nicht in den Sinn, dass das nicht in Ordnung war. Allerdings muss ich sagen: Als Dienstmädchen durfte Kazia nie den Lift nehmen, und das gefiel mir schon als Kind nicht.“

Jeden zweiten Tag kommt ein weiteres polnisches Mädchen und hilft beim Saubermachen und Teppichklopfen. Maria schmunzelt:

„Das Interessante dabei war, dass dieses Mädchen auch in der Nachbarschaft arbeitete, und ich konnte nie genug von dem ganzen Klatsch kriegen.“

Maria, die von jedem Marka genannt wird, geht in das jüdische Mädchengymnasium „Eliza Orzeszkowa“, so benannt nach einer polnischen Schriftstellerin.

„Das war eine exzellente Schule, die von einer Gruppe jüdischer Eltern gegründet worden war, da die polnische Regierung nur zehn Prozent Juden auf weiterführenden Schulen zuließ. Und die progressiven Juden wollten natürlich, dass nicht nur ihre Söhne, sondern auch ihre Töchter eine hervorragende schulische Bildung erhalten. Die Schule wurde von wohlhabenden jüdischen Familien finanziert, die damit gleichzeitig intelligente Kinder aus ärmeren Familien förderten, und zwar jüdische und nicht jüdische. Das heißt, in unseren Klassen waren durchaus auch nicht jüdische polnische Mädchen. Es gab eine Kantine, und für die ärmeren Kinder war das Essen frei. Ich war an der Schule zuständig für das Thema ‚soziale Gerechtigkeit‘ und kümmerte mich deshalb immer ein bisschen um die ärmeren Kinder.“

Maria hat viel Spaß in ihrer Schulzeit. Sie ist gescheit, aufgeweckt und bekannt für den Unfug, den sie gerne schon mal ausheckt.

„Mein Mathelehrer hat mich nur ‚marna istoto‘ genannt, das heißt so viel wie ‚unnützes Ding‘. Aber auch mit anderen Lehrern hatte ich so meine Probleme. Einmal habe ich zum Beispiel den Namen meines Musiklehrers veralbert. Der hieß ‚Pedzimaz‘, das heißt ‚rennender Ehemann‘, und über den Namen habe ich ein Lied gemacht, das ich in der Klasse gesungen habe. Natürlich hat mich mein Musiklehrer daraufhin rausgeschmissen. Was der aber nicht wusste, war, dass ich den Rausschmiss vorausgesehen habe. Bevor die Musikstunde also anfing, habe ich zehn Mädchen mit einer Kordel an mich dran geknotet, eine nach der anderen.“ Maria lacht noch heute über ihren Streich. „Als ich dann aus dem Klassenzimmer rausging, mussten mir also zehn Mädchen folgen. Die ganze Schule hat davon erfahren, ich hatte mir mit dieser Geschichte einen Namen gemacht.“


Maria mit ihren Freundinnen Iwetta und Zosia, 1939

Im Sommer 1939 werden Maria und ihre Schwester Genia in den Sommerurlaub aufs Land geschickt, weil die Eltern wegen der politisch angespannten Situation beunruhigt sind.

„Aber als Deutschland und Russland im August den Nichtangriffspakt unterzeichneten, brach unser Vater unseren Urlaub kurzerhand ab. Er befürchtete, dass Hitler Russlands Neutralität nutzen würde, um in Polen einzumarschieren. Und für diesen Fall wollte er, dass wir alle zusammen in der Stadt sind.“

Als Maria und Genia im August 1939 zurück nach Łódź kommen, finden sie die Stadt in völliger Aufregung.

„Es war fast wie ein patriotischer Rausch, die Radioprogramme waren voll vaterländischer Reden und Militärmusik, alle sprachen vom heraufziehenden Krieg und wie schnell wir Polen gegen Hitlers Panzer aus Pappe gewinnen würden, Soldaten marschierten und sangen Anti-Hitler-Lieder, Fahnen wurden geschwenkt. Ich machte nur allzu gerne mit: Unter dem fröhlichen Singen von Militärliedern, die den Krieg beschönigen, hob ich zusammen mit meinen Freunden Panzergräben aus. Und dann fing es an – mit dem Lärm von Flugzeugen und einer Ansage im Radio: Wir befinden uns im Krieg.“

Am 8. September marschiert die deutsche Wehrmacht in Łódź ein.

