Kitabı oku: «In den Tiefen des magischen Reiches», sayfa 2

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3. Kapitel

Ein bunt bemaltes, leuchtendes Schiff flog in strahlender Sonne und großer Höhe. Es hatte stolze Segel, die den Wind liebten und sich von ihm aufblasen ließen, sodass das Luftschiff rasend schnell über einem weiten Meer dahinschwebte.

Es erreichte schließlich das Ufer eines fremden Landes. Von der Küste aus stieg das Gelände stark an. Ein junger Mann stand aufrecht darin und versuchte, durch Wolkenlücken das bizarre Gebirge unter sich wahrzunehmen. Einsam und schroff ragten Felsen in eisige Höhe und doch waren sie von beeindruckender, erhabener Schönheit. Hier und da erkannte Tahomo Gämsen. Sie sprangen über Steine und Geröll. Wie sie das nur schafften? Sonst lebte hier scheinbar niemand.

Aber halt! Er beugte sich tief über den Rand des leuchtenden Bootes, um die Landschaft unter ihm genauer erkennen zu können. Dort stand eine kleine Hütte. Sie war offensichtlich aus zufällig gefundenen und aufgelesenen Planken mithilfe junger, biegsamer Wurzeln zusammengefügt worden. Schief und wacklig sah diese armselige Behausung aus. Der junge Mann dachte: Sie ist sicherlich längst verlassen. Wer dort wohl gewohnt haben mag? Na, wenn der nächste Sturm kommt …, mutmaßte er.

Aber nein, nahe der Hütte sah er den Besitzer kommen. Ein uraltes Männlein war es mit einem auffällig breiten Buckel. Seine krummen Beine steckten in roten Strümpfen, die man deutlich erkannte, weil es eine weite, aber viel zu kurze Hose trug. Seine Füße steckten in verschiedenen Schuhen. Es schleppte ein Bündel Holz auf seiner Schulter. Trotz dieser Last aber trug dieses Männlein vor seiner Brust noch eine winzige Tasche. Die schien es mit den Händen fest zu umklammern. Als das kleine Wesen das Luftschiff mit dem dahinfliegenden Prinzen erblickte, warf es das Bündel ab und verbeugte sich tief.

Tahomo dachte: Wie kann er mich kennen? Doch dann versperrte ihm eine Wolke die Sicht.

Weiter und immer weiter flog das stolze Gefährt mit dem Prinzen. Als er wieder hinuntersehen konnte, war er bereits fern von jenem Ort, an dem das kleine Lebewesen hauste. Jetzt wurde das Hochgebirge immer schroffer. Tahomo sah nur noch die von Schnee bedeckten Gipfel oder Felsen mit messerscharfen Graten. Zwischen ihnen stürzten von Zeit zu Zeit gefährliche Geröll-Muren donnernd in die Tiefe. Er wusste, dass das Geröll dann alles mit sich riss, was in seiner Nähe war, und ein banges Gefühl beschlich den jungen Prinzen.

„Wohin trägst du mich, mein leuchtendes Boot?“ Der junge Mann schrie seine Worte in den Wind. Da er hier allein war, rechnete er jedoch mit keiner Antwort.

Aber was für eine Überraschung: Am Bug des bunt bemalten Schiffskörpers erstrahlte plötzlich eine goldene Gestalt mit wunderlichem, eher männlichem Kopf. In dem Augenblick, als Tahomo seine Frage in den Wind schrie, erwachte diese Gestalt zum Leben. Aus seinen Lippen sprudelte ein schmales, weißes Band mit singender Schrift, welche im Fahrtwind heftig zitternd und wirbelnd flatterte. In tönenden Worten wurde dem Prinzen mitgeteilt, dass das Boot die Aufgabe habe, ihn, den Auserwählten, zu Salmidon, dem Herrscher des Magischen Reiches, zu bringen.

„Genau dorthin wollte ich, denn ich muss den Auftrag meines Vaters erfüllen!“, rief der Prinz erregt.

