Kitabı oku: «So weit wie möglich weg von hier», sayfa 7
Maria ist bereits in ihren Fünfzigern, als sie mit einem Projekt beginnt, von dem sie schon als Schulkind geträumt hat: Sie schreibt ein Buch. Sie schreibt es in Englisch – in der Sprache, die sie nie studiert und nur vom Hören gelernt hat. „Come Spring“ ist, obwohl als Roman geschrieben, Marias Autobiografie. Das mit einem Literaturpreis ausgezeichnete Buch erscheint 1980 in Melbourne. „No Snow in December“ (Kein Schnee im Dezember), ihr zweites Buch über ihre frühen Jahre in Australien, wird ebenfalls ausgezeichnet. Weitere Kinderbücher, Kurzgeschichten und Gedichte erscheinen. Maria macht sich ebenfalls an die Aufgabe, Jankiel Wierniks Bericht über Treblinka vom Polnischen ins Englische zu übersetzen – kein leichtes Unterfangen, denn es bringt die Erinnerungen an ihre Schulfreundinnen im Warschauer Ghetto zurück, von denen keine überlebte.
In den neunziger Jahren stellt Maria einen Antrag in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte Israels, ihre Tante Olga als „Gerechte unter den Völkern“ anzuerkennen – ein Ehrentitel, der an Nichtjuden vergeben wird, die unter Einsatz ihres Lebens während des Holocaust Juden retteten. Der Antrag ist erfolgreich: 1997 wird Aleksandra (Olga) Żmigrodzka, die über mehrere Jahre vier Juden in ihrem Haus versteckt hielt, posthum der Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ zuerkannt. Bis heute wurde dieser Titel an 6.394 Polen verliehen.
1996 beginnt Maria, als ehrenamtlicher Guide im Museum zu arbeiten. Sie findet schnell einen Draht zu Kindern und Jugendlichen, und anstatt mit ihnen über den Horror des Holocaust zu reden, spricht sie über den Mut und die Zivilcourage von Menschen. Es gibt eine kleine Episode, die Maria oft erzählt – eine Episode, die sie persönlich während des Krieges in Warschau beobachtet hat.
„Wir lebten schon außerhalb des Ghettos, und in dem Wunsch, meine Freundin Irma zu sehen, lief ich an der Ghettomauer entlang. Gleich neben dem Ghetto war immer ein Wochenmarkt, und plötzlich sah ich da einen Pulk von Menschen. Als ich näher kam, sah ich, dass ein polnischer Polizist einen kleinen, völlig ausgemergelten Jungen verprügelte. Der Junge lag schon am Boden, neben ihm ein paar Kartoffeln, Karotten und ein halbes Brot. Und der Polizist brüllte: ‚Du dreckiger Jude, dir will ich’s zeigen, was es heißt zu stehlen.‘ In diesem Moment erschien ein deutscher Soldat. Der sah den polnischen Polizisten scharf an, schrie ihm etwas zu und verpasste ihm einen solchen Schlag, dass er zu Boden ging. Dann half der Deutsche dem kleinen Jungen auf, half ihm über die Mauer, hob die Kartoffeln, Karotten und das Brot auf und schmiss es hinterher. Dann schaute der Soldat sich um – die Menge hatte stumm zugesehen – ging auf die Marktstände zu, griff sich noch ein bisschen mehr Gemüse und schmiss auch das noch über die Ghettomauer.“
Maria hat dieses Erlebnis bis zum heutigen Tage nicht vergessen, und sie hält es wie ein Kleinod in ihrer Erinnerung wach.
„Wie glücklich bin ich doch, dass ich diesen Vorfall miterleben durfte. Dieser deutsche Soldat hat sein Leben riskiert – und mir den Glauben an die Menschheit bewahrt.“
Kapitel 3
Die Konzentrationslager: Machtinstrument der Nationalsozialisten
Die Geschwindigkeit, mit der sie gebaut wurden, war atemberaubend: Spätestens ab März 1933, also nur ein paar Wochen nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, entstanden in kürzester Zeit über 70 Konzentrationslager im Deutschen Reich. Die neuen Machthaber brauchten sie dringend, um ihre politischen Gegner – Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, linke Intellektuelle – einzusperren und auszuschalten. Noch gab es keine einheitliche Verwaltungsstruktur der Lager – vergleichbar untereinander waren sie jedoch hinsichtlich der absoluten Willkür und Entrechtung, der unzureichenden hygienischen Bedingungen, der mangelhaften Ernährung sowie der gezielten Absicht der Wachmannschaften, die Häftlinge zu erniedrigen. Nach der ersten Verhaftungswelle Ende Juli 1933 befanden sich etwa 27.000 Menschen in „vorbeugender Schutzhaft“.