„Mein Vater war zwar zu alt, um noch gezogen zu werden, aber nachdem im Radio durchgegeben wurde, dass jeder Mann gebraucht wird, schloss er sich vielen anderen Männern an, die alle Warschau verteidigen wollten. Ich erinnere mich, dass wir vorm Haus standen und viele Jugendliche und Männer sahen, die alle ihre Häuser verließen und auf der Straße eine Kolonne bildeten, die sich vorwärtsbewegte. Ich sah auf meinen Vater, aber der war im nächsten Augenblick schon verschwunden. Ich war untröstlich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, ohne meinen Vater zu sein.“

Sofort nach ihrem Einmarsch erlassen die Deutschen zahlreiche antijüdische Verordnungen und Gesetze, die Erlasse werden in der ganzen Stadt plakatiert. Juden dürfen keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen, sie dürfen die Stadt nicht ohne Erlaubnis verlassen, Bankkonten werden gesperrt, Männer werden von der Straße weg oder aus ihren Häusern zur Zwangsarbeit geholt.

„In der Schule mussten wir den vierten Stock räumen, der von der deutschen Armee requiriert worden war. Am nächsten Tag wurde uns der vierte Stock wiedergegeben, und wir haben alle Möbel wieder hochgetragen. Am dritten Tag forderten uniformierte Deutsche dann den ersten Stock von uns – also es war völlig klar, dass die Spielchen mit uns trieben.“

Innerhalb kürzester Zeit kehrt Marias Vater wieder nach Hause. Die polnische Armee, nun auch mit einem Angriff von der Sowjetunion aus dem Osten konfrontiert und ohne Unterstützung durch die beiden Alliierten Frankreich und Großbritannien, ist Anfang Oktober geschlagen.

„Mein Vater kam nachts nach Hause, ich sehe ihn noch heute vor mir: Er war dreckig und abgemagert, erschöpft und sichtlich betrübt – und er wurde krank. Nicht lange danach wurde ich aus der Mathestunde heraus zur Direktorin gerufen. Ich konnte mir keinen Grund denken, aber plötzlich sah ich dort meine Mutter sitzen, die Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten, und mich aufforderte, sofort nach Hause zu kommen. Auf dem Nachhauseweg erzählte sie mir, dass ein SS-Mann in die Wohnung gekommen war, um meinen Vater für irgendwelche Arbeiten zu holen. Sie hatte dem Deutschen erklärt, dass mein Vater krank im Bett liege. Der hatte daraufhin höhnisch gelacht und erklärt, er wisse schon, wie man die jüdische Krankheit heilen könne, hatte meinen Vater aus dem Bett gezerrt und so lange geschlagen, bis er bewusstlos war.“

Borys Markus stirbt am nächsten Morgen, am 4. Oktober 1939. Er ist 51 Jahre alt.

Am 9. November wird Łódź ins Deutsche Reich eingegliedert, anschließend verschärft sich der antijüdische Terror. Tausende von Juden und Polen werden verhaftet, ins Gefängnis gesteckt, dort umgebracht oder in deutsche Konzentrationslager deportiert. Mitte November werden alle Synagogen der Stadt zerstört, statt gelber Armbinden (seit dem 4. November) müssen die Juden ab dem 17. November einen gelben Judenstern vorne und hinten auf der Kleidung tragen. Ohne Vorwarnung werden jüdische Wohnungen konfisziert und deren Bewohner deportiert.

„Der Häuserblock, in dem wir wohnten, gehörte einem Deutschen. Nachdem mein Vater gestorben war, sagte der zu meiner Mutter: ‚Ihr Mann wusste einfach, wann es Zeit war zu sterben. Es muss so viel einfacher sein für Sie ohne einen jüdischen Ehemann.‘ Und dann schmiss er alle Juden, die in dem Haus wohnten, auf der Stelle raus – ohne dass sie ihre Möbel und ihre Habe hätten mitnehmen können – und uns ließ er wohnen. Kazia, unser gutherziges Mädchen, öffnete die Tür für all die rausgeworfenen Leute, und für kurze Zeit beherbergten wir sieben Familien.“

Bis zum März 1940 haben etwa 70.000 Juden die Stadt verlassen – die meisten sind deportiert worden, etliche sind geflohen. Sie fliehen entweder in die von den Sowjets kontrollierten Gebiete im Osten Polens oder ins Generalgouvernement, hoffend, dass die Zustände dort erträglicher sind als in dem Teil Polens, der nun zum Deutschen Reich gehört. Lidia Markus beschließt, nach Warschau zu fliehen.

