Kitabı oku: «Standort Bananenrepublik», sayfa 3

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Joseph Conrads Zeugnis wiegt umso schwerer, da seine Erzählung vor der von Morel intitiierten Pressekampagne entstanden ist. Daß der koloniale Raubbau auch nach Übernahme des Kongogebiets durch den belgischen Staat nicht beendet war, sondern nur in eine neue Phase eintrat, zeigt der Bericht eines anderen Schriftstellers aus Äquatorial-Afrika. Nach der Genesung von seiner Kriegsverletzung, die ihm einen kaputten Arm und einen Orden eintrug, reiste Louis-Ferdinand Céline, der mit bürgerlichem Namen Destouches hieß, im Mai 1916 nach Kamerun. Von Bikobimbo an der Grenze zu Spanisch-Guinea, wo er sich als Handelsagent niederließ, schrieb er seiner Verlobten Simone Saintu nach Paris: »Der Handel, den ich treibe, ist von himmlischer Einfachheit, er besteht darin, Elefantenzähne gegen Tabak zu kaufen – 2 Päckchen Maryland für einen Stoßzahn, […] der einzige Grund, der mich verleitet, noch in diesem charmanten Land zu verweilen, (um) es mit Tabak zu überschütten, bis der letzte Elefant tot ist.« Und in einem Brief an seinen Freund Albert Milon zieht Céline ein Fazit, das an zynischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: »Man geht in die Kolonien, insbesondere nach Äquatorial-Afrika, um Geld zu machen und nicht um sich dort niederzulassen.«10

Célines desillusionierende Erfahrungen in Afrika sind in seinen 1932 erschienenen Roman Reise ans Ende der Nacht eingegangen, dessen Titel eine versteckte Hommage an Joseph Conrad enthält. Ähnlich wie im eine Generation zuvor entstandenen Herz der Finsternis deckt Céline die hinter humanitären Phrasen verborgene Realität des Imperialismus auf, dessen Herrschaft buchstäblich auf Leichenbergen errichtet war. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn beide Autoren blieben befangen in den kolonialen Vorurteilen ihrer Zeit. Céline machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für die »primitiven« Afrikaner, denen er alle nur möglichen negativen Eigenschaften zuschrieb, vom Kannibalismus bis zum Körpergeruch – ein Arsenal rassistischer Klischees, das voll ausgebildet schon bei Joseph Conrad in Erscheinung tritt: »ein Gewirbel schwarzer Glieder, gellendes Geschrei, eine Unmenge klatschender Hände, rollender Augen, stampfender Füße, sich wiegender Leiber […] Der prähistorische Mensch verfluchte uns, betete uns an, hieß uns willkommen – wer konnte das sagen? Wir […] glitten vorüber wie ein Phantom, verwundert und insgeheim entsetzt, wie Gesunde angesichts eines Ausbruchs von Raserei in einem Irrenhaus.«11

Die Flußfahrt auf dem Kongo wird zu einer Zeitreise in die Ur- und Frühgeschichte der Menschheit, und der Autor projiziert sein Unbehagen an der europäischen Kultur auf zu Geisteskranken erklärte »Primitive«– eine Gleichsetzung, die nicht erst im NS-Staat ihre mörderischen Konsequenzen offenbart hat. Der nigerianische Romancier Chinua Achebe hat am vehementesten Einspruch erhoben gegen derartige Rassenvorurteile und Klischees, und seine Stimme hat doppeltes Gewicht, weil er dem durch einen grausamen Bürgerkrieg dezimierten Volk der Ibos entstammt: »Der wesentliche Punkt meiner Beobachtungen dürfte nunmehr ziemlich klar sein, nämlich daß Conrad durch und durch Rassist war […] Aber das ist nicht einmal der Punkt. Die eigentliche Frage ist die Entmenschlichung Afrikas und der Afrikaner, die von dieser althergebrachten, weitverbreiteten Haltung nach wie vor begünstigt wird. Und die Frage ist, ob ein Roman, der diese Entmenschlichung feiert und einen Teil der Gattung Mensch depersonalisiert, ein großes Kunstwerk genannt werden kann. Meine Antwort: Nein, kann er nicht.«12