Im Frühjahr 1934 wurden die Lager der Leitung von Heinrich Himmler, damals Reichsführer-SS und Chef der Gestapo (ab 1936 auch Chef der deutschen Polizei), unterstellt und damit der Verantwortung der Justiz und der deutschen Polizei entzogen. Himmler ernannte Theodor Eicke, Kommandant des Konzentrationslagers Dachau, zum Inspekteur der Konzentrationslager und SS-Wachverbände. Eicke hatte im Oktober 1933 eine Lagerordnung in Dachau eingeführt – über den täglichen Lagerablauf und das System der Bestrafungen bis hin zu den Aufgaben der SS-Wachen –, die nun in allen anderen Lagern eingeführt wurde. Kleinere Konzentrationslager wurden geschlossen, größere nach dem Dachauer Modell errichtet. Ab Herbst 1933 wurden neben Oppositionellen auch sogenannte „asoziale Elemente“, wie es in der Nazi-Terminologie hieß, eingesperrt: Stadtstreicher, Bettler, mehrfach bestrafte Kriminelle. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre kamen weitere unerwünschte Bürger hinzu: „Zigeuner“, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Prostituierte und – ab 1938 – Juden. Allein während der Novemberpogrome 1938 wurden knapp 30.000 Juden inhaftiert.
Die Kriegsvorbereitungen und der Krieg selbst führten zu einer massiven Ausdehnung der Konzentrationslager: Längst waren sie zu einem unverzichtbaren Bestandteil des nationalsozialistischen Herrschaftssystems geworden. Sie wurden nun zusätzlich für die große Anzahl von Personen benötigt, die in den annektierten und besetzten Gebieten verhaftet wurden: tatsächliche oder vermeintliche Gegner des NS-Regimes, Widerstandskämpfer, Juden. Mit Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion wurden Tausende von sowjetischen Kriegsgefangenen in KZs verbracht. Bis auf Dachau wurden viele der frühen KZs geschlossen, neue und vor allem größere KZs gebaut: Sachsenhausen (1936), Buchenwald (1937), Neuengamme (1938), Flossenbürg (1938), Mauthausen in Österreich (1938), das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück (1939) und Groß-Rosen (1940). Zur gleichen Zeit wurden zahlreiche Lager in den eroberten Gebieten errichtet: in Belgien, in Frankreich, in den Niederlanden und in Jugoslawien, vor allem aber im besetzten Polen, in der Ukraine, in Weißrussland und in der Sowjetunion. Insbesondere das von den Deutschen besetzte und als ‚Generalgouvernement‘ verwaltete Polen sowie die Ukraine waren nahezu übersät mit Lagern – hier lebten deutlich mehr Juden als in ganz Westeuropa. Zwischen 1936 und 1945 umfasste das System der Konzentrationslager 24 Haupt- und über 1.000 Außenlager.
Neben den Konzentrationslagern gab es Sammellager – in der Regel eingezäunte jüdische Wohnbezirke (Ghettos), um die jüdische Bevölkerung räumlich zu konzentrieren und sie alsdann in Konzentrations- oder Vernichtungslager abzutransportieren. Durchgangslager wie das angebliche „Altersghetto“ Theresienstadt lagen gewöhnlich direkt an einer Bahnlinie und dienten dem gleichen Zweck: der Deportation.
Die Nationalsozialisten hatten die Konzentrationslager inzwischen als wichtigen wirtschaftlichen Faktor entdeckt. Die Häftlinge bildeten den Ersatz für die deutschen Männer, die an die Front mussten und der deutschen Industrie fehlten. Sie wurden zunächst insbesondere in Steinbrüchen, später auch für andere zivile und militärische Aufgaben eingesetzt. Mit den großen Verlusten der Deutschen an der Ostfront wurde die Arbeitskraft der KZ-Häftlinge ab 1942 kriegsentscheidend, die IKL (Inspektion der Konzentrationslager) wurde dem neu geschaffenen SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt unterstellt. Es entstanden unzählige weitere Außenlager der bestehenden Stamm-Konzentrationslager, meist in der Nähe von Industriebetrieben. Die Häftlinge wurden nun systematisch zur Zwangsarbeit in der deutschen Industrie und Rüstungsindustrie herangezogen.