„Ein Exodus hatte begonnen, und unsere Freunde hatten die Stadt auch schon verlassen. Der deutsche Freund meines Vaters drängte, dass wir Łódź für einige Wochen verlassen sollten, und organisierte eine Erlaubnis für uns, dass wir die Stadt aus ‚Geschäftsgründen‘ verlassen dürften. Also packten wir unsere Koffer, brachten all die Bücher meines Vaters auf den Boden, und – das war das Schlimmste – verbrannten all unsere persönlichen Papiere, Briefe und Fotos. Meine Mutter, Genia, Kazia und ich saßen um den Holzofen in der Küche herum und sahen zu, wie all unsere Habseligkeiten – für mich waren das meine ganzen Kindheitserinnerungen – in den Flammen verschwanden. Kazia hatte rote Augen und eine rote Nase, gab aber vor, eine Erkältung zu haben. Das war schon eine ziemlich emotionale Angelegenheit.“

Mit der Hilfe ihrer Schwester Olga, die in Kobyłka lebt, einer Stadt 16 Kilometer nordöstlich von Warschau, findet Lidia mit ihren Töchtern eine Unterkunft in Wołomin, der nächsten Kreisstadt. Es ist nur ein Zimmer mit Küche und einem kleinen Garten, aber die Familie geht davon aus, dass sie bald nach Łódź zurückkehren kann.


Lidia Markus (l.) mit ihrer Schwester Alexandra (Olga) Zmigrodzka, Wołomin 1940

„Als die Deutschen im Juni 1940 Frankreich angriffen, war meine Mutter felsenfest davon überzeugt, dass es jeden Moment eine erfolgreiche Gegenoffensive der Franzosen geben würde.“

Wenige Wochen nach Beginn des Westfeldzugs sind die Franzosen geschlagen und unterzeichnen ein Waffenstillstandsabkommen mit den Deutschen.

Irma, eine von Marias Freundinnen, zieht mit ihrer Familie ebenfalls nach Wołomin.

„Ich habe meine ganze Zeit mit Irma verbracht. Irma war ein Jahr älter als ich, aber schon zwei Klassen über mir. Sie war äußerst intelligent, und körperlich war sie schon viel weiter als ich. Sie brachte mir eine Menge Sachen bei über Jungs und all so was, aber auch über Literatur und Poesie. Wir haben sehr viele Bücher gelesen und sie anschließend diskutiert. Sie hat mich auch ermuntert zu schreiben, und das war toll, weil Poesie und Schreiben war wirklich meine Leidenschaft.“

Maria macht eine kleine Pause und lacht. „Ich besaß diese Biografie über Marie Curie. Curie wurde darin als leidenschaftliche Leserin beschrieben, die durchaus schon mal das Essen über ihrer Lektüre vergaß. Das habe ich dann kopiert: Wann immer ich zum Essen gerufen wurde, tat ich so, als ob ich völlig in meinem Buch versunken bin und nichts um mich herum höre.“


Die beste Freundin: Irma, 1940

Im Oktober 1940 ordnet Hans Frank, Leiter des Generalgouvernements, die Errichtung des Warschauer Ghettos an und befiehlt allen Juden in der Stadt und in der Umgebung, in den „Jüdischen Wohnbezirk“ zu ziehen. Irmas Familie will nicht erst auf die Polizei warten und zieht „freiwillig“ ins Ghetto. Lidia Markus entschließt sich – sehr zum Entsetzen ihrer Schwester Olga –, ihren Freunden ins Ghetto zu folgen.

„Meine Tante und mein Onkel haben verständlicherweise versucht, meine Mutter davon abzuhalten – ich meine, meine Mutter war ja schließlich Christin. Sie war nicht jüdisch, also brauchte sie auch nicht ins Ghetto zu ziehen. Mein Onkel Jerzy, ein polnischer Aristokrat, warf meiner Mutter ohnehin vor, dass sie ihr Leben durch die Heirat mit einem Juden ruiniert hätte. Und nun würde sie es ein zweites Mal ruinieren, indem sie sich selbst nach dem Tode ihres Mannes nicht von den Juden lossagen würde. Aber meine Mutter hat das alles nicht gerührt – wir sind in ein kleines Zimmer im Warschauer Ghetto gezogen.“

Kurz nach dem Umzug, am 16. November 1940, wird das Ghetto geschlossen. Ohne Erlaubnis kann nun niemand mehr hinein oder hinaus. Lidia Markus und ihre beiden Mädchen leben in der Sienna-Straße im sogenannten „kleinen Ghetto“, einem Gebiet, in dem die wohlhabenderen Juden leben. Es ist durch eine Holzbrücke über eine außerhalb des Ghettos liegende Straße mit dem „großen Ghetto“ verbunden, in dem die Lebensbedingungen sehr viel schwieriger sind.

