Kitabı oku: «Standort Bananenrepublik», sayfa 2
Nach dreistündiger Fahrt kommt das Lager Kounoungo in Sicht: Ich zähle 500 in Reih und Glied aufgebaute Zelte mit dem Aufdruck des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, die zehnmal soviel Menschen Obdach bieten, hauptsächlich Frauen, Kindern und Greisen: Viele Männer im wehrfähigen Alter haben sich den Zaghawa-Rebellen angeschlossen oder wurden von Janjaweed-Milizen umgebracht. Ihre Familien, die in der Zeltstadt untergekommen sind, haben das Schlimmste überstanden. Sie werden medizinisch betreut und mit Lebensmitteln und Wasser versorgt, wenn auch nur unzureichend, und sie haben ein Dach über dem Kopf. Aber außerhalb des Lagers warten noch einmal soviele Flüchtlinge, die seit Tagen, Wochen, Monaten in der Savanne umherirren, ohne Wasser und Lebensmittel unter sengender Sonne in einer der menschenfeindlichsten Regionen der Welt. Rinder und Pferde sind auf der Flucht verendet oder wurden von Janjaweeds gestohlen, nur Esel und Ziegen haben den langen Marsch überlebt. Die Flüchtlinge verkaufen ihr letztes Vieh – für Nomaden Lebensversicherung und Sparkonto zugleich – und mit dem mageren Erlös bezahlen sie die Mitfahrgelegenheit auf der Pritsche eines LKW, der sie am Lagertor absetzt, wo sie vergeblich auf Einlaß warten. Vor der Aufnahme ins gelobte Land steht eine bürokratische Prozedur, die sich lange hinziehen kann: Die Neuankömmlinge werden von Flüchtlingskomitees der tschadischen Regierung registriert, um sicherzustellen, daß sie keine Einheimischen sind, die von der Gratisausgabe von Lebensmitteln profitieren wollen; Familienzugehörigkeit, Herkunft und Namen werden sorgfältig überprüft, und erst wenn diese Hürden genommen sind, bekommen sie vom UNHCR Plastikfolien, Wasser und Nahrung zugeteilt. Bis dahin vergeht viel Zeit, und die Flüchtlinge leiden Hunger und Durst, während vor ihren Augen mit Lebensmitteln beladene LKW ins Lager ein- und ausfahren. Von den Hilfsgütern fällt wenig für sie ab: Nur Säuglinge und schwangere Frauen, Alte und Kranke werden mit Milchpulver und proteinhaltigen Keksen versorgt, die selbst ein Gesunder nur mit Mühe kauen kann.
Der Flüchtling, das unbekannte Wesen: Auf einer Karikatur der Zeitung Le Progrès ist ein Verdurstender in der Wüste zu sehen, der von Reporterteams mit Kameras und Mikrophonen umlagert und gefragt wird, wie er sich fühlt. Hier ist es umgekehrt: Als ich aus dem Auto steige, kommen von allen Seiten Flüchtlinge auf mich zu. Zuerst Kinder, dann Frauen in leuchtend bunten Gewändern, zuletzt die Männer, von denen einer, ein grauhaariger Alter im langen Kaftan, fließend englisch spricht. Er ist Lehrer von Beruf und trägt einen Kugelschreiber in der Brusttasche. Der Junge, der ihn an der Hand führt, schreibt mir seinen Namen auf den Oberarm: Er heißt Yakub Abdallah und stammt aus einem Dorf im Innern von Darfur. Berittene Janjaweed-Milizen zündeten die Hütten an und töteten seine blinde Mutter, weil sie nicht schnell genug weglaufen konnte, und ein »Antonow«-Flugzeug der sudanesischen Luftwaffe warf mit Schrappnells gefüllte Bomben ab und nahm die Fliehenden unter Beschuß. Yakub Abdallah gehört zum Volk der Saghawas und hat Englisch und Arabisch unterrichtet; sein Freund Adam Mussah ist 45 Jahre alt, Schuldirektor vom Stamm der Fur. Er bestätigt die Angaben des Alten: Der Krieg in Darfur habe 1984 begonnen mit Viehdiebstählen und Überfällen, bei denen 800 Dörfer zerstört und viele Angehörige des Fur- und Zaghawa-Volks massakriert worden seien. 1989 habe Präsident Baschir Frieden mit ihnen geschlossen und die Bewohner von Darfur aufgerufen, ihre Waffen abzugeben. Als Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht habe er ihnen eine Eisenbahnladung mit Zucker geschickt, aber die Aufständischen hätten, durch Schaden klug geworden, den Zucker gegen Waffen eingetauscht – Zucker ist in Afrika ein Grundnahrungsmittel. »Bitte lassen Sie uns nicht allein«, mit diesen Worten beschließt Adam Mussah seinen Bericht. »Unsere Brunnen und Felder werden mit Chemikalien vergiftet, und ganz Darfur ist ein einziges Massengrab. This is genocide!«
Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Es sind immer nur Männer, die sprechen, und die meisten sind Lehrer von Beruf – der Kugelschreiber am Revers ist ein Statussymbol wie bei den Funktionären der SPLA im Südsudan. Ihre Berichte stimmen wörtlich miteinander überein. Was die Beurteilung zusätzlich erschwert, ist, daß man keine wandelnden Skelette vor sich sieht wie bei den Hungersnöten in Äthiopien oder Somalia. Das Elend der Flüchtlinge aus Darfur ist nicht monoton, sondern pittoresk: Die Frauen sind buntgekleidet, und die Männer strahlen eine Würde aus, die durch Hunger und Armut noch nicht gebrochen ist. Nur in den Nasenlöchern der Kinder herumkriechende Fliegen deuten darauf hin, daß sich eine Katastrophe anbahnt – und mit Plastikfetzen und Stoffresten behängte Dornbüsche, unter denen sich zehnköpfige Familien auf der Fläche eines Zweimannzelts zusammendrängen. Die meisten Flüchtlinge sind unterernährt, viele haben Husten und Durchfall: Es gibt keine Latrinen, und nachts wird es kühl, bis zu 5 Grad nach Einsetzen der Regenzeit, die Bronchitis und Tuberkulose nach sich ziehen wird.
Guéréda, im Grenzgebiet zum Sudan. Früh um sieben machen wir dem Sultan der Zaghawas unsere Aufwartung. Er residiert in einem Lehmpalast, in Sichtweite eines Lebensmitteldepots von WFP, ein riesiges Zelt, bis unters Dach mit aufeinandergestapelten Säcken gefüllt. Der Sultanspalast ähnelt einem Bauerngut, im Innenhof scheppert eine Maschine, die Hirse drischt, und nur der mit Teppichen ausgelegte Empfangsraum, vor dessen Betreten ich die Schuhe ausziehen muß, weist auf den hohen Rang seines Bewohners hin. Mahamat Bakhil Hagar ist das traditionelle Oberhaupt des Zaghawa-Volks, aber er hat keine politische Macht, lediglich eine symbolische und religiöse Funktion. Der Sultan sitzt unter gekreuzten Lanzen und Schwertern auf einem erhöhten Thron; an der Wand hängt ein Lederharnisch, über und über beschrieben mit Suren aus dem Koran, die den Träger vor Dolchen und Gewehrkugeln schützen sollen, und als ich seinen Namen notiere, runzelt er mißbilligend die Stirn. Der Dialog ist mehr als einseitig – selbst die Führer der Roten Khmer sind gesprächiger als der Fürst des Zaghawa-Volks, der auf keine ihm gestellte Frage antwortet und erst nach mehrfachem Insistieren die einsilbige Auskunft gibt, wenn wir etwas über Darfur wissen wollten, müßten wir selbst dorthin fahren. Erst später erfahre ich den Grund seiner Zurückhaltung: Der Sultan habe Angst, etwas Falsches zu sagen, meint Emmanuel, der örtliche Mitarbeiter der SECADEV: »Es ist unhöflich, ihm direkte Fragen zu stellen, denn er hat keine Erfahrung im Umgang mit Reportern, die in seinen Augen Spione sind.« Als traditioneller Herrscher sitze er zwischen allen Stühlen und werde von der Regierung des Tschad ebenso mißtrauisch beäugt wie von lokalen Behörden und rivalisierenden Clans – nicht zu vergessen die Machthaber im Sudan. »Der Sultan verläßt niemals seinen Palast«, mit diesem Satz bringt Emmanuel die Sache auf den Punkt: »Er weiß alles, aber er sagt nichts.«
Touloum, Tiné, Bahai: Der Besuch der Flüchtlingslager entlang der sudanesischen Grenze gleicht einem quälend langsamen Abstieg durch verschiedene Kreise der Hölle, wobei es jedesmal, wenn ich glaube, der Tiefpunkt sei erreicht, noch schlimmer kommt. In Touloum sind 6 000 Flüchtlinge in Zelten untergebracht, noch einmal soviele hocken apathisch in der kochendheißen Savanne, die keine Handbreit Schatten wirft, und warten darauf, registriert und ins Lager aufgenommen zu werden. Einer von ihnen ist Mohamed Harun, 48, ein Zaghawa-Bauer, dem eine von einer »Antonow« abgeworfene Bombe den Fuß abriß. Er zeichnet mit der Krücke den Fluchtweg in den Sand, den er auf einem Esel reitend zurückgelegt hat. Sein Freund Abdallah Mahmud, 29, wurde von einer Kugel ins Bein getroffen und zeigt mir die schlecht verheilte Schußwunde. Beim Angriff der Milizen wurden sechs Mitglieder seiner zehnköpfigen Familie getötet, unter ihnen ein Säugling, und der einzige Unterschied war, daß die Janjaweeds nicht zu Pferde, sondern mit Pickup-Trucks in das grenznahe Dorf einfielen.
