Kitabı oku: «Halbierte Wirklichkeit», sayfa 2
2. Wissenschaft und Lebenswelt
Zusammenfassung
Wir kennen zwei Versionen der Wirklichkeit, nämlich aus den korrespondierenden Quellen von Wissenschaft und Lebenswelt. Die Lebenswelt ist zunächst einmal soziale Welt, charakterisiert durch Sinnperspektiven, durch ein System von Zielen, Werten und Zwecken, die meist normativ geregelt sind. Die wissenschaftliche Version der Welt arbeitet mit neutralen Kausalitätsrelationen, näherhin bestimmt durch die Naturgesetze und durch regellose Zufälle. Hält man die wissenschaftliche Version der Welt für die Eigentliche, dann degeneriert die Lebenswelt zum Oberflächenphänomen, sie wird zum wesenlosen Dampf auf dem Gewässer des Realen und ist dann nichts Eigenständiges oder Substanzielles mehr. Vertritt man diese Position, dann sind materialistische Schlussfolgerungen unausweichlich. Dagegen soll in diesem Kapitel gezeigt werden, dass sich Wissenschaft und Lebenswelt wie die beiden Brennpunkte einer Ellipse verhalten, die diese Figur allererst aufspannen. Es gibt jedoch auch die gegenteilige pragmatische Auffassung von Wissenschaft als einer unselbständigen Fortsetzung von lebensweltlicher Praxis. In beiden Fällen schrumpft die Ellipse unseres Weltverständnisses zum Kreis, der sich ewig nur um sich selbst dreht.
Es hängt fast alles davon ab, wie wir das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt fassen, wie sich in diesem Buch an zahllosen Beispielen zeigen wird. Viele glauben, dass unsere praktisch bestimmte Lebenswelt nur ein Oberflächenphänomen sei, wohingegen uns die Wissenschaft darüber aufklärt, was es damit wirklich auf sich hat. Wenn man es so sieht, dann wären z. B. die Farben, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, nichts als elektromagnetische Wellen einer bestimmten Frequenz, die wir in Nanometern messen und berechnen können. Diese wissenschaftliche Behandlung der Farben hat in technologischer Hinsicht große Vorteile, aber es geht dabei etwas verloren, nämlich die Erlebnisqualität, die mit solchen Farben verbunden ist. Der Klagegesang des Blues bezieht sich nicht umsonst auf eine bestimmte Farbe und unsere roten Ampeln sind deshalb ein Warnsignal, weil sie uns an das fließende Blut als an etwas Gefährliches erinnern. Unsere lebensweltlichen Erfahrungen sind also qualitativ bestimmt, emotional getönt, lebensdienlich oder abträglich, niemals aber neutral. Sie erschließen sich erst in der Perspektive des Betroffenseins.
Beschränken wir uns hingegen auf die Beobachterperspektive, also die der Naturwissenschaft, dann hat dies eine radikale Ausdünnung unseres Weltbezugs zur Folge, denn die Naturwissenschaft kennt keine intrinsischen Werte, die den Dingen als solchen zukommen. So würde z. B. kein Physiker Licht als wertvoller ansehen als Schwerkraft (was übrigens sowohl die antiken als auch die romantischen Naturphilosophen getan haben). Auch wird ein Biologe nicht behaupten wollen, ein Eichhörnchen sei wertvoller als ein Wurm oder dieser als ein Bakterium. Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ist ein Eichhörnchen anders als ein Wurm oder ein Bakterium und das ist alles, was dazu gesagt werden kann. Es sind aber nicht nur die Werte und Erlebnisqualitäten, die in einem rein naturwissenschaftlichen Weltbild aus dem Blick geraten, auch Ziele und Zwecke ignoriert Naturwissenschaft, denn sie ist vom Prinzip her ateleologisch. Warum blendet die Naturwissenschaft Werte, Ziele, Zwecke und Erlebnisqualitäten aus, die doch für unser praktisches Leben so entscheidend sind?
Über Werte kann man streiten, über Messwerte nicht. Ob Liebe das höchste moralische Prinzip oder vielleicht gar keins ist (wie Kant annahm), darüber werden die Meinungen immer auseinander gehen, aber dass die Luft in diesem Raum 23 Grad Celsius oder ihr Druck 1010 Millibar beträgt, das lässt sich eindeutig bestimmen, darüber muss nicht gestritten werden. Das Spezifikum der Naturwissenschaft ist also die intersubjektive Überprüfbarkeit der Ergebnisse. Werte und Gefühle sind viel zu subjektiv, um als solche in die Naturwissenschaft einzugehen. Hinzu kommt, dass die Betroffenenperspektive individuell und geschichtlich geprägt ist, womit wir vom Standpunkt der Naturwissenschaft nichts anfangen können, weil wir dort allgemeine Gesetze suchen, im Verhältnis zu denen das Individuelle nur einen gleichgültigen Einzelfall darstellt. Andererseits hat man niemals historische Gesetzmäßigkeiten finden können, die irgend dem vergleichbar wären, was die Physiker Jahr für Jahr herausbringen. Wer also an klar überprüfbaren Gesetzmäßigkeiten interessiert ist, der wird das Subjektive, Individuelle, Historische, also die Betroffenenperspektive insgesamt, ausblenden.