Mit Beginn des Krieges verschärften sich die Haftbedingungen in den Lagern rapide. Die Häftlinge wurden gezwungen, bei völlig unzureichender Ernährung bis zur physischen Erschöpfung zu arbeiten, sie wurden medizinisch kaum versorgt, die Baracken waren überfüllt, Misshandlungen und willkürliche Tötungen der Häftlinge waren an der Tagesordnung. Die Vernichtung durch Arbeit war Konzept und Methode. Wer längere Zeit krank wurde oder nicht mehr arbeitsfähig war, wurde in den Krankenbaracken getötet oder in Vernichtungslager geschickt. In Auschwitz und Buchenwald wurden grausame medizinische Experimente an Häftlingen vorgenommen, in deren Folge sie meist starben.
Um die Lager mit den Tausenden von Häftlingen unterschiedlichster Sprache beherrschen zu können, bedienten sich die Nazis der Häftlinge selbst. Die SS zog eine Hierarchieebene von Stuben-, Block- und Lagerältesten ein, die für die Einhaltung der Vorschriften zu sorgen hatten, und besetzte diese Positionen mit sogenannten „Funktionshäftlingen“. Das sparte nicht nur Personal und Kosten, sondern erfüllte vor allem den Zweck, die Häftlinge auseinanderzudividieren. Bei guter Führung und Erfüllung ihrer Aufgaben erhielten die Funktionshäftlinge Erleichterungen und Vergünstigungen. Die Art und Weise, wie sich die Funktionshäftlinge und Strafgefangenen, die in der Küche oder in der Krankenstation arbeiteten, gegenüber den übrigen Inhaftierten verhielten, war oft entscheidend für deren Überleben. Viele nutzten die Position, um ihren Mithäftlingen in irgendeiner Form zu helfen, andere suchten ihren eigenen Vorteil. Insbesondere die Kapos, die für die Aufsicht der Arbeitskommandos zuständig waren und für die oft Kriminelle herangezogen wurden, waren für ihre Brutalität bekannt.
Die einflussreichen Posten waren begehrt, und insbesondere die politischen Gefangenen kämpften mit den Kriminellen darum, sie zu besetzen. Meistens waren die Funktionshäftlinge Deutsche oder (in Auschwitz) auch Polen; selten gelang es Russen oder Juden, eine Funktion zu übernehmen.
Die Ankunft in den Lagern war ein Schock für alle Neuankömmlinge: Sie verloren auf der Stelle ihren letzten privaten Besitz, ihre Kleidung, ihre Haare, ihren Namen – kurz: ihre gesamte menschliche Würde. Der Name wurde durch eine Nummer ersetzt, und auf der Häftlingsjacke wurden die Lagerinsassen zusätzlich mit farbigen Winkeln entsprechend ihres Inhaftierungsgrundes gekennzeichnet: rot für politische Häftlinge, grün für Kriminelle, rosa für Homosexuelle, violett für Bibelforscher, schwarz für ‚Arbeitsscheue‘, blau für Emigranten (ausländische Zwangsarbeiter), gelb für Juden. Der Lageralltag war streng durchorganisiert und bestand aus schwerer physischer Arbeit vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit, in der Regel zwölf Stunden. Jeweils vor und nach der Arbeit wurde ein Zählappell durchgeführt, um die Vollständigkeit der Häftlinge zu überprüfen und potenzielle Fluchtversuche zu entdecken. Die Appelle waren gefürchtet, weil sie bei unstimmigen Zahlen mitunter mit stundenlangem Stehen verbunden waren. Viele Häftlinge brachen während der Appelle zusammen und starben.
Geringfügigste Verstöße gegen die Lagerordnung wurden hart geahndet – mit Strafexerzieren, Nahrungsentzug, Einzelhaft im ‚Bunker‘ (teilweise in Stehzellen und ohne Licht) oder mit der Prügelstrafe. Im Bunker wurde zudem oft gefoltert. Eine besonders üble Bestrafungsmethode war das sogenannte „Pfahlhängen“, bei der der Delinquent an den Händen an einer Aufhängung hochgezogen wurde. Dabei reißen die Schultergelenke aus, nach einigen Stunden tritt der Tod ein. Um jeden Widerstand im Keim zu ersticken, wurden individuelle Vergehen zudem kollektiv bestraft: Wer nicht zugab, ein Stück Brot gestohlen zu haben, riskierte, dass eine beliebige Anzahl zufällig ausgewählter Häftlinge bestraft wurde. Erschießungen und öffentliches Hängen waren an der Tagesordnung.