Dieser Frontalangriff gegen Joseph Conrad ist umso bemerkenswerter, als er zu einer Zeit formuliert wurde, da die Political Correctness noch nicht erfunden war. Andererseits war Chinua Achebe literarisch viel zu sensibel und kompetent, um nicht zwei mögliche Gegenargumente anzuführen: Erstens, »daß es nicht die Aufgabe fiktionaler Literatur ist, den Leuten zu gefallen, von denen sie handelt«, und zweitens, daß »Conrad […] 1890 den Kongo hinabgesegelt« ist. Nicht nur Heart of Darkness, auch Achebes Einspruch gegen Conrads Text hat inzwischen historische Patina angesetzt. Er stammt aus der heroischen Phase der Entkolonialisierung, als, im Zeichen der Kulturrevolution von 1968, die bürgerliche Geschichtsschreibung in ihr diametrales Gegenteil verkehrt wurde. So hat Chinua Achebe die dogmatische Behauptung, an allen Fehlentwicklungen der Dritten Welt sei der Kolonialismus schuld, in späteren Schriften revidiert. Trotzdem blieb er bei seinem Verdammungsurteil über ein Buch, »das in höchst vulgärer Weise Vorurteile und Beleidigungen auffährt, unter denen ein Teil der Menschheit […] unsägliche Qualen und Scheußlichkeiten erlitten hat und bis zum heutigen Tag erleidet«.13

Dieses Argument ist durchaus nachzuvollziehen, und doch geht es am literarischen Kern der Sache vorbei, nämlich an der Ambivalenz, die jedes Kunstwerk, das diesen Namen verdient, reicher und vielschichtiger macht als die manifesten Absichten seines Autors. Das gilt für Joseph Conrads Herz der Finsternis ebenso wie für die Romane von Achebe, Kafka oder Céline, deren ästhetischer Mehrwert gerade in ihrer Mehrdeutigkeit liegt, die den Zeithorizont ihrer Entstehung überschreitet und sie auch unter völlig anderen Bedingungen rezipierbar macht. So läßt sich ohne Schwierigkeit nachweisen – und dies ist auch geschehen –, daß es im Werk von Joseph Conrad sowohl antisemitische als auch frauenfeindliche Tendenzen gibt, sowie eine dem Autor unbewußte, latente Homosexualität. Conrads literarischer Bedeutung tut dies keinen Abbruch, genausowenig wie Célines spätere Wendung zum Antisemitismus den Rang der Reise ans Ende der Nacht zu schmälern vermag. Die Größe dieser Autoren liegt darin, daß sie den Imperialismus von innen heraus kritisieren, indem sie, statt Fahnen zu schwenken oder oppositionelle Meinungen zu artikulieren, die Lügen der Herrschenden und die Lebenslügen der Beherrschten beim Wort nehmen. Das tut auch Kafka, dessen Forschungsreisender gegen seinen Willen die Unmenschlichkeit des Strafsystems aufdeckt, das er halbherzig zu reformieren versucht.

Diese Doppelbödigkeit ist ein untrügliches Kennzeichen literarischer Qualität, deren Wahrheit im Aushalten schmerzhafter Widersprüche liegt. So haben neuere Forschungen gezeigt, daß Shakespeares Kaufmann von Venedig mit gleichem Recht als antisemitische Karikatur wie als Anklage gegen den Antisemitismus gelesen werden kann, was ähnlich für die Darstellung des Schwarzen in Othello gilt.14

Joseph Conrad starb auf den Tag genau zwei Monate nach dem 26 Jahre jüngeren Franz Kafka, am 3. August 1924. In einem seiner letzten Briefe verteidigte er die Ambivalenz der Literatur mit dem Hinweis auf »die völlige Bedeutungslosigkeit einer expliziten, eindeutigen Aussage und ihre Eigenschaft, von all dem abzulenken, was wahre Kunst ausmacht«– Worte, die seiner Erzählung als Motto voranstehen könnten.15