„Danke nicht mir, Tahomo“, erklang das singende Band, „danke dem Gebot eines höheren Wesens. Es hat mir befohlen, dich auf deinem Weg zu beschützen!“

„Wie komme ich zu Salmidon? Verrate es mir!“

„Die Zeit ist noch nicht reif, Tahomo, noch muss dies für dich ein Geheimnis bleiben.“

„Auch für euch, meine Kleinen, muss noch ein Geheimnis bleiben, wie die Geschichte weitergeht. Einen Teil davon erfahrt ihr im nächsten Kapitel, aber das muss ich erst schreiben!“

„Weißt du schon, was passiert?“, drängeln meine Enkelsöhne.

„Nein, das weiß ich vorher nie …“

Dann herrscht eine Weile Stille zwischen uns.

„Omama, Mika und ich haben bald Ferien. Können wir zu euch kommen? Dann hast du bestimmt das neue Kapitel fertig!“

4. Kapitel

Der Flug im leuchtenden Schiff unter der wärmenden Sonne hatte den Prinzen seine schweren Sorgen fast vergessen lassen. Nun aber legte er sich still auf den Boden des fliegenden Gefährts und schloss seine Augen. In der Erinnerung über das, was zu Hause geschehen war, kamen ihm Tränen.

Was aber hatte sein Leben so völlig verändert?

Ehe sein Vater, der Herrscher von Tandonay in die Krankheit tiefer Traurigkeit gefallen war, nicht mehr sprach, kaum aß und regungslos mit trüben Augen vor sich hin starrte, hatte er seinen Sohn Tahomo zu sich kommen lassen.

„Mein geliebter Sohn“, hatte er mühsam und leise gesprochen. „Ich habe es nie verstanden und ahne auch heute nicht, warum deine Mutter plötzlich nicht mehr bei uns war. Ist ihr ein Unglück zugestoßen? Oder geschah hier ein Verbrechen? Ich bin inzwischen zu alt und zu schwach, um weiter in die Welt zu gehen und die Ursache zu suchen. Ich bin nicht mehr in der Lage, für das, was an meinem Hofe geschehen ist, eine Erklärung zu finden oder gar ein böses Vergehen rächen zu können!“ Langsam hatte sich der alte König zum Sohn gebeugt und ihn lange umarmt. „All die Jahre habe ich dich mit viel Wissen ausgestattet und zu aufrechtem Denken erzogen. Mein Vertrauen zu dir ist unendlich groß, also auch meine Überzeugung, dass du diese schwere Aufgabe für mich lösen kannst! Geh in die Fremde und such nach Salmidon, dem Weisen im Magischen Reich. Er wird dir Rat geben!“

Der Sohn spürte die innige Umarmung seines Vaters noch immer. Von nun an war der König von Tandonay völlig apathisch und kraftlos geworden. Später verfiel er der Krankheit der tiefen Traurigkeit.

Was war denn nur damals mit der Königin geschehen? Tahomo überließ sich ganz den leisen Bewegungen seines Luftschiffs und dachte nochmals über das rätselhafte Verschwinden seiner Mutter nach.

Tandonay war ein liebliches Land inmitten des Märchenreichs. Sein Herrscher lebte mit dem Prinzen und seiner Frau Naomi in Frieden und Fröhlichkeit. Er liebte die Königin und seinen Sohn Tahomo von ganzem Herzen. Sie waren, neben dem Glück seines Volkes, das Wichtigste in seinem Leben. Und so blühte Tandonay, umschlossen von schützenden Bergen, in Frieden und Geborgenheit.

Eines Tages jedoch, als Tahomo noch ein Knabe war, geschah etwas Schreckliches: Bei der festlich gedeckten Abendtafel wartete man länger als gewöhnlich auf Königin Naomi. Plötzlich flog die Tür zum Saal auf. Herein sprudelten Hofdamen in weiten, bunten Kleidern. In ihrer Aufregung sahen sie aus wie liebliche Blüten, die der Wind über eine Wiese bläst. Der König musste oft über die ausgelassenen und stets fröhlichen jungen Frauen lachen, doch heute lachte er nicht. Sein Herz spürte Gefahr und er richtete seine Augen ernst und prüfend auf die Hofdamen.