Aber auch die in Zelten untergebrachten Flüchtlinge sind aus dem Gröbsten nicht heraus. 400 Gramm Sorghum, 50 Gramm getrocknete Bohnen oder angereicherter Mais und 20 Gramm Speiseöl beträgt die Lebensmittelzuteilung pro Tag und Person, aber derzeit fehlt das Speiseöl zum Kochen, und statt der notwendigen fünfzehn Liter werden nur fünf Liter Wasser pro Familie zugeteilt, weil die Wasservorräte erschöpft und Pumpen ausgefallen sind. Trotzdem ist kein Klagelaut zu hören, und junge Mütter mit Kindern auf dem Arm, die stundenlang in der prallen Sonne anstehen, nehmen dankbar die von Hilfsorganisationen verteilten Plastikplanen und Wasserbehälter in Empfang.
An diesem Tag ist James Morris nach Touloum eingeflogen, der Präsident des Welternährungsprogramms, der als Leiter einer hochrangigen UN-Delegation das für Journalisten gesperrte Kriegsgebiet in Darfur besucht hat und, unter einem Kameldornbaum stehend, die Presse informiert. Morris ist ein korpulenter Mann; er trägt ein Polohemd mit dem Logo eines Golfclubs und berichtet mit schleppendem Südstaatenakzent, was er in Darfur gesehen hat: Zerstörte Dörfer und Flüchtlinge, die selbst in Lagern nicht vor Nachstellungen der Janjaweeds sicher seien. »Politik der verbrannten Erde, ethnische Vertreibung bis hin zum Genozid«, murmelt Morris mit stockender Stimme und hält sich an dem mit Dornen gespickten Baumstamm fest, als habe er einen Schwächeanfall – kein Wunder bei der Hitze und dem Elend um ihn herum. Sein Beispiel wirkt ansteckend, denn auf dem Weg zur Latrine, die nur aus einem in die Erde gestanzten Loch besteht, durch Plastikfolie vor Einblick von außen geschützt, spüre ich, wie mir plötzlich weich wird in den Knien. Nicht nur die Vertriebenen sind physisch ausgelaugt.
Eine andere Art von Tragödie spielt sich ab im achtzig Kilometer entfernten Grenzort Tiné. In der Hoffnung auf Wasser und Lebensmittel kampieren Abertausende von Flüchtlingen außerhalb der Stadt, inmitten von Exkrementen und Müll. Der Gestank ist unerträglich, und die wie eine Wok-Pfanne gewölbte Hochebene ist, soweit das Auge reicht, mit Tierkadavern übersät, Esel zumeist, die in der Gluthitze verwesen, während zu Skeletten abgemagerte Rinder und Ziegen an Plastiktüten herumknabbern. Die toten Tiere werden eingesammelt und verbrannt; Schakale und Hyänen lebten nur im Süden des Tschad, sagt Issah, unser Chauffeur, und für Geier sei die Wüste zu heiß. Eine Mutter mit rotznäsigem Kind auf dem Arm – sein rot verfärbtes Haar deutet auf Mangelernährung hin – erzählt, die letzte Essenszuteilung habe Ende März stattgefunden, und zum Wasserholen müsse sie fünf Stunden durch die Savanne laufen, nachts, wenn Schlangen und Skorpione unterwegs sind – tagsüber sei der Fußmarsch zu anstrengend. Das Wasser ist verschmutzt, und um den Hunger der Familie zu stillen, muß sie Wurzeln und Wildfrüchte kochen, die Magenbeschwerden und Durchfall verursachen. Ein paar hundert Meter weiter liegt die neuerbaute Luxusvilla des Staatspräsidenten Idriss Déby, der von hier aus seinen Siegeszug antrat zur »Befreiung« des Tschad; schräg gegenüber eine aufwendig renovierte Moschee, deren Mullah sich nicht um seine Glaubensbrüder kümmert und die Versorgung der Flüchtlinge westlichen Hilfsdiensten überläßt. Dabei ist der Bürgerkrieg in Darfur, dessen Gefechtslärm nachts nach Tiné herüberdringt, kein Religionskonflikt wie im Südsudan, weil alle Beteiligten Moslems sind.