Wer will, kann auf jede historisch-geographische Bezugnahme verzichten und Heart of Darkness, ähnlich wie Kafkas Strafkolonie, als metaphysisches Drama lesen oder als theologische Abhandlung, in der es um Schuld und Sühne geht oder um das Ringen zwischen Licht und Finsternis. Solche Lesarten sind legitim, aber sie ignorieren den konkreten Ort, der so wenig austauschbar ist wie Berlin, Dublin oder Danzig im Werk von Döblin, Joyce und Grass. Es gibt einen genius loci der Literatur, und wer die Stromschnellen des Kongo mit eigenen Augen gesehen hat, liest Herz der Finsternis anders als jemand, der das Innere Afrikas nur vom Hörensagen kennt. Ich war zweimal an den Schauplätzen von Joseph Conrads Erzählung: 1986 in Kinshasa, dem früheren Léopoldville, wo Conrad knapp hundert Jahre zuvor am Bau des Bahnhofs beteiligt war, und 1997 bei der »Befreiung« von Kisangani, ehemals Stanleyville, durch Truppen des Rebellenführers Kabila. Damals hieß Kongo noch Zaire und wurde von dem Diktator Mobutu beherrscht, der mit vollem Namen Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu Wa Za Banga hieß – der Leopard, der überall, wo er hintritt, verbrannte Erde hinterläßt. Zum Zeichen seiner Häuptlingswürde trug Mobutu stets eine Mütze aus Leopardenfell und hielt zahme Geparden im Garten seines Palasts. Nach einem Besuch der VR China hatte er den Abacost eingeführt (von französisch: »à bas le costume«– nieder mit dem europäischen Anzug!), eine für die Tropenhitze völlig ungeeignete Parteiuniform, deren Herstellung Monopol von Mobutus Familienclan war. Nach der Landung nahm mich der Protokollchef des Flughafens in Empfang und führte mich an der Paß- und Zollkontrolle vorbei in die Küche des Flughafenrestaurants, wo er mir geschmuggelte Diamanten zum Kauf anbot. Unter einem Transparent mit der Aufschrift Le Beaujolais nouveau est arrivé erwarteten mich in Abacosts gekleidete Funktionäre des Schriftstellerverbands. Sie überreichten mir Giftpfeile und Speere als Willkommensgruß und machten mich mit ihrem Vorgesetzten bekannt, einem Oberst mit Stammesnarben im Gesicht, der im November 1965 die Meldung von Mobutus Machtergreifung im Radio verlesen hatte und seitdem als Medienexperte galt, dem auch die Literatur unterstand. »Das nächste Mal will ich ein Gedicht von Dir hören«, herrschte er bei einem Bankett mir zu Ehren einen zairischen Schriftsteller an, der verschämt eingestand, nur Prosa zu schreiben: »Ist das klar?« Und er drohte ihm scherzhaft mit dem Zeigefinger.

Elf Jahre später, in Kisangani, hatte sich das politische Blatt gewendet, und doch schien alles, wie in Conrads Erzählung, beim Alten geblieben zu sein. Außer Ölsardinen und Zahnpasta gab es auf dem Markt nichts zu kaufen; die Wälder waren leergeschossen, der Fluß, der zu Conrads Zeiten noch von Nilpferden und Krokodilen wimmelte, war ausgefischt, und das einzige, was es zu essen gab, war ein Fisch namens Kapitän, für den der Fischer Schadensersatz von mir verlangte, weil ein Dieb ihm den Kopf gestohlen habe – der Kopf des Kapitäns galt als bestes Stück. Die Plünderungen und Massaker beim Abzug der Regierungstruppen und beim Einrücken der Rebellenarmee, deren Chef Kabila im ehemals belgischen Offizierskasino die Vertreter der Presse empfing, beschreibe ich lieber nicht. Ich hatte das Gefühl, an einem von Gott verlassenen, von Geschichte und Geographie verfluchten Ort zu sein, an dem sich nicht viel geändert hatte, seit Joseph Conrad im September 1890 in Stanley Falls an Land gewatet war: »Auf einer kleinen Insel in der Strommitte schimmerte schwach ein kleines, einsames Licht […] Aber in der Nacht dieser ungeheuren Wildnis stand mir kein schattenhafter Freund zur Seite, kein großartiges, ergreifendes Vermächtnis, sondern nur die nichtswürdige Erinnerung an eine prosaische Zeitungssensation (Stanleys Expedition) und das ekelhafte Wissen um die widerlichste Jagd nach Beute, die je die Geschichte des menschlichen Geistes entstellt hat.«16

Anmerkungen

1

Siehe hierzu Walter Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie« im europäischen Kontext, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1989.