Natürlich verfolgt auch der Wissenschaftler Ziele. Er ist eben immer auch eine historisch bedingte Person. All dies sollte nicht auf seine Ergebnisse abfärben und wenn er das Ziel der Wahrheit verfolgt, dann repräsentiert zwar die Wahrheit einen Wert für ihn, aber erstens können wir uns über diese Ausrichtung auf Wahrheit hin intersubjektiv verständigen und zweitens betrifft dieser Wert der Wahrheit nur das forschende Subjekt und die von ihm aufgestellten Theorien, niemals aber die von ihm untersuchten Objekte. Unsere Theorien mögen wahr oder falsch sein. Ein Atom oder ein Gen ist niemals wahr oder falsch. Und so gibt es auch keine falschen Hirsche oder Karnickel. In der alltäglichen Rede unterscheiden wir zwar echte von den unechten Schlüsselblumen, aber der Biologe kann damit nichts anfangen. Wir werden später auf Redeweisen wie „Er ist ein wahrer Freund“ oder „Er ist ein wahrer Künstler“ zurückkommen. So etwas hat man früher einmal ontologische Wahrheit genannt, im Gegensatz zu bloßer Satzwahrheit. Es gibt zwar Gründe, sich in der Wissenschaft ausschließlich auf Satzwahrheiten zu beschränken, aber wir werden im Hegelkapitel sehen, dass der Begriff der ontologischen Wahrheit unverzichtbar ist, wenn er auch in den meisten Philosophiebüchern nicht mehr vorkommt. Unverträglich mit dem Objektivitätsideal der Naturwissenschaft ist nicht nur die Subjektabhängigkeit der Werte, sondern alles, was wir aus der Betroffenenperspektive formulieren. Der Wissenschaftler wird jedoch immer die objektivierend distanzierte Dritte-Person-Perspektive einnehmen, d. h. die Beobachterperspektive. Daher ist es für die Wissenschaft gleichgültig, ob mich das Objekt meiner Wissenschaft anekelt oder entzückt. Eklige Spinnen sind für den Biologen nicht weniger interessant als drollige Pandabären, giftige Brennnesseln nicht weniger als unschuldige Lilien.
Natürlich kann man nicht bestreiten, dass wir auch in unserer Lebenswelt häufig die Beobachterperspektive einnehmen. Tatsächlich springen wir in unserer praktischen Existenz ständig von der Betroffenen- in die Beobachterperspektive und zurück. Aber eben dies, dass wir springen, macht die Differenz zur Grundeinstellung des Wissenschaftlers aus. Ob ihn der Gegenstand seiner Forschung persönlich betrifft, hat für die Formulierung seiner Theorie keine Bedeutung. Das heißt z. B.: wenn ein Molekularbiologe von der Ausdünnung der genetischen Vielfalt durch den Artenschwund moralisch betroffen ist, so wird er deshalb keine bessere Biologie treiben als sein Kollege, dem das ganz gleichgültig ist. Wir können die Dignität wissenschaftlicher Entdeckungen nicht am moralischen Zustand der Akteure bemessen und wenn die Marxisten die Qualität einer wissenschaftlichen Theorie am proletarischen Bewusstsein ihrer Produzenten maßen, dann lagen sie durchaus verkehrt. Auch ein Teufel wäre imstande, die Fakten zutreffend zu beschreiben.
Freilich könnte es durchaus sein, dass auch Betroffenheit uns Realität erschließt, wenn auch nicht in derselben Hinsicht wie aus der Perspektive des distanzierten Beobachters. Der Physiker Werner Heisenberg sagt: „Der Schimmer der Farben, die ohne jede Trübung von ihren Blüten leuchten, ein Windhauch, der den Duft der Rose zu uns herüberträgt, berührt das Innerste unserer Seele. Das ist wohl ein objektiver Tatbestand, so wie irgendein Tatbestand der Naturwissenschaft.“7 Das Bemerkenswerte an diesem Zitat ist, dass es von einem Physiker stammt. Er hält also die Betroffenenperspektive für ebenso wichtig wie die Beobachterperspektive. Das hier Gesagte darf deshalb nicht so missverstanden werden, als würden wir behaupten, dass ein Naturwissenschaftler nicht zugleich betroffen sein könnte. Nur: Er ist es nicht als Naturwissenschaftler, sondern als Mensch. Auch er springt hin und her, aber nicht im Labor, sondern erst wenn er sich wieder zu