Sechzig Kilometer weiter nördlich, in Bahai, ist ein einziger Arzt für die Versorgung Tausender Flüchtlinge zuständig, von denen viele zu entkräftet sind, um den Weg zur Krankenstation zu schaffen. Camilo Valderrama, 47, kommt aus Kolumbien, hat vorher in Liberia gearbeitet und ist seit zwei Monaten hier: »30 Prozent der Vertriebenen sind unterernährt, 50 Prozent haben Durchfall, und wir beseitigen jeden Tag über hundert Tierkadaver«, sagt der Arzt am Ende der Welt, der nur über einen begrenzten Vorrat an Medikamenten verfügt und den Flüchtlingsfrauen die elementarsten Regeln der Gesundheitsvorsorge vermitteln will: Trennung von Gesunden und Kranken, Händewaschen und elementare Hygiene – ohne sauberes Wasser ein frommer Wunsch. »Warum hat sich die Sterberate im letzten Monat verzehnfacht? Was war die häufigste Todesursache?«, fragt Camilo die im Schatten eines Pavillons wartenden Frauen, während ein sudanesischer Lehrer seine Worte auf arabisch übersetzt. »Wasser ist Gold, und sauberes Wasser ist ein Diamant«, erläutert er und zündet sich eine Zigarette an. Camilo ist Kettenraucher, und nur durch ständige Zufuhr von Nikotin erträgt er das Elend hier. Weiter nördlich, in Cariari, sei es noch schlimmer, weil niemand sich um die Versorgung der Flüchtlinge kümmere. Auf der Fahrt dorthin hat er eine im achten Monat schwangere Noamdenfrau in der Savanne aufgelesen; ohne sein Eingreifen wäre sie jetzt schon tot. Djamila ruht unter einer dünnen Decke im Schatten der Krankenstation, und beim Anblick des Arztes versucht sie vergeblich, sich aufzurichten. »Ein schwerer Fall von Anämie«, sagt Camilo, während sie stöhnend auf ihr Lager zurücksinkt. »Djamila wird ihr Baby verlieren, und ich bin nicht sicher, ob sie überlebt!«
Letztes Bild, bei der Abfahrt aus Tiné: Ein sterbender Esel in der Wüste. Er wendet mühsam den Kopf zu dem Auto, das neben ihm hält; ein Beben durchläuft die zum Gerippe abgemagerte Brust, und er ist tot.
P.S.: »Vor den Menschen sterben die Tiere«, sagt Pater Joël, der uns in seinem Haus in Abéché empfängt – das erste Essen seit Tagen, das nicht nur aus Wasser und Biskuits besteht. Der Jesuitenpater betreut versprengte Christengemeinden an der 1 500 Kilometer langen Ostgrenze Tschads, hat Freunde unter den Mullahs und wird von seiner muslimischen Umgebung respektiert. »Schreiben Sie auf, was Sie gesehen haben, und sagen Sie die Wahrheit über die Flüchtlinge! Kürzlich war eine hochgestellte Persönlichkeit hier, deren Namen ich nicht nennen darf, denn der Mann ist Christ. Er behauptete, es gebe kein Flüchtlingsproblem in Darfur!«
Vielleicht meint Pater Joël den Botschafter eines mit der Bundesrepublik befreundeten Landes, der mich in N’djamena ins Gebet genommen hat. Er hielt einen druckreifen Vortrag über die geopolitische Bedeutung Sudans als größter Flächenstaat Afrikas, am Kreuzungspunkt von Anglophonie und Frankophonie, arabischen Ölstaaten und fundamentalistischem Islam. Da diese angeblich christlich sei, unterstützten die USA seit Jahren John Garangs Rebellenarmee, die Demokratie nur für Nordsudan fordere, im Süden aber diktatorisch regiere. In Wahrheit gehe es um Ölvorkommen und Bodenschätze, die nicht bloß im Südsudan, sondern auch in Darfur vermutet werden: Deshalb die von Washington angestrebte Internationalisierung des Konflikts mit dem Fernziel der Aufteilung des Sudan. Eine perfekte Verschwörungstheorie, die nur einen Schönheitsfehler hat: Die ethnische Vertreibung aus Darfur ist keine Erfindung von CNN, es gibt sie wirklich.