2

Vgl. hierzu den Katalog der »Primitivismus«-Ausstellung im Museum of Modern Art, New York 1984, sowie meine Frankfurter Poetikvorlesung: Die Nähe und die Ferne, Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, S. 113 ff.

3

Ich zitiere hier und im folgenden nach der mustergültig übersetzten, edierten und kommentierten Neuausgabe von Daniel Göske: Joseph Conrad: Herz der Finsternis, Reclam Verlag, Stuttgart 1991, S. 129

4

Walter Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen, op. cit. S. 87

5

Joseph Conrad: Herz der Finsternis, op. cit. S. 23. f.

6

A. a. O. S. 29.

7

Siehe hierzu Adam Hochschild: Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen. Aus dem Amerikanischen von U. Enderwitz, M. Noll und R. Schubert, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000.

8

A. a. O. S. 343. Zu Roger Casement siehe auch: Winfried G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1992.

9

Joseph Conrad, op. cit. S. 103 f.

10

Louis-Ferdinand Céline: Briefe und erste Schriften aus Afrika 1916 – 1917, Deutsch von Katharina Hock, Merlin Verlag, Gifkendorf 1998, S. 36 f., 84

11

Joseph Conrad, a. a. O. S. 62 f.

12

Chinua Achebe: Ein Bild von Afrika. Rassismus in Conrads »Herz der Finsternis«, Alexander Verlag, Berlin 2000, S. 25 ff.

13

Ibid. S. 31. Zur Revision früherer Anschauungen des Autors vgl. den im gleichen Band enthaltenen Essay »Gewidmet Queen Victoria«, S. 100 f., sowie Chinua Achebes Buch: The Trouble With Nigeria, London-Nairobi 1984 (Heinemann), passim.

14

Vgl. hierzu Oliver Lubrich: Shakespeares Selbstdekonstruktion, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001, insbes. das Kapitel über Antisemitismus und Stigmabewältigung im »Merchant of Venice«, S. 98 ff.

15

Joseph Conrad, op. cit. S. 143.

16

Ibid. S. 151 ff. Vgl. hierzu das in Kisangani spielende Kapitel meines Romans: Kain und Abel in Afrika, Verlag Volk & Welt, Berlin 2001, S. 150 ff.

Monrovia, mon amour

»Letzte Dose Keks, letzte Büchse Milch, letztes Stück Brot«, schrieb der junge Graham Greene 1935 in sein Tagebuch, als er im liberianischen Regenwald, von Fieberkrämpfen geschüttelt, in seinem Zelt darniederlag: »Letzte Nacht habe ich eine Entdeckung gemacht. Ich habe entdeckt, wie sehr ich am Leben hänge. Vorher hatte ich geglaubt, der Tod sei wünschenswert.«