„Von unserem Fenster aus konnte ich die ‚arische‘ polnische Seite sehen – theoretisch jedenfalls. Wegen der Mauer konnte ich nämlich nur den oberen Teil der Häuser auf der Marszałkowska-Straße sehen. Aber wir hatten einen Baum vorm Fenster, da hatten wir wirklich Glück. Bäume waren eine Rarität im Ghetto.“

Statistiken der Nazis zufolge leben 470.000 bis 590.000 Menschen im Ghetto, für die es nur 27.000 Wohnungen gibt. Sechs bis sieben Personen müssen sich ein Zimmer teilen, es gibt keine Parks, keine Wiesen, keine Plätze für die vielen Menschen.

„Die Straßen waren völlig überfüllt. Überall saßen hungrige Kinder, die bettelten oder, wenn man etwas in der Hand hielt, versuchten, einem das zu entreißen. Ich erinnere mich genau an das erste Mal, als ich ein sterbendes oder schon totes Kind auf der Straße sah und ich mich zu dem Kind beugte, um zu helfen. Da schritt meine Mutter ein und hielt mich davon ab. Ich konnte es nicht glauben, dass meine Mutter mir tatsächlich verbot zu helfen. Sie hatte uns dazu erzogen, altruistisch zu handeln, und nun befahl sie mir, dem Kind fernzubleiben, weil es voller Läuse war und wahrscheinlich auch Typhus hatte. Das war genau der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich von nun an Scheuklappen anlegen musste, um zu überleben. Das zu akzeptieren war nicht leicht für mich.“

Trotz ihrer entsetzlichen Situation versuchen die Juden, so normal wie möglich im Ghetto zu leben. Ein Krankenhaus und ein Waisenhaus beginnen ihre Arbeit. Wohlfahrtsorganisationen (neben dem Judenrat die einzigen jüdischen Institutionen, die erlaubt waren) richten Suppenküchen ein, heimlicher Schulunterricht wird organisiert und kulturelle Veranstaltungen finden statt.

„Das Interessante war, dass die Leute wirklich versucht haben, ihren Optimismus zu behalten. Da wurde in privaten Wohnungen heimlich Schulunterricht gegeben, Literaturabende fanden statt, die Synagoge hatte eine unglaubliche Bibliothek und gab Bücher in Umlauf, es gab Theatergruppen und sogar ein Orchester. Ein Cousin von meinem Vater hat eine Suppenküche organisiert. Und meine Freundinnen und ich haben für die Kinder Kasperletheater gespielt. Natürlich hatten wir keine Puppen, aber wir haben einfach unsere Finger benutzt und uns kleine Geschichten ausgedacht. Ich erinnere mich, dass in einer unserer Geschichten ein Baum vorkam, und dass wir zu unserem Entsetzen von einem vierjährigen Jungen gefragt wurden: Was ist denn ein Baum?“

Die fünfzehnjährige Maria trifft im Ghetto ihre Schulfreundinnen Irma, Iwetta, Irka und Luisa wieder. Einige der früheren Lehrer organisieren heimlichen Schulunterricht und unterrichten polnische Literatur und Naturwissenschaften. „Wir haben uns jeden Tag in einer anderen Wohnung getroffen, kamen alle einzeln und haben unsere Bücher unter der Kleidung versteckt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.“

Die Mädchen verbringen oft die Nachmittage zusammen – bis 19 Uhr, dann beginnt die nächtliche Ausgehsperre. Eines Tages sind die Mädchen bei Irma verabredet, Maria verspätet sich etwas und trifft weder Irma noch Iwetta oder Irka an. Irgendetwas ist komisch, denn Irmas Mutter möchte nicht sagen, wo die Mädchen sind.