„Wir können die Königin nicht finden!“, rief die erste der Damen. Eigentlich war sie für ihre stete Zurückhaltung bekannt, doch jetzt schien sie außer sich zu sein. „Vor einer Stunde bereits haben wir sie gesucht. Wir haben gerufen, doch keine Antwort kam – sie blieb verschwunden! Bis jetzt haben wir gesucht.“

„Wer sollte heute ihre Gefährtin sein?“ Der König erhob sich bedrohlich.

„Ich!“ Die jüngste der Damen schritt unsicher auf ihn zu. Dann begann sie leise zu erzählen: „Wir spazierten im Park …“

„Sprich lauter, erzähle uns alle Einzelheiten!“, befahl ihr Gebieter erregt.

„… da sahen wir, dass ein wunderschöner, aber ungewöhnlich großer Vogel über uns langsam in weiten Kreisen flog. Sein Gefieder schimmerte in allen Blautönen. Er hatte an den Spitzen seiner gewaltigen Flügel einen kleinen Saum silberner Federn. Der Schweif aber – mein König, stellt Euch zarteste, tanzende und noch dazu vielfarbige Schleier vor, die von ihm durch die Luft gezogen wurden!“

Der König winkte ungeduldig mit seiner Hand, dass sie rascher erzählen solle. Aber die Hofdame war nicht zu unterbrechen, so aufgeregt war sie.

„Hin und wieder ließ der Vogel über der Königin eine silberne Feder fallen und dann war es, als ob wir leises, metallenes Klingen hörten. Es tönte wie ein Glockenspiel. Königin Naomi haschte nach den klingenden Silberfedern und lachte. Sie lief immer weiter und wollte den großen Vogel näher beobachten. Wir haben ihn hier noch nie gesehen!“ Und weiter schwärmte die Hofdame: „Der Schwung seiner Flügel war so … Wie soll ich Euch erklären, mein König, was jetzt geschah? Die ganze Erscheinung war so harmonisch … auch so majestätisch … Ich erinnere mich nur noch daran, dass wir beide, die Königin und ich, ihm zuschauten und uns dann eine große Müdigkeit überfiel.“ Hier unterbrach die junge Frau, wurde für einen Moment still und senkte ihren Kopf. „Als ich aufwachte, war Königin Naomi verschwunden. Ich habe gesucht, glaubt mir … Dann habe ich gedacht, sie sei allein zum Schloss zurückgegangen, doch dort war sie nicht angekommen!“

Die Gesichtszüge des Herrschers von Tandonay verfinsterten sich. „Schickt meine Späher sofort in alle Himmelsrichtungen aus!“, befahl er daraufhin donnernd. Er selbst sattelte seinen Schimmel, um die geliebte Frau zu suchen. Alle, der gesamte Hofstaat, das ganze Volk von Tandonay, suchten. Vergebens!

Königin Naomi war nie wieder zurückgekehrt. Nie wieder hatte Tahomo die sanft streichelnde Hand der Mutter auf seiner Haut gespürt. Diese Erinnerungen taten weh.

Ganz in Gedanken versunken lag Tahomo noch immer reglos auf dem Boden des Luftschiffes. Jetzt wischte er mit seinem Handrücken die Tränen ab und verharrte noch eine kurze Weile in diesen Bildern. Dann erhob er sich, denn eine innere Unruhe trieb ihn. Der junge Prinz nahm sich vor, die Suche nach der Mutter niemals, niemals aufzugeben.