Die vom amerikanischen Delegationschef in Genf gezogenen Parallelen zu Ruanda und Kambodscha waren und sind irreführend und falsch – ich darf dies sagen, denn ich habe die Auswirkungen beider Genozide vor Ort erlebt. Aber das ist kein Trost für die Flüchtlinge aus Darfur, denen das Schlimmste erst noch bevorsteht, wenn die Regenzeit beginnt. Ein anderer historischer Vergleich macht mehr Sinn: Im Herbst 2004 begeht Namibia den hundertsten Jahrestag des Herero-Aufstands, der mit einem Massensterben endete. Nach der Schlacht am Waterberg wurden die Hereros in die Omaheke-Wüste abgedrängt, wo ein Drittel des Nomadenvolks – 30.000 Männer, Frauen und Kinder – an Hunger und Durst zugrunde ging: »Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit und ohne Vieh erschossen!« Der Ausrottungsbefehl des berüchtigten Generals von Trotha paßt zur Politik der verbrannten Erde in Darfur, wo das Baschir-Regime sich wie eine Kolonialmacht gebärdet – die Knechtung der Schwarzafrikaner hat im Sudan eine unselige Tradition. Aber in einer anderen Hinsicht gebe ich dem europäischen Diplomaten recht: Washingtons Frontstellung gegen den französischen Einfluß in Afrika ist kurzsichtig und kontraproduktiv, denn die auf einer kulturellen Symbiose beruhende Frankophonie ist ein festeres Bollwerk gegen islamischen Fanatismus und Terrorismus als der American Way of Life, der, wie derzeit im Irak, nur Öl ins Feuer gießt.
Besser als die schrille Menschenrechtsrhetorik der Gegenwart es vermag, hat der Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger André Gide das Problem auf den Punkt gebracht, als er in seinem Reisebericht aus Kongo und Tschad 1927 schrieb: »Die durch mein Buch geweckte Aufmerksamkeit wird bald wieder einschlafen: Bis zu dem Tag, an dem ein anderer Reisender, wie ich von der verrückten Idee angetrieben, sich anzusehen, was dort unten geschieht, neue Machtmißbräuche aufdeckt, ähnliche Abscheulichkeiten anprangert und der Öffentlichkeit zu verstehen gibt, daß sich an diesen Mißbräuchen außer dem Etikett, mit dem man sie bemäntelt, nichts geändert haben wird.«
Der widerlichste Beutezug
der Geschichte
Auf Spurensuche zu Joseph Conrads
»Herz der Finsternis«
Was für ein Roman! Dabei ist Heart of Darkness gar kein Roman, sondern eine Erzählung, genauer gesagt eine Rahmenerzählung, auf halbem Weg zwischen Novelle und Reisebericht. Die Unbestimmtheit der Gattung hat sie mit einem anderen Meisterwerk der frühen Moderne gemein, dessen Inhalt so übermächtig ist, daß die Frage nach der Form unerheblich wird: Franz Kafkas In der Strafkolonie. Zwei grundlegende, nein grundstürzende Texte der europäischen Literatur, die beide den Imperialismus thematisieren, in dessen Hoch-Zeit – vor dem Ersten Weltkrieg – sie entstanden sind, und die beide in Kolonialgebieten spielen: Conrads Erzählung am Oberlauf des Kongo und die Kafkas in einer nicht näher bezeichneten Strafkolonie, hinter der sich, wie neuere Forschungen gezeigt haben, das Pazifikterritorium Neukaledonien verbirgt, neben Cayenne, wo Hauptmann Dreyfus seine Strafe verbüßte, Frankreichs wichtigster Deportationsort.1
Die Jahre vor 1914 waren auch die Inkubationszeit des Kubismus, bei dessen Entstehung afrikanische Masken und Skulpturen aus Ozeanien Pate standen, die Picasso und Braque im Pariser Musée de l’homme bewunderten. Schon vorher war Paul Gauguin nach Tahiti emigriert; Max Pechstein und Emil Nolde reisten in kaiserlich-deutsche Kolonien im Südpazifik, wo sie sich von der als primitiv gescholtenen Kunst der Inselbewohner zu einem Malstil inspirieren ließen, der Naturmystik mit unverstellter Sexualität verband. Schon früher hatten sich die gegen den bürgerlichen Kunstgeschmack revoltierenden Neuerer Fauves genannt, ein Ausdruck, den die Schule der Neuen Wilden im Berlin der 80er Jahre wiederbelebte.2