Die SS behandelte Juden von Anfang an systematisch schlechter als alle anderen Häftlingsgruppen. Die Chance jüdischer Häftlinge, die Lagerhaft zu überleben, war denkbar gering. Nach der Verhaftungswelle während der Novemberpogrome – 11.000 Juden wurden nach Dachau gebracht, zwischen 10.000 und 12.000 nach Buchenwald und 6.000 nach Sachsenhausen – stieg die Sterblichkeitsrate in diesen Lagern rapide an: Die meisten Toten waren Juden. Polnische Juden, die gleich nach Kriegsbeginn in die KZs Buchenwald und Mauthausen gebracht worden waren, waren nach wenigen Monaten fast alle tot. Im Herbst 1941, als eine medizinische Kommission in Konzentrationslager geschickt wurde, um arbeitsunfähige Häftlinge für den anschließenden Mord in „Euthanasie“-Anstalten zu selektieren, befanden sich unter den Selektierten überproportional viele Juden: Das Auswahlkriterium war weniger medizinisch als rassistisch.
1941 war der Massenmord an den Juden im vollen Gange. Da Erschießungen (außerhalb von Lagern) nicht mehr praktikabel genug und (für die Täter!) psychisch zu belastend waren, hatten die Nazis seit längerer Zeit mit der Tötung durch Gas experimentiert. Mit Hilfe von mobilen Gaswagen nahm Ende 1941 das erste Vernichtungslager in Chełmno seine Arbeit auf. Im Frühjahr gesellten sich, ebenfalls im besetzten Polen, drei weitere Vernichtungslager mit stationären Gaskammern hinzu: Treblinka, Sobibór und Bełżec. In diesen Lagern wurden die Häftlinge sofort nach Ankunft in die als Duschräume getarnten Gaskammern geschickt, in denen sie einen qualvollen Erstickungstod starben. Allein in Treblinka wurden etwa 900.000 Menschen ermordet, weitere 435.000 in Bełżec, 150.000 – 250.000 in Sobibór, 200.000 – 250.000 in Chełmno.
Auch die Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek waren zu Vernichtungslagern erweitert worden. Ab Sommer 1942 war Auschwitz, das größte der Vernichtungslager, das Hauptziel für die Deportationszüge aus allen besetzten Ländern Europas. Die Juden wurden an der Rampe selektiert, die Arbeitsfähigen zur Zwangsarbeit eingeteilt, die Alten, Kranken, Frauen und Kinder in die Gaskammern geschickt. Mindestens 1,1 Millionen Juden wurden nach Auschwitz deportiert, mindestens eine Million Juden starben. Zehntausende von Sinti und Roma, die von den Nazis ebenso wie die Juden für rassisch minderwertig gehalten wurden, starben ebenfalls in den Gaskammern der Vernichtungslager.
Es gibt keine genauen Zahlen für die Häftlinge, die – außerhalb der Vernichtungslager – in den Konzentrationslagern starben: durch Verhungern, Misshandlungen, körperliche Auszehrung und Erschöpfung oder Erschießungen. Historiker schätzen, dass die Zahl der Häftlinge, die sich zwischen 1933 und 1945 in den Lagern befanden, in die Millionen gehen und dass zwischen 800.000 und 950.000 starben. Im Januar 1945, kurz vor Ende des Krieges, befanden sich noch 714.211 Häftlinge in den Lagern, wie aus einer Statistik der SS hervorgeht. Zwischen 250.000 und knapp 350.000 dieser Häftlinge starben noch in den letzten Kriegsmonaten: auf den sogenannten „Todesmärschen“, um Häftlinge vor den heranrückenden Truppen der Alliierten ins Innere des Reiches zu evakuieren; durch die sich katastrophal verschlechternden Bedingungen in den völlig überfüllten Lagern; und durch Massenerschießungen. Viele Häftlinge starben noch Monate nach Kriegsende an den Folgen der KZ-Haft. Die Überlebenden litten oft an bleibenden physischen und psychischen Schäden. Angstattacken, Schlaflosigkeit und schwere Depressionen sind nur einige wenige Symptome des sogenannten „Überlebenden-Syndroms“ von KZ-Häftlingen.