„Erst einige Zeit später hat mir Irmas Vater dann erzählt, was passiert ist. Deutsche waren in das Haus gestürmt und haben fünf Mädchen mitgenommen – darunter Irma, Iwetta und Irka. Dann haben sie die Mädchen in einen Hinterhof gebracht, in dem ein Berg Kohle lag. Die Mädchen mussten sich splitternackt ausziehen und zu den Klängen von Militärmusik die Kohle von einer Ecke des Hofs in die andere Ecke tragen. Nach drei Stunden wurden sie zu ihrem Haus zurückgebracht.“

Maria schüttelt den Kopf und sagt langsam: „Meine Freundinnen haben nie ein einziges Wort über diesen Vorfall verloren.“ Lidia wird von ihrer Schwester Olga mit Briefen bombardiert und der Bitte, doch das Ghetto zu verlassen. Es laufen Gerüchte über Umsiedlungen und Arbeitslager. Olga organisiert Papiere für die Mädchen, damit sie sich als russisch-orthodox eintragen lassen können, und sie organisiert eine Wohnung in Warschau. Irgendwann gibt Lidia nach, und es gelingt ihr und den beiden Mädchen, aus dem Ghetto auf die arische Seite zu gelangen.

„Vermutlich ist das überraschend, was ich jetzt sage, aber so sehr wie ich das Ghetto gehasst habe – denn die Situation im Ghetto verschlimmerte sich nahezu täglich –, ich wollte es wirklich nicht verlassen. Ich habe das Gefühl gehabt, dass ich meine Freundinnen im Stich lasse und verrate. Ich habe endlos meiner Mutter gegenüber gejammert, wie allein ich mich ohne meine Freundinnen fühle. Die andere Sache war natürlich, dass wir dauernd davon hörten, dass auf der arischen Seite Juden denunziert werden – davor wenigstens brauchte man im Ghetto keine Angst zu haben.“

Lidia und die Kinder benutzen einen Mittelsmann, um mit ihren Freunden im Ghetto in Verbindung zu bleiben. Die siebzehnjährige Irma schreibt im Frühjahr 1940:

„ … Der Grund, warum ich nicht geschrieben habe, ist, weil ich so schwer arbeiten muss. Abgesehen davon bin ich sehr deprimiert. Ich habe keine Motivation, auch nur irgendetwas zu tun … Es gibt keine großen Veränderungen hier. Ich versuche, nicht daran zu denken, was in zwei oder drei Monaten sein wird. Wir müssen von einem Tag auf den anderen leben, auch wenn das keine erfreuliche Philosophie ist. Entschuldige, dass ich es überhaupt erwähne. Ich frage mich, was der Frühling bringt. Ich bin sicher, dass es einige schwierige Momente geben wird (die Lager!). Aber gleichzeitig hoffe ich, dass die Situation besser wird … Ich wünschte nur, dass diese schwierige Periode in unserem Leben bald vorüber sein wird, denn meine Nerven halten das nicht mehr lange aus. Manchmal, wenn nichts mehr geht, kriege ich einen hysterischen Anfall, und dann bin ich die nächsten Tage etwas ruhiger. Aber dann kommen wieder schlechte Nachrichten zum Beispiel aus Łódź2, und dann kehrt die Traurigkeit zurück … “

Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfällt, schöpfen viele Juden Hoffnung. So auch Irma in ihrem Brief vom 24. Juni:

„ … dies ist der letzte Funken Hoffnung für uns … und er kam gerade im richtigen Moment. Wir sind entsetzlich heruntergekommen und fühlen uns elend. Die kleinste Bagatelle lässt uns in Tränen ausbrechen. Wenn man aber glauben und antizipieren kann, dass etwas passiert, dann kann man den Gürtel noch enger schnallen und ausharren. Dies ist unsere letzte Hoffnung, dass das Schicksal uns das erhoffte Wunder bringt … Hoffentlich passiert es, bevor wir uns in Skelette verwandelt haben, bevor wir komplett entmenschlicht sind, beraubt aller Träume und aller Bestrebungen außer der Suche nach Essen … “

Im Juni 1942 wird der Mittelsmann verhaftet, und die Korrespondenz zwischen den Mädchen hört abrupt auf. Maria traut sich, von einer öffentlichen Telefonzelle aus im Ghetto anzurufen.