Aber nicht die Kolonisierten stehen bei Conrad und Kafka im Mittelpunkt: Die von edlen Wilden zu blutrünstigen Bestien herabgestuften »Anderen« tauchen hier, wenn überhaupt, nur als exotische Staffage auf, deren Klischeehaftigkeit von postkolonialen Kritikern zu Recht angeprangert worden ist. Im Mittelpunkt von Conrads und Kafkas Novellen steht das, was deren anglo-indischer Zeitgenosse Rudyard Kipling als White Man’s Burden bezeichnet hat, bestehend in einer vorgeblich zivilisatorischen Mission, in deren Namen Europa sich das Recht anmaßte, autochthone Kulturen zu unterjochen, um diesen seinen durch Bibel, Dampfmaschine und Glühbirne verkörperten Fortschritt nahezubringen. Im Sinne der Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht, die beiden Erzählungen zugrundeliegt, findet ein Rollentausch statt: Der europäische Protagonist – nicht von ungefähr ein Mann – wirft seine Humanität über Bord und wird zu dem, was er im Bild der »Anderen« bekämpft, zum Raubtier, das seine animalischen Instinkte ungehemmt ausleben darf. Das Adjektiv animalisch steht hier nicht von ungefähr, denn die Bestialisierung des Menschen (und die Vermenschlichung des Tiers) findet in noch kruderer Form in den gleichzeitig entstandenen Romanen von Jack London und Rudyard Kipling (Wolfsblut, Dschungelbuch) statt – oder in den Tarzan-Büchern von Edgar Rice Burroughs, wo der Vulgärdarwinismus mit Händen zu greifen ist. Auch das Klischee vom Dschungel der Großstadt, das die NS-Propaganda gegen die sogenannte Asphaltliteratur ins Feld führte, gehört in diesen Zusammenhang.
Was Conrad und Kafka, der selbst Tierfabeln schrieb, von solchen Trivialmythen unterscheidet, ist der antizipatorische Charakter ihrer Werke, der deren Wirkung zu Lebzeiten der Autoren beeinträchtigte, in den Jahrzehnten nach ihrem Tod aber überdeutlich zutage trat. Gemeint ist der utopische Gehalt dieser Erzählungen, in denen der totalitäre Staat literarisch vorweggenommen scheint, obwohl dessen Menschenvernichtungspotenzial sich damals noch in der Latenzphase befand: Sowohl Kafkas Strafkolonie als auch Conrads Herz der Finsternis wurden und werden, mit dem Wissen der Nachgeborenen, als Vorausdeutungen auf Hitlers Konzentrationslager wie auf Stalins GULAG gelesen. »Das Grauen! Das Grauen!« Die letzten Worte des sterbenden Protagonisten Kurtz belegen dies ebenso wie der nachgelieferte Kommentar von Conrads alter ego Marlow: »›Wie der Mann reden konnte! Große Versammlungen hat er förmlich elektrisiert […] Er hätte einen glänzenden Führer für eine extreme Partei abgegeben.‹ ›Welche Partei?‹ fragte ich. ›Jede Partei‹, versetzte der andere.«3
Auch der Offizier in Kafkas Strafkolonie, der die von seinem Vorgänger ersonnene Folter- und Hinrichtungsmaschine in Gang hält, sieht sich, ähnlich wie der Massenmörder Kurtz, als Künstler, dessen einsame Genialität das Publikum nicht versteht. Noch offensichtlicher wird der Brückenschlag zum Nationalsozialismus beim Blick auf die wichtigste Quelle von Kafkas Erzählung, das 1912 erschienene Buch des Strafrechtsexperten Robert Heindl Meine Reise in die Strafkolonien, auszugsweise vorabgedruckt in der Prager Zeitung Bohemia, die Kafka regelmäßig las. Ähnlich wie der Forschungsreisende in Kafkas Text lehnte der durch die Einführung des Fingerabdruckverfahrens bekannt gewordene Heindl die Einrichtung von Strafkolonien für das Deutsche Reich ab, nicht etwa aus menschenrechtlichen, sondern aus staatspolitischen Erwägungen, weil er den ökonomischen Nutzen der Zwangsarbeit beim Aufbau der Kolonien bezweifelte. Trotzdem blieb Heindl überzeugt von der Unheilbarkeit von Verbrechern, die er, analog zur späteren NS-Justiz, in die Nähe von Geisteskranken rückte, was den studierten Juristen Kurt Tucholsky zu dem Stoßseufzer veranlaßte: »Es gibt besserungsfähige Verbrecher, aber es gibt unverbesserliche Geheimräte.« In seiner Kritik an Heindls Buch kommt Tucholsky, der Kafkas Strafkolonie wohlwollend rezensiert hat, zu einem vernichtenden Schluß, der wie ein vorweggenommener Kommentar zum Eichmann-Prozeß klingt und sich direkt auf Conrads Erzählung übertragen läßt: »Fast alle diese Fachleute aber sind in ihrem Apparat befangen, empfinden das Unrecht nicht mehr, sondern achten nur auf seine formalunanfechtbare Durchführung, als ob Verordnungen, Bestimmungen und Reglements ihre Taten deshalb weniger verbrecherisch erscheinen ließen!«4