„Alle sprechen immer von Überlebenden“, berichtet eine ehemalige KZ-Insassin. „Aber das ist falsch. Tatsächlich haben wir lebenslänglich bekommen – physisch und vor allem psychisch. Noch heute wache ich nachts auf und denke, ich bin im Lager.“
Der Psychiater William G. Niederland, der sich eingehend mit den Auswirkungen der NS-Verfolgung befasste und den Begriff des „Überlebenden-Syndroms“ in die psychiatrische Literatur einführte, bringt es auf den Punkt. Er nennt das Verbrechen, das an den (überlebenden) Häftlingen in den Lagern verübt wurde, schlicht: Seelenmord.
Willy (Wilhelm) Lermer
Willy Lermer ist ein großer, stattlicher Mann. Respekt einflößend und alle anderen Guides überragend sah ich ihn oft am Eingang des Museums sitzen oder mit der Museumsleitung ins Konferenzzimmer hinübergehen: Offensichtlich ein wichtiger Mann. Außer einem kleinen „Guten Tag“ oder „Auf Wiedersehen“ (Willy Lermer spricht gut Deutsch) kamen wir nicht weiter ins Gespräch.
Erst nach längerer Zeit überwand ich meine Scheu und fragte Herrn Lermer, ob er mir seine Geschichte erzählen würde. Natürlich, antwortete er völlig unkompliziert, wann haben Sie denn Zeit?

Willy im Holocaust Museum, Melbourne 2010
In den nächsten Wochen hatte ich Gelegenheit, einen ausgesprochen liebenswürdigen, warmherzigen und aufrichtigen Menschen kennenzulernen. Wir trafen uns mehrfach in Lermers Haus, in dem er nach dem Tod seiner Frau alleine lebt, und saßen in seinem Arbeitszimmer an einem großen Schreibtisch beisammen. Dort erzählte er mir mit seiner sonoren, warmen Stimme aus seinem Leben. Manchmal unterbrach er sich, drehte sich zum Computer auf dem Beistelltisch und zeigte mir Fotos oder andere historische Dokumente von den Lagern, in denen er inhaftiert war. Der Computer ist nicht wegzudenken aus dem Leben des alten Herrn: Hier surft er täglich im Netz, hier schreibt er E-Mails an seine Freunde und Bekannten.
Bei meinem letzten Besuch zeigte mir Lermer eine E-Mail von einem Freund und erzählte mir von einer denkwürdigen Begebenheit. Eine deutsche Touristin hatte das Museum besucht, Willy führte sie durch die Ausstellungsräume, die beiden führten ein lebhaftes Gespräch, und plötzlich erzählte die Dame, dass sie kürzlich den Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer in München kennengelernt hätte. Woraufhin Lermer erstaunt fragte: „Max – ja lebt der denn noch?“ Die überraschte Dame – Sabine Zürn, damals Programmleiterin beim Ravensburger Verlag – erfuhr, dass Willy und Max sich bei der Befreiung im KZ Dachau kennengelernt, beide für die jüdische Hilfsorganisation Joint gearbeitet, aber über die Jahrzehnte aus den Augen verloren hatten. Sie hatte nun den Kontakt zwischen den beiden wiederhergestellt: Die E-Mail, die Willy Lermer mir zeigte, war von Max Mannheimer aus München.

Willy Lermer (l.) und Max Mannheimer (r.) mit ihrem Chef Harry Rubin bei der Jüdischen Wohlfahrtsorganisation Joint in Schleißheim, 1948
Ein halbes Jahr später, ich lebte bereits wieder in Deutschland, erhielt ich eines Sonntagmorgens einen Anruf von einem Herrn, den ich nicht kannte und der meine Telefonnummer offensichtlich von Willy erhalten hatte. Er habe davon gehört, dass ich im Holocaust-Museum in Melbourne gearbeitet hätte und sei interessiert zu hören, wer ich sei. Der Herr hatte sich nicht vorgestellt, ich hatte aber eine leise Ahnung. Ich fragte also: „Kann es sein, dass Sie Max Mannheimer sind?“ Worauf er antwortete: „Ach herrje, habe ich das gar nicht gesagt – ja, der bin ich“, bevor er charmant weiterplauderte. Später lernte ich Max Mannheimer persönlich kennen, und wir sprachen über die Kette von Zufällen, die uns zusammengeführt hatte. Mannheimer hat einen Namen dafür. Er nennt es Mischpochologie.