Die Konfrontation mit dem eigenen Tod, die der Autor in seinem frühen Roman Journey without Maps geschildert hat, gehört heute zum Alltag Liberias, ebenso wie Hunger, Schwarzwasserfieber und Malaria, zu denen sich in der von Rebellen belagerten Hauptstadt noch die Cholera gesellt. Aber anders als bei Graham Greene geht es nicht um eine Mutprobe oder um ein selbstauferlegtes Martyrium: Liberias Bevölkerung hat ihr Schicksal nicht selbst gewählt, sie ist Opfer eines seit Jahrzehnten andauernden Bürgerkriegs, der zum Stammeskrieg degeneriert ist und unvorstellbar bestialische Formen angenommen hat. »Why not«, sagte mir ein Kindersoldat auf den Straßen Monrovias auf meine Frage, warum er seine afrikanischen Brüder und Schwestern abschlachte – warum eigentlich nicht? Das war 1996, bei meinem zweiten Aufenthalt in Liberia, und schon damals hatte der Krieg meine Prognose, er werde nicht durch Sieg oder Niederlage enden, sondern durch Blutverlust und allgemeine Erschöpfung, als frommen Wunsch entlarvt. Liberia gleicht einer nach unten offenen Richterskala, einem schwarzen Loch, das ganz Westafrika in seinem Sog zu verschlingen droht, aus dem es für die einheimische Bevölkerung, anders als für den Tropenreisenden Graham Greene, kein Entkommen gibt. Die Nachbarländer nehmen keine liberianischen Flüchtlinge mehr auf, nachdem der Krieg das angrenzende Sierra Leone verwüstet und die Elfenbeinküste destabilisiert hat, die durch französische Truppenpräsenz vor dem Zerfall geschützt zu sein schien. Und die aus Westafrika entsandten Friedenstruppen gossen Öl ins Feuer: Anstatt die Kampfhähne voneinander zu trennen, nahmen sie selbst an Plünderungen und Ausschreitungen teil. Allen voran die Nigerianer, die Container voll Raubgut – Kühlschränke, Fernseher, Autos und Motorräder – in ihre Schiffe luden. Zwar stehen die Soldaten aus Ghana in besserem Ruf, aber das Kürzel der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecomog wurde in Monrovia zum Synonym für »Every car and moveable object gone« (jedes Auto und bewegliche Objekt weg), so wie der liberianische Volksmund die selbsternannten freedom fighters als freedom killers bezeichnet: Ob diese auf Seiten von Charles Taylors NPFL (National Patriotic Front of Liberia) kämpfen oder in der Rebellenbewegung LURD (Liberians United for Reconciliation and Democracy), spielt keine Rolle; die Namen sind ebenso austauschbar wie die politischen Programme, weil das Plündern und Morden zum Selbstzweck geworden ist und der Krieg sich durch die illegale Ausfuhr von Diamanten und Tropenholz selbst finanziert.

Das liberianische Modell ist exportfähig, denn in Westafrika herrscht kein Mangel an Kindern, die nach Ermordung ihrer Eltern zwangsrekrutiert, sexuell versklavt oder unter Drogen gesetzt werden, um als Kanonenfutter verheizt zu werden, und das Schüren von Stammesrivalitäten ist für skrupellose Demagogen ein Kinderspiel. Das Ergebnis spricht für sich: Schon 1996 waren 150 000 von 2,5 Millionen Liberianern ermordet und 300 000 auf der Flucht; seither dürfte die Zahl sich verdoppelt haben.

Die Ironie der Geschichte ist, daß Liberia, ähnlich wie das benachbarte Sierra Leone, lange als Hort der Stabilität im postkolonialen Afrika galt. Beide Staaten waren nie Kolonien, sondern sind Ergebnisse eines bevölkerungspolitischen Experiments, das in lauterster Absicht unternommen wurde. Im frühen 19. Jahrhundert kauften Gegner des Sklavenhandels, Philanthropen aus England und den USA, afrikanische Sklaven frei und transportierten sie auf Schiffen in ihre mutmaßliche Heimat zurück. Dort tauschten sie Tabak und Branntwein, Schießpulver und Textilien gegen Land, auf dem sich die Rückwanderer niederließen. Was dann geschah, paßt weniger zu dem idyllisch geschönten Afrika-Bild, das die Fernsehserie Roots (und Alex Haleys gleichnamiger Roman) gezeichnet hat, als in ein marxistisches Lehrstück des jungen Brecht. Die ehemaligen Sklaven bildeten eine neue Oberschicht, die im Namen des Christentums die ortsansässige Bevölkerung unterjochte und als Sklaven verkaufte – nach Abschaffung des Sklavenhandels ein doppelt lukratives Geschäft. Anders als weiße Kolonialherren hatten die sogenannten Americo-Liberianer kein schlechtes Gewissen dabei, ihren afrikanischen Brüdern auf diesem Weg die Werte der Zivilisation zu vermitteln. Der politische Kitt, der die Einwanderer zusammenhielt und von den Einheimischen abgrenzte, war die True Whig (= We hope in God) Partei, deren Hauptquartier, ein Freimaurertempel im Zentrum Monrovias, seit der Ermordung des demokratisch gewählten Präsidenten Tolbert als öffentliche Toilette dient. 1980 ergriff der Stabsfeldwebel Samuel Doe in einem blutigen Putsch die Macht, nachdem er Tolbert und dessen Familie im Bett zerstückelt hatte, und besetzte alle Schlüsselpositionen in Regierung und Armee mit Angehörigen seiner Volksgruppe, der Krahn. Die Machtergreifung einer ethnischen Minderheit öffnete dem Tribalismus Tür und Tor und brachte Liberias wackeliges Staatsgefüge zum Einsturz, während die frühere Armee sich im Kampf gegen bewaffnete Rebellen zur Stammesmiliz zurückverwandelte. Im Herbst 1990 ging der Putschoffizier Samuel Doe seinen Gegnern in die Falle und wurde vor laufenden Fernsehkameras langsam zu Tode gequält. Bei meinem ersten Liberia-Besuch war die Videokassette mit der Folterung des Staatschefs ein Bestseller in Monrovia: Die Szene, in der seine Peiniger Doe zwingen, seine abgeschnittenen Ohren zu essen, wurde von den Zuschauern mit Beifall und Gelächter quittiert.