Anders als Kafkas Strafkolonie hat Herz der Finsternis einen auf persönlichem Erleben beruhenden, autobiographischen Kern. Im April 1890 verdingt sich Joseph Conrad in Brüssel als Seemann bei der Société Anonyme Belge pour le Commerce du Haut-Congo und fährt mit einem französischen Dampfer von Bordeaux nach Westafrika. Schon die Schilderung des ersten Anblicks der afrikanischen Küste nimmt das deprimierende Fazit der Erzählung vorweg – eine Kolonialismuskritik, die nicht abstraktem Vorwissen, sondern dem konkreten Augenschein entspringt: »Die Flagge des Schiffs hing wie ein Lappen schlaff herab, […] die schmierige, schleimige Dünung hob und senkte es träge, so daß sich seine dünnen Maste hin und her wiegten. Da lag es, in der öden Unermeßlichkeit von Erde, Himmel und Wasser, unbegreiflich, und feuerte auf einen Kontinent […] Etwas Irrsinniges lag in diesem Vorgehen, eine erbärmliche Komik in diesem Anblick; und dieser Eindruck wurde auch dadurch nicht zerstreut, daß mir jemand an Bord ernsthaft versicherte, daß dort ein Lager der Eingeborenen – er nannte sie Feinde – versteckt sei, irgendwo außer Sichtweite.«5
Ein Seestück wie von William Turner, aber anders als die Bilder des britischen Marinemalers ist der Text aufgeladen mit politischer Bedeutung, obwohl oder weil mit keinem Wort von Politik die Rede ist – Ethik und Ästhetik sind, wie stets bei Conrad, zwei Seiten derselben Sache. Nach der Landung in Matadi und auf dem beschwerlichen Fußmarsch nach Léopoldville, heute Kinshasa, wird Joseph Conrad Zeuge der sogenannten Kongo-Greuel, von der belgischen Kolonialverwaltung angerichtete Massaker, denen zwischen 1885 und 1910 nach Schätzungen von Historikern bis zu zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. »Traf einen Offizier vom Staat bei der Inspektion; sah ein paar Minuten später an einem Lagerplatz die Leiche eines Backongo. Erschossen? Unerträglicher Gestank«, notiert Conrad am 3. Juli in sein Reisetagebuch. Und am 4. Juli: »Sah noch eine Leiche am Rand des Pfads in der Haltung nachdenklicher Ruhe.« Für den Weg von der nüchternen Feststellung zur literarischen Beschreibung gibt die folgende Passage Regel und Beispiel zugleich, wobei der Autor, anstatt alle Register seiner Erzählkunst zu ziehen, auf wenige, suggestive Bilder vertraut und die moralische Schlußfolgerung dem Leser überläßt: »Das schwarze Gerippe lag in voller Länge ausgestreckt mit einer Schulter gegen den Baum; langsam hoben sich die Lider, und die tiefliegenden Augen sahen zu mir auf, riesengroß und leer, mit einem blinden weißen Flackern in der Tiefe der Augäpfel, das langsam erstarb […] Ich wußte nichts Besseres, als ihm ein Stück Schiffszwieback […], das ich in der Tasche trug, anzubieten.«6
Der Scharfblick des Reisenden, der schon an den ersten Anzeichen das Ausmaß der Tragödie ermißt, ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß Joseph Conrad nur die Frühphase der Annexion des Kongo-Gebiets erlebt hatte, das auf der Berliner Konferenz 1885 dem belgischen König Leopold II. als Privatbesitz zugesprochen worden war – ein als philanthropischer Akt getarnter Völkermord, der in der neueren Geschichte seinesgleichen sucht. Conrads Erzählung schildert die Jagd nach Elfenbein, schon vor Henry Morton Stanleys Durchquerung des afrikanischen Kontinents ein begehrter Exportartikel, der zu Schachfiguren, Schmuck oder Klaviertasten verarbeitet wurde. Im Auftrag Leopolds II. schloß Stanley mit im Einzugsgebiet des Flusses ansässigen Stammesfürsten Verträge, für die das