Willys Geschichte
Wilhelm wird 1923 als Sohn einer jüdisch-polnischen Familie in Krakau geboren. Krakau ist eine wunderschöne alte Stadt im Süden Polens, deren Geschichte bis ins 7. Jahrhundert zurückgeht.

Willys Eltern Channa und Herschel Lermer
Seit dem Mittelalter ist Krakau auch ein bedeutendes jüdisches Zentrum Europas. Vor dem Zweiten Weltkrieg leben hier etwa 60.000 Juden und machen ein Viertel der Bevölkerung aus. Herschel Lermer, Wilhelms Vater, besitzt und betreibt zusammen mit seinem Bruder Wilek eine Likörbrennerei, das Geschäft ist erfolgreich.
„Uns ging es verhältnismäßig gut, wir lebten in einem schönen Apartment mit zwei großen Räumen und einer großzügigen Küche – das war damals fast luxuriös. Ich erinnere mich, dass mir mein Vater ein Dreirad schenkte, als ich drei oder vier Jahre alt war, und da wurde ich von allen Kindern in der Straße beneidet.“
1929 wird Wilhelms Schwester Dusia geboren, fast gleichzeitig wird die Familie von der Weltwirtschaftskrise getroffen. Viele Geschäfte gehen pleite, die Arbeitslosigkeitsquote steigt, auch Lermers Likörbrennerei ist nicht zu halten.

Das großväterliche Haus in Myślenice, auf dem Balkon Willys Tante und Onkel, 1938
„Wir mussten in eine Ein-Zimmer-Wohnung ziehen, und Dusia wurde zur Großmutter nach Myślenice geschickt – das war etwa 30 Kilometer von Krakau entfernt. Ich blieb zu Hause, weil ich inzwischen ja schon zur Schule ging. Meine Eltern haben dann einen Laden gemietet und ein koscheres Restaurant eröffnet. Meine Mutter hat gekocht, und mein Vater hat das Essen serviert, die beiden haben schwer gearbeitet.“
Nach einiger Zeit können sich die Lermers wieder eine etwas größere Wohnung leisten, Dusia kommt zurück, beide Kinder gehen in die jüdische Schule.
„Ich war im jüdischen Sportverein und habe Fußball, Volleyball und Tischtennis gespielt. Im Winter bin ich Schlittschuh gelaufen. Und jeden Sommer sind Dusia und ich nach Myślenice gefahren und haben die Ferien bei meiner Großmutter verbracht. Sie lebte in diesem wunderschönen Dorf am Fuße der Karpaten, und wir hatten dort auch Cousins. Ich habe meine Großmutter und diese Ferien sehr geliebt.“
Im Sommer 1939 fährt Dusia wie gewohnt zur Großmutter, Wilhelm bleibt, wie schon die beiden Jahre zuvor, zu Hause. Mit seinen knapp 16 Jahren will er den Eltern lieber im Restaurant helfen. „Der Sommer 1939 war sehr angespannt. Jeder redete davon, dass es Krieg geben würde, und so war es ja dann auch.“
Als am 1. September 1939 die deutsche Wehrmacht angreift, glaubt jeder Pole an einen raschen polnischen Sieg.
„Man hat uns wieder und wieder erzählt, wie stark die polnische Armee sei und dass wir in Kürze in Berlin stehen würden. Natürlich war das alles Propaganda, wie wir bald herausgefunden haben.“
Die polnische Regierung ordnet die Mobilmachung an.
„Wie alle kriegsdiensttauglichen Männer musste sich mein Vater in der Kaserne melden, und ich – patriotisch wie ich war – beschloss, mit ihm mitzugehen. Ich war ja erst 15, sah aber wegen meiner Körpergröße durchaus aus wie 18. Meine Mutter war natürlich strikt dagegen, dass ich freiwillig in den Krieg ziehe, aber ich bestand darauf und meldete mich mit meinem Vater. Ich betrachtete das Ganze als aufregendes Abenteuer.“
Polen ist vom Norden, Westen und Süden her von den Deutschen eingekesselt, im Osten befindet sich die mit den Deutschen befreundete Sowjetunion, die nur darauf wartet, Gebiete in Ostpolen zu annektieren. Die polnische Armee ist deutlich schlechter bewaffnet und ausgerüstet, die Deutschen nutzten ihre Luftwaffe intensiv und haben völlige Lufthoheit. Kurz: Die polnische Armee hat keine Chance.