Das leuchtende Schiff war indessen über das Meer weiter und immer weiter geflogen. Als Tahomo diesmal über die Reling schaute, erblickte er in der Ferne einen schmalen Uferstreifen. Langsam senkte sich das Boot und setzte zur Landung an. Doch woher kam dieses gewaltige Donnern? Der Prinz schaute sich um und erschrak zutiefst. Eine haushohe Welle rollte brodelnd vom Meer aus auf ihn zu. Gleich würde sie das gesamte Schiff mit seiner ungeheuren Kraft umherwirbeln und verschlingen.

„Nun ist auch dieses Kapitel zu Ende, meine Kleinen!“

„Oooooch!“, maulen beide.

„Nächstes Mal, wenn ich zu euch komme, ist ganz sicher das nächste Kapitel fertig!“ Meine Hände streicheln das blonde und das braune Haar der Enkelsöhne. „Nichts wird verraten … Geheimnis!“, foppe ich und wir lachen.

Eine lustige Woche lang waren die beiden bei ihrem Gerard-Opi und mir zu Besuch. Morgen fahren sie wieder nach Hause.

„Kommt ihr uns dann bald besuchen, Omama?“

„Logo und klaro, mein Philipp!“

Da ist er zufrieden.

5. Kapitel

Heute sind unsere Enkelkinder wieder zu ihren Eltern gefahren. Mit Gerard liege ich auf einer Sommerwiese. Es ist warm. Wir hatten Lust auf Picknick und sind einfach losgefahren. Jetzt sind wir müde. Es schnarcht ganz leise neben mir.

Plötzlich spüre ich, dass mein Arm berührt wird, ganz zart, es kitzelt! Wahrscheinlich ein Insekt. Schnell verjagen, ich habe Angst vor Stichen. Aber … das ist kein Insekt. Ich stoße mit meiner Hand an etwas Festes, etwas Größeres. Vor Schreck ziehe ich sie schnell zurück und öffne meine Augen. Ganz nah neben mir kniet eine unbekannte Frau und sieht mich an. Ihr Gesichtsausdruck ist traurig. Lange schwarze Haare fallen von ihren Schultern herab auf meinen Arm. Sie trägt ein Kleid, das ich hier noch niemals sah. Es ist ein wunderschönes Gewand aus blauen Schleiern – ganz sicher ist sie nicht von hier!

Da spricht sie mich an: „Hab keine Angst … Vor mir brauchst du niemals Angst zu haben … niemals Angst zu haben … Angst!“

Oh, diese leise, etwas hallende Stimme mit dem Echo … Ich kenne sie doch.

Sanft legt die Unbekannte ihre Hand auf meine Schulter. „Ich bitte dich um deine Hilfe … deine Hilfe … bitte!“

Genauso hat das Wesen mit den glühenden Augen zu mir gesprochen. Neulich ist es nachts bei mir erschienen und hat mich mit dieser sanften Stimme gerufen. Das war also doch kein Traum … Vollkommen verwirrt schaue ich sie an und da fällt mir auf, dass sich ihre Augen mit Tränen füllen. „Wer bist du?“, flüstere ich, um Gerard nicht zu wecken.

„Ich bin Naomi. Einst war ich die Königin von Tandonay … Tandonay.“

„Tandonay?“, wiederhole ich und bin erstaunt. Das Land Tandonay habe doch ich erfunden, in meiner Geschichte für Philipp und Mika. Wie kann das sein? Gibt es das wirklich? Und ich frage Naomi: „Wo liegt es, ich habe nie davon gehört.“

„Tandonay ist ein friedliches Land … Land in der großen Welt der Märchen … Märchen. Zedon, ein Zauberer, entführte mich von dort … von dort … Er hält mich gefangen … Ich finde nicht mehr zurück und brauche Hilfe … brauche Hilfe!“ Sie spricht immer aufgeregter und dann höre ich verzweifeltes Schluchzen.