„Es gab da ein Telefon in der Werkstatt, in der Irma gearbeitet hat, und so konnte ich mit ihr sprechen. Irma erzählte mir, dass ihre Großmutter an einen unbekannten Ort deportiert worden war und viele Freunde auch und dass sich jeder im Ghetto Sorgen mache um die Deportierten. Und dann sagte sie, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis die Nazis auch sie und ihre restliche Familie deportieren würden. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber versuchte, sie zu beruhigen. Also sagte ich, dass der Krieg nun bestimmt bald vorbei wäre. Ich meine, als die Deutschen Russland überfielen, haben wir das ja alle gedacht. Aber Irma sagte nur: Es ist eine Lüge, Marka, und du weißt es. Und dann legte sie auf.“

Marias Stimme wird dünn. „Das war das letzte Mal, dass ich mit Irma gesprochen habe.“

Während Lidia Markus mit ihren Töchtern nach Warschau floh, flüchtete ihr Schwager Vitek, der Bruder ihres Mannes, von seinem Wohnort Krakau aus in das russisch besetzte Polen. Mit seiner Frau Inka, seinem elfjährigen Sohn Marek und Julek, dem Bruder seiner Frau, floh er nach Lvov. Ungefähr 100.000 Juden haben hier Zuflucht vor den Deutschen gesucht. Vitek findet eine Wohnung und Arbeit, Marek kann wieder zur Schule gehen. Aber das Glück ist nicht von langer Dauer. Am 30. Juni 1941 besetzen die Deutschen die Stadt und errichten im November ein Ghetto im ärmsten Viertel von Lvov. Mit unglaublicher Brutalität – allein auf dem Weg ins Ghetto werden 5.000 ältere und kranke Juden umgebracht – werden die Juden in das Ghetto getrieben. Vitek und seine Familie befinden sich unter diesen Juden. Im März 1942 erfolgt die erste sogenannte „Aktion“: 15.000 Juden werden in das kürzlich errichtete Vernichtungslager Bełżec bei Lublin gebracht. Im Juli schickt Vitek einen Hilferuf an seine Schwägerin Lidia. Deren Schwester Olga, die noch nicht einmal mit Vitek verwandt ist, bietet sich sofort an, nach Lvov zu reisen, um Vitek und dessen Familie zu retten. Die Reise ist erfolgreich.

„Es war ein gefährliches Unterfangen, aber meine Tante Olga kam tatsächlich mit der ganzen Familie zurück. Sie sahen alle sehr jüdisch aus, insbesondere der kleine Marek. Dem hat meine Tante, Zahnschmerzen vortäuschend, ein Tuch um den Kopf gebunden, so dass man dessen jüdische Gesichtszüge nicht so sah.“

Lidia und die Mädchen rücken zusammen und teilen ihre Warschauer Wohnung mit Vitek, Inka, Marek und Julek.

Mit Verordnung vom 26. Oktober 1939 wird im Generalgouvernement die Kennkartenpflicht eingeführt – graue Karten für die Polen, gelbe Karten für die Juden und blaue für Russen, Ukrainer, Weißrussen und andere Minderheiten.

„Jeder musste sich registrieren lassen, eine Geburtsurkunde vorzeigen und eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass man weder Jude noch Halbjude sei. Ein polnischer Freund sagte uns, wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen, weil die polnische Untergrundbewegung die Einwohnermeldeämter unterwandert hätte. Und tatsächlich: Als meine Schwester zögerte, diese Erklärung zu unterschreiben, wurde sie von der Dame hinter dem Schalter energisch dazu aufgefordert. Ich selbst hatte noch nicht mal eine Geburtsurkunde und bekam trotzdem meine arische Kennkarte.“

Der Besitz einer Kennkarte war notwendig, aber nicht hinreichend für Juden oder Halbjuden, um auf der arischen Seite Warschaus zu überleben.

„Inzwischen hatte sich ein sehr profitabler Berufszweig entwickelt in Polen: die Juden-Jäger. Das waren Leute, die darauf aus waren, Juden zu entdecken, zu erpressen und zu denunzieren, skrupellos und wahre Experten auf ihrem Gebiet. Viele machten es für Geld – entweder von den Juden oder von den Deutschen, manchmal beides. Am schlimmsten aber waren die, die aus ideologischen Gründen denunziert haben. Die wollten Polen von den Juden befreien und haben sie oft auch misshandelt. Also – es war sehr wichtig, das ‚gute Aussehen‘ zu haben, das heißt polnisch und nicht jüdisch auszusehen. Viele Frauen blondierten sich das Haar und trugen Ketten mit einem Kreuz um den Hals.“

Die Tradition der Beschneidung im jüdischen Glauben macht es besonders schwierig für die männlichen Juden: Werden sie denunziert oder fällt sonst ein Verdacht darauf, dass sie jüdisch sind, ist das durch eine simple Körperkontrolle sehr schnell verifizierbar.