„Mein Vater und ich sollten uns bei einer Armeeeinheit melden, die circa 40 Kilometer entfernt war von Krakau. Wir machten uns also zu Fuß auf den Weg. Die Straßen waren überfüllt von Menschen, die nach Osten flüchteten, und über uns kreisten Flugzeuge, die Bomben abwarfen oder aus Maschinengewehren schossen. Nachdem wir gewarnt worden waren, dass die Deutschen uns schon eingekreist hatten, kehrten wir nach fünf Tagen um.“
Innerhalb einer Woche besetzt die deutsche Wehrmacht Krakau. Ende September ist die Hauptstadt Warschau eingenommen, am 6. Oktober kapitulieren die letzten polnischen Truppen. Polen wird nun unter Hitler und Stalin aufgeteilt: Das westliche Polen wird ins Deutsche Reich eingegliedert, Ostpolen fällt an die Sowjetunion, Südpolen mit den Städten Warschau, Kielce, Radom, Lublin und Krakau wird militärisch besetzt und als „Generalgouvernement“ von den Deutschen verwaltet. Hans Frank, Jurist und prominenter Nazi mit diversen Parteiämtern, wird am 26. Oktober 1939 zum Generalgouverneur berufen, er macht die Krakauer Burg Wawel, den Stammsitz der polnischen Könige, zu seinem Amtssitz. Unter seiner Ägide beginnt eine beispiellose Terrorherrschaft: Die geistige Elite Polens wird ermordet oder in Konzentrationslager verschleppt, Universitäten und höhere Schulen werden geschlossen, Polinnen und Polen als Zwangsarbeiter rekrutiert, Juden ghettoisiert und deportiert.
„Das Leben wurde schlagartig sehr schwierig für uns. Jeden Tag haben die Deutschen neue antijüdische Gesetze verkündet. Eines Tages kamen zwei deutsche Soldaten in unser Restaurant und nahmen sich einfach alle Lebensmitteldosen aus den Regalen – Sprotten, Sardinen und was wir eben so hatten. Als mein Vater nach der Bezahlung fragte, antworteten sie höflich, dass sie am nächsten Tag wiederkommen würden. Wir haben erst später begriffen, in welche Gefahr wir uns mit der Frage nach dem Geld gebracht hatten – die hätten uns schlagen oder gar erschießen können, das ist aus nichtigeren Anlässen oft genug passiert. Einmal habe ich zugesehen, wie zwei SS-Männer einen orthodoxen Juden zusammengeschlagen haben. Unter den anfeuernden Rufen von Zuschauern haben sie dann seinen Bart und seine Schläfenlocken angezündet. Als er bewusstlos auf den Gehsteig fiel, haben sie den Mann mit Wasser übergossen, nur um wieder von vorne beginnen zu können. Einige SS-Leute standen mit einem Fotoapparat dabei und haben fotografiert.“
Wilhelm versucht, sich an die Diskriminierungen zu gewöhnen und so normal wie möglich zu leben. Weil die Pferde der Bäckerei, die das elterliche Restaurant mit Brot beliefert, von der polnischen Armee beschlagnahmt worden sind, steht Wilhelm nun jeden Morgen um fünf Uhr auf, um das Brot zu holen. Die Bäckerei ist etwa vier Kilometer entfernt. Auf einem der Besorgungsgänge wird Wilhelm von zwei Polen denunziert.
„Da stand ein SS-Mann, und die beiden Polen richteten also den Finger auf mich und riefen ‚ Jude, Jude’. Der Punkt ist nämlich, dass die Deutschen zwar orthodoxe Juden als Juden erkannten, nicht aber jene Juden, die so angezogen waren wie jeder andere auch. Da waren sie auf die Polen angewiesen, und die waren oft sehr hilfreich. Der SS-Mann brachte mich dann zu einer deutschen Polizeidienststelle, und die teilte mich zum Möbelschleppen ein. Wir mussten über mehrere Treppen Möbel schleppen und wurden dabei getreten und geschlagen. Aber am schlimmsten wurden die orthodoxen Juden in unserer Gruppe behandelt. Mittags kriegten wir eine Suppe mit Schweinefleisch, und die rührten die Orthodoxen natürlich nicht an. Darauf hatten die Deutschen aber nur gewartet. Sie schrien so was wie:‚Ihr jüdischen Schweine, wir sind so herzensgut und verköstigen euch hier, und ihr wollt unser Essen nicht.‘ Und dann ließen sie die tief religiösen Juden zur Strafe exerzieren und schlugen dabei auf sie ein.“
Auf Geheiß der Deutschen wird im November ein Judenrat gebildet, der für die Durchsetzung der deutschen Gesetzgebung verantwortlich gemacht wird.