„Wie kann ich dir denn helfen, Naomi? Sag es mir.“

„Um das alles zu verstehen, muss ich dich einweihen … einweihen! Du musst wissen: Zedon, der Zauberer, hat vor langer, langer Zeit bei meinem Vater um meine Hand angehalten … angehalten. Er bot mir Schätze an, wenn ich ihn heiraten würde. Doch Zedons Charakter war so düster … so düster. Man fror in seiner Nähe, selbst wenn er lachte und freundlich tat … freundlich tat. Ich wollte um keinen Preis seine Frau werden … um keinen Preis …“ Dann wird Naomis Stimme leiser und weicher. „Ich liebte bereits den jungen Herrscher von Tandonay, wir hatten einander versprochen … einander versprochen … für immer zusammenzugehören. Dieser Mann hatte ein gutes Herz und hohen Verstand. Wie oft habe ich erlebt, dass er sich wie ein Vater für sein Volk verantwortlich fühlte … verantwortlich fühlte. Er war ein Mensch mit edlen Idealen. Strahlend ist sein Bild, wenn ich an ihn denke. Ich wurde seine Frau … seine Frau.“ Naomi senkt ihren Kopf und spricht zunächst nicht weiter. Ihre Hoffnungslosigkeit ist deutlich zu spüren. Schließlich flüstert sie: „Nach einem Jahr bekamen wir einen Sohn … einen Sohn.“ Naomi schluchzt laut auf und klagt: „Nie … niemals waren wir glücklicher!“

Da nehme ich die verzweifelte Königin in meine Arme, doch mir fehlen Worte, mit denen ich trösten kann. Ich weiß zu wenig, um helfen zu können. Eine Weile bleibt es still zwischen uns.

Als sich Naomi ein wenig beruhigt hat, erzählt sie weiter: „Zedon hat meine Abweisung nie akzeptiert … nie akzeptiert. Warum habe ich nicht daran gedacht, dass er vielleicht Rache nehmen könnte … Rache. Lange geschah nichts und ich vergaß den Zauberer … vergaß. Doch eines Tages war die Zeit für ihn reif. Er … er hat nicht vergessen, sein abgewiesenes Werben um mich nie verwunden … nie verwunden. Und dann kam der Tag, an dem Zedon mich aus Tandonay raubte … aus Tandonay raubte! Er bediente sich einer List und verschleppte mich in sein düsteres Reich … verschleppte mich!“

„Erzähl mir genau, Naomi, wie konnte das geschehen? Wo brachte er dich hin?“

„Oh, er kannte mich gut … er kannte mich! Als Kind hatte mir mein Vater einst einen weißen Pfau geschenkt … weißen Pfau. Wie sehr hatte ich den geliebt. Viele Jahre war er mein Spielgefährte gewesen … mein Spielgefährte. Das wusste Zedon und jetzt sandte er mir einen ähnlichen, einen großen, eleganten Vogel, der mich sofort faszinierte und lockte … lockte. Ja, ich war unvorsichtig und lief ihm hinterher. Ich ahnte ja nicht, dass ich entführt werden sollte … ahnte ja nicht …

„Wann hast du denn gemerkt, dass du entführt worden bist?“

„Um dir das zu beantworten, muss ich dich in eine andere Wirklichkeit führen … andere Wirklichkeit!“ Naomi streicht mit einer Hand ganz leicht über mein Gesicht und spricht dabei: „Sieh, wohin er mich gebracht hat … wohin!“

Als sich die Hand Naomis von meinen Augen löst, sehe ich die Königin als Gefangene tief unten in einer Schlucht zwischen kalten Felsen umherirren. Sie ist nicht allein hier. Über ihr wächst aus dem Stein ein halbes Wesen mit mächtigem Oberkörper. Die muskulösen Arme stapeln Felsbrocken um sich herum. Der Kopf dieser gewalttätigen Kreatur trägt auf jeder Seite ein anderes Gesicht. Ständig kontrolliert er jede Himmelsrichtung und mir wird klar: Falls sich je ein Geschöpf hierher verirren sollte, um Naomi zu helfen, so würde dieses Ungeheuer mit seinen kräftigen Armen große Steinbrocken nach ihm schleudern. An ihm kommt niemand vorbei.