Damals dachte ich, es könne nicht schlimmer kommen, aber die Karriere von Charles Taylor, dessen Soldaten abgehackte Köpfe auf die Straße legten, um Autos zum Halten zu veranlassen, hat mich eines Besseren belehrt. Zuvor hatte Taylor sich mit den Einnahmen des von ihm geleiteten Beschaffungsamts (General Services Agency) ins Ausland abgesetzt und war nach der Flucht aus einem US-Gefängnis als Warlord nach Liberia zurückgekehrt. Jetzt steht er selbst vor dem Aus, und die Greueltaten der LURD stehen denen der NPFL um nichts nach: Abgeschnittene Köpfe werden, zu makabren Stilleben gruppiert, vor TV-Kameras zur Schau gestellt.

600 Menschen, die den Kämpfen um Monrovia in nur einer Woche zum Opfer fielen – die Zahl der Verwundeten geht in die Tausende – hätten gerettet werden können, wenn George W. Bush sein in Südafrika gegebenes Versprechen wahrgemacht und US-Marines nach Monrovia geschickt hätte. Bushs Zögern war durch das Trauma von Mogadischu motiviert, wo tote GI‘s im Triumphzug durch die Straßen geschleift wurden, obwohl eine Wiederholung nicht zu befürchten stand. Liberia ist nicht Somalia; alle Bürgerkriegsparteien sympathisieren hierzulande mit den USA, deren Intervention die Kämpfe schlagartig zum Erliegen gebracht hätte, denn anders als in Irak oder Afghanistan haben schlecht bewaffnete Kindersoldaten keine Chance gegen eine professionelle Armee. Außer dem Abschlachten wehrloser Zivilisten haben die freedomkillers nichts gelernt, und Liberias Volksmund zufolge ist das einzige Ziel, das sie treffen, das Meer. Es gibt einen Präzedenzfall, der allzu schnell vergessen wird: Ich war selbst vor Ort, als die US-Navy im April 1996 alle dort verbliebenen Ausländer aus Monrovia evakuierte und durch ihre bloße Präsenz, ohne einen Schuß abzufeuern, der Bevölkerung eine Atempause verschaffte. »Das Leiden der Menschen hier geht uns sehr nah«, sagte mir damals Colonel Forbush, der Kommandeur der Marines, »aber wir haben kein Mandat, in die Kämpfe einzugreifen, obwohl wir militärisch dazu in der Lage sind. Dies ist eine politische Entscheidung, die Washington treffen muß!«

Auch wenn das sogenannte nation building in Liberia mit Fragezeichen zu versehen ist: Die Rettung von Menschenleben sollte Vorrang haben vor allen anderen Überlegungen, und dies umso mehr in einem Staat, dessen Hauptstadt den Namen des amerikanischen Präsident Monroe trägt. George W. Bushs Entschuldigung für das historische Verbrechen der Sklaverei ist nichts wert, wenn seinen Worten keine Taten folgen.

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22 aralık 2023
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9783866743441
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