„Alle arbeitsfähigen männlichen Juden mussten sich nun beim Judenrat registrieren lassen, um Zwangsarbeit zu leisten. Ein paar Monate lang habe ich dann mit etwa 500 anderen Männern Gräben für die Kanalisation ausgehoben. Geld haben wir dafür natürlich nicht bekommen.“
Ab Mai 1940 beginnen die Deutschen, die Juden aus der Stadt zu jagen – nicht ohne sie vorher ihres gesamten Besitzes zu berauben. Innerhalb eines Jahres sind mehr als 40.000 Juden aus Krakau vertrieben. Die verbliebenen 11.000 Juden werden angewiesen, in den Stadtteil Podgórze im Süden der Stadt zu ziehen – in ein eingezäuntes Wohngebiet, das nicht größer als 400 mal 600 Meter ist.
„Im August 1940 wurde meinen Eltern das Restaurant weggenommen, ein Volksdeutscher6 übernahm das, natürlich ohne irgendeinen finanziellen Ausgleich. Und aus der Wohnung sind wir auch rausgeschmissen worden. Wir zogen in eine Wohnung im jüdischen Viertel, die wir uns mit drei anderen Familien teilen mussten, aber zum Glück haben wir dann die Erlaubnis bekommen, zu meiner Großmutter nach Myślenice zu ziehen. Dort haben wir in einem kleinen Haus zusammen mit Tanten, Onkels und Cousins gewohnt. Die Wohnverhältnisse waren ziemlich eng, aber irgendwie haben wir das hingekriegt. Wir mussten uns dort auch wieder beim Judenrat registrieren lassen, und wir arbeiteten praktisch überall da, wo die Deutschen Arbeiter brauchten.“
Im Mai 1942 muss sich Wilhelm beim deutschen Arbeitsamt melden, um eine neue Arbeit zugewiesen zu bekommen – das ist nichts Ungewöhnliches und fast Routine für ihn.
„Diesmal war es anders. Wir sind auf einen Lkw verladen und in ein Arbeitslager nach Plaszów, einem Vorort von Krakau gebracht worden. Dort mussten wir für den Regensburger Bauunternehmer Josef Klug eine Brücke über die Weichsel bauen. Es war schwere Arbeit, und wir bekamen wenig zu essen. Der deutsche Ingenieur war ein anständiger Mann, aber den bekamen wir selten zu sehen. Stattdessen wurden wir von den deutschen Aufsehern oft als Schweine beschimpft und geschlagen.“
Obwohl die Baracke, in der die Arbeiter untergebracht sind, außerhalb des Arbeitslagers liegt und nicht eingezäunt ist, wagt niemand eine Flucht: Das Risiko, von den Deutschen erwischt oder von Polen denunziert zu werden, ist zu groß, und Flucht wird mit der Todesstrafe geahndet. Zweimal erhalten Wilhelm und seine Mitgefangenen jedoch die Erlaubnis, am Wochenende nach Hause zu gehen.
„Samstagmorgens durften wir los, Montagfrüh mussten wir wieder zurück sein. Wir hatten eine Strecke von 30 Kilometern zu laufen, natürlich gab es keinen Bus oder Ähnliches. Meine Eltern waren überglücklich, mich zu sehen, aber der Abschied war dann umso schmerzlicher. Besonders an dem zweiten Wochenende lag irgendeine Spannung in der Luft – so als ob wir ahnten, dass wir uns nicht mehr wiedersehen würden.“
Im August 1942, drei oder vier Wochen nach Wilhelms zweitem Besuch zu Hause, wird die jüdische Bevölkerung von Myślenice aufgefordert, innerhalb von zwei Tagen eine enorm hohe Sondersteuer zu entrichten. Die Juden des Ortes verkaufen ihre letzten Habseligkeiten, um das Geld aufzutreiben. Nachdem sie die Steuer entrichtet haben, müssen sie sich alle auf dem Marktplatz versammeln, wo ihnen mitgeteilt wird, dass sie nunmehr in den Osten evakuiert werden. Dort sollen sie auf Bauernhöfen für die Versorgung der deutschen Wehrmacht arbeiten.
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