Als ich wieder zu der Unglücklichen in die tiefe Schlucht schaue, entdecke ich, wie ein äußerst hässliches Wesen auf sie zuschleicht. Es scheint halb Mensch, halb Tier zu sein. Glatzköpfig, mit langer Hundeschnauze, scheußlich abstehenden, fleischigen Ohren und dickem Bauch tappt dieser sonderbare Kerl vorsichtig auf dünnen Beinen der Gefangenen entgegen. Aus irgendeinem Grund hält er die Augen geschlossen, doch seine dicken Krallenfüße finden den Weg sicher. Ständig bleibt er stehen und richtet seine großen Ohren auf, um sie nach dem kleinsten Geräusch zu drehen. Auch die Flügel seiner knubbligen Nase bewegen sich und ich kann hören, wie er die Luft um sich tief einsaugt. Sollte ein Retter Naomi hier zu Hilfe kommen wollen, so würde er ihn schon von Weitem wittern.

Noch ist die Königin abgelenkt. Noch hat sie ihn nicht erblickt. Ganz offensichtlich prüft sie Felsspalten, um irgendwo einen Weg zur Flucht zu finden.

Auch wenn die Augen der hässlichen Kreatur noch immer geschlossen sind, bleibt ihr anscheinend nichts verborgen. Auf irgendeine Weise nimmt sie alles, aber auch alles wahr, denn da höre ich schon ihre rostig krähende Stimme kreischen: „Halt! Nicht weiter, bleib ßtehen, mein ßätzzchen, ßonßt wird eß dir schlecht ergehen und daß wollen wir doch nich!“ Und während es spricht, blickt dieses Ungeheuer scheinbar völlig teilnahmslos in eine andere Richtung. Gegen diesen Bewacher hat man keine Chance. Er ist unberechenbar, aber auch gefährlich und launisch!

Obwohl ich die Königin als Gefangene in dieser tiefen Schlucht sehe, kauert Naomi zugleich immer noch neben mir, hoch oben, am Rande der abfallenden Felsen, und ich frage leise: „Ist dein Bewacher ein Untertan von Zedon?“ Wenn ich ihr helfen soll, so muss ich alles, was hier geschieht, verstehen.

Naomi nickt.

So ein komisches Wesen habe ich noch nie gesehen: Über seinem dicken Leib trägt es einen Rock, der bei jedem Schritt hin und her schwingt. Mit den fetten, fleischigen Pranken streicht es ständig die Falten glatt. Ja, dieses eigenartige Geschöpf ist zweifellos eitel! Langsam tappt es an Naomi vorbei, ohne sie anzusprechen.

Was tut es denn jetzt? Fasziniert schaue ich weiter in den Abgrund. Dieser Hässling hebt plötzlich seine abscheulich dicken Füße. In eigenartigem Takt patschen die Krallen auf den Felsenboden … vor … und zurück, dann sich heftig drehend wie ein Kreisel! Aus seinem Maul höre ich krächzenden Gesang: „Ich bin ßo ßöhöön“, grunzt der Hässling völlig selbstvergessen. „Ich bin eine Elfe, eine Eeelfeee!“ Dabei schwingen seine Hüften … rechts, links, rechts, dass sein Faltenröckchen nur so wippt. Offensichtlich hat er einen wilden Gefallen daran.

Aus Nischen und Pfützen der Schlucht eilen ihm kleine Zauberwesen mit Mäuse- oder Drachenkopf entgegen. Die tragen ebenfalls Röcke. Eines mit Ziegenkopf hält sogar einen Sonnenschirm in seiner dürren Kralle. Auch die beginnen ganz grässlich zu kreischen: „Du, unser Anführer, bist sooo schön, wir sind auch so schööhön, wir alle sind Eeelfeeen so zahart, so liiiieblich …“

Da werde ich von einer Bewegung der gefangenen Königin abgelenkt. Was tut sie da? Sie schleicht ganz vorsichtig zu einer schmalen Felsspalte. Wahrscheinlich glaubt sie, die Kreaturen seien in ihrem Tanz unaufmerksam.