Beiwort »ungleich« noch zu schmeichelhaft ist, denn anders als die Ureinwohner Amerikas traten die Häuptlinge nicht nur ihr Land, sondern auch dessen Bewohner an Belgiens König ab, der sie als Lastenträger und Holzfäller zwangsrekrutieren und beim Straßenbau zugrundegehen ließ. Nachdem auf den von Stanley gebahnten Pfaden die Elefantenherden dezimiert worden waren – der Imperialismus war auch das Zeitalter der Großwildjagd – trat ein anderer Rohstoff an die Stelle des Elfenbeins. Der von Brasilien ausgehende Kautschukboom, damals noch auf Wildpflanzen beschränkt, brachte keine Erleichterung für die Bewohner des Kongobeckens, im Gegenteil – die Zwangseinziehung der Männer zum Kautschuksammeln ließ die Sterberate erneut hochschnellen. Wer weniger als die vorgeschriebene Menge ablieferte, wurde durch Auspeitschen, Abhacken der Hände oder mit dem Tode bestraft, und infolge der Monokultur kam es zu einer durch Brachliegen der Felder verursachten Hungersnot. Im gleichen Zeitraum – von 1900 bis 1908 – erwirtschaftete die Société Anonyme Gewinne von 700 Prozent.7
Die schamlose Bereicherung, gekoppelt mit einer selbst für damalige Verhältnisse rücksichtslosen Ausplünderung der Ressourcen, einschließlich menschlicher Arbeitskraft, rief mächtige Widersacher auf den Plan. Belgien galt als Emporkömmling unter den imperialistischen Staaten, deren Monopole gnadenlos miteinander konkurrierten. Britische Abolitionisten, die nicht der anglikanischen Staatskirche, sondern protestantischen Sekten nahestanden, hatten schon im 19. Jahrhundert lautstark und mit Erfolg die Abschaffung des Sklavenhandels propagiert. Anknüpfend an diese humanitäre Tradition, organisierte Edmund D. Morel, der als Liverpooler Schiffahrtsagent von den Kongo-Greueln erfahren hatte, eine internationale Pressekampagne, die in England und den USA prominente Fürsprecher fand. Zu Morels Unterstützern gehörte der mit Conrad befreundete britische Konsul in Matadi, Sir Roger Casement, dessen schockierende Berichte die Öffentlichkeit wachrüttelten, sowie Mark Twain, der den amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt über die Vorgänge im Kongo informierte. 1905 veröffentlichte er ein Pamphlet mit dem Titel King Leopold’s Soliloquy (König Leopolds Selbstgespräch), das mehrfach neu aufgelegt wurde und dessen Erlös der Congo Reform Association zugute kam. In Mark Twains Text ereifert sich der belgische König über die neueste Errungenschaft der modernen Technik, »die unbestechliche Kodakkamera […] Der einzige Augenzeuge in all diesen Jahren, den ich nicht bestechen konnte.«8
Obwohl er Millionen ausgab, um Abgeordnete und Journalisten zu kaufen – auch im deutschen Reich, dessen Kaiser ihm nicht wohlgesonnen war – mußte Leopold II. klein beigeben und das Kongogebiet, bisher Privatbesitz der Krone, 1908 an den belgischen Staat abtreten, der dafür seine Schulden in Höhe von 110 Millionen übernahm: Ein lukratives Geschäft, aber doch ein Prestigeverlust für den Monarchen. Ausschlaggebend für dessen Niederlage im Public-Relations-Streit war nicht etwa Joseph Conrads Erzählung, die damals schon gedruckt vorlag, sondern die bei Mark Twain erwähnten Fotos, auf denen Augenzeugen, zumeist protestantische Missionare, die Kongo-Greuel dokumentierten: Bilder von Auspeitschungen oder Hinrichtungen, Kindern mit abgehackten Händen etc. Ein fernes Echo dieser Grausamkeiten findet sich in Conrads Schilderung des mit abgeschlagenen Köpfen verzierten Zauns, der das Anwesen von Kurtz umgibt: »Ich hätte überhaupt keine Vorstellung von den hiesigen Verhältnissen, sagte er: Dies seien die Köpfe von Rebellen. Er war über alle Maßen erschrocken, als ich laut auflachte. Rebellen! Welche Bezeichnung würde ich als nächstes zu hören bekommen? Man hatte sie Feinde genannt, Verbrecher, Arbeiter – und dies waren nun – Rebellen. Mir kamen diese rebellischen Köpfe auf ihren Stecken ziemlich unterwürfig vor.«9