Doch welch ein schlimmer Irrtum! Ihr tanzender Bewacher erstarrt schlagartig. Er holt tief Luft, bläst seinen dicken Bauch auf und dann hört man einen alles durchdringenden, furchtbaren Schrei. Der will und will nicht enden; er gellt wie ein Alarm aus vielen Sirenen. Sofort rennen die kleinen Ungeheuer zu der Königin, die noch immer eine Felsspalte sucht. Ich erlebe von meinem Platz aus, wie die Kreaturen vor Hohn laut lachen, wie sie wild um sie herumtanzen. Naomi schreit auf, doch noch lauter kreischen ihre Peiniger: „Sie will fliiiieheen, aaaach, sie will fliiiehen!“ Sie kneifen und stoßen sie und jetzt ziehen sie die wehrlose Königin mit sich …

Da schwindet dieses furchtbare Bild vor mir und es erscheint ein anderes. Der Hässling stößt die Königin vor sich her in einen Schlosshof hinein. Die anderen Kreaturen tanzen dort bereits um eine schwarz gekleidete, hohe Gestalt herum und schreien: „Fliehen wollte sie, großer Zedon … Wir haben es verhindert!“

Zedon? Das also ist der große Zauberer? Zum ersten Mal sehe ich ihn. Wie eine Statue steht er bewegungslos und mächtig vor seinem Schloss. Sein dunkler Mantel verhüllt den Körper, die Kapuze ist tief ins Gesicht gezogen. Aus der Bewegungslosigkeit heraus beginnt er jäh zu schreien: „Die Zeit der Schonung ist für dich vorbei! Ich verlange, dass du mir ab sofort als meine Frau angehörst! Ab sofort!“ Er beendet seinen Befehl mit den knappen Worten: „Du hast keine Wahl!“

Ratlos sehe ich zu Königin Naomi. Sie steht aufrecht in diesem Schlosshof und spricht ganz leise: „Ich verweigere deinen Befehl, Zedon, auch wenn das meinen Tod bedeuten sollte. Niemals werde ich meinem Mann, dem König von Tandonay, untreu. Ich gehöre zu meiner Familie!“

Ruckartig schnellt ein Arm aus Zedons dunklem Umhang. Seine Faust richtet sich gegen die Gefangene. Kalt und erbarmungslos fallen jetzt seine Worte wie die Schläge eines Hammers auf Naomi nieder: „Der König von Tandonay ist tot! Dein Sohn ist für immer verschwunden!“

Die Königin zuckt kurz zusammen. Dann steht sie wieder, still und unbewegt, wie gelähmt. Woher nur nimmt sie die Kraft für ihren Stolz?

Ich spüre ein leichtes Streichen über meine Augen. Es ist Naomis Hand. Sie sitzt wieder neben mir auf der Sommerwiese, hebt den Zeigefinger an ihre Lippen und deutet zu Gerard. Er schläft noch immer. Dann flüstert sie mir zu: „Das war der Moment, als Zedon furchtbare Rache beschloss … Rache beschloss. Wenn er mich nicht haben konnte, so sollte ich Tandonay niemals wiedersehen … niemals wiedersehen. Ich erinnere mich nicht, wie es geschah, doch als ich wieder klarer denken konnte, war ich in eine dunkle Gestalt verwandelt … verwandelt und Zedon verbannte mich … verbannte mich in das schwarze Moor. So laut ich auch rufen würde, keiner könnte mir helfen … keiner mir helfen. Schlimmer noch, ich wäre für alle Zeit zur Einsamkeit verdammt … verdammt, denn ich würde das Moor niemals lebend verlassen können!“

„Du bist die …“ Jetzt begreife ich, wage es aber nicht auszusprechen.

„Ja, ich bin die undurchschaubare Düstere Königin des Moores … Königin des Moores!“

„Naomi, ich verstehe nicht, das Märchen der Düsteren Königin habe ich vor Kurzem meinen Enkelsöhnen erzählt und nun kommst du zu mir als … oder träume ich wieder?“

„Du träumst nicht! Deine Fantasie hat eine Brücke von euch Menschen auf dem Blauen Planeten zu uns in die Märchenwelt geschlagen … Brücke in die Märchenwelt. Als mir Zedon entgegenschrie, mein Mann, der König von Tandonay, sei tot und mein Kind verschwunden … verschwunden, als ich nicht wusste, ob jemand meinem Sohn in seiner Einsamkeit beistehen würde … Einsamkeit … war meine Qual am allergrößten … meine Qual … Da habe ich dich gehört, da habe ich dich gespürt. Versteh, du hast deinen Enkelsöhnen die Geschichte von meinem Sohn erzählt … von meinem Sohn … Nur deshalb ist es mir möglich, mit dir Verbindung aufzunehmen … nur deshalb. In deinem Märchen hast du ihm ein leuchtendes Schiff gegeben, mit dem er fliehen konnte … in deinem Märchen. Nun bin ich hier, um dich zu fragen: Hast du den Mut, uns zu helfen … den Mut … zu helfen?“

Ich überlege nicht einen Moment: „Ja, Naomi, ich werde alles tun, was mir möglich ist!“

Da fühle ich ihre Hand an meinem Arm. „Hier, nimm das … nimm das!“, spricht sie hastig. Sie will mir etwas geben, doch urplötzlich ist diese Berührung vorbei.

„Warum antwortest du mir denn nicht?“ Gerards Stimme klingt ungeduldig, ja scheint bereits etwas beleidigt.

„Ich habe dich nicht gehört, was hast du gefragt?“

Ich setze mich auf. Das Wesen neben mir ist verschwunden. Langsam streicht meine Hand über die Stelle meiner Decke, an der ich eben noch das weinende Geschöpf gespürt habe. Fantasiere ich jetzt oder … Das Gras ist nass! Das müssen die Tränen der Düsteren Königin sein …

„Ich habe dich gefragt, wann wir wieder zu Mika, Philipp und Jona fahren.“ „Du hast wohl schon wieder Lust auf deine wilden Enkelsöhne?“, lache ich.

Nun ist Gerard, den die Kleinen Gerard-Opi nennen, wieder einig mit mir. Er erhebt sich und legt die Decke zusammen, auf der wir gelegen haben. „Hier liegt eine Kette im Gras, ist das deine?“, fragt er mich. Dann geht er zum Auto.

Tatsächlich, dort liegt eine Kette! Sie sieht kostbar aus! Das kann doch kein Zufall sein … Naomi wollte mir etwas reichen, ehe sie verschwand. War es dieser Schmuck? Ich suche mit den Augen die Sommerwiese ab. Wo ist Naomi? Ich muss sie finden … Ich muss ihr helfen. Doch da ist keine Spur von ihr. Gerard ruft und so lege ich diese Kette schnell um meinen Hals und verschließe sie ganz fest.

Ob ich dieses seltsame Erlebnis meinen Enkelsöhnen erzählen soll? Werden sie sich nicht fürchten vor der Andeutung Naomis, dass ich mit unserer Geschichte ein Band zu ihr in die Märchenwelt geschlungen habe?

„Nein … Was habe ich nur für Gedanken!“ Ich bin mir jetzt sicher, dass ich – wie Gerard – eingeschlafen bin. Geträumt! Ja, kann nur so sein. Ich habe von meiner eigenen Geschichte geträumt.

Und die Kette, die im Gras lag?

Die hat jemand verloren, ich werde sie im Fundbüro abgeben. Das alles hat einen ganz normalen Hintergrund … Ach, ich habe einfach zu viel Fantasie! Nächste Woche bin ich wieder bei meinen Kleinen. Da kann ich meinen Traum ja gut als neustes Kapitel erzählen!

Hmm! Der Traum … Er geht mir nicht aus dem Kopf … Eine Kette im Gras?!

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
160 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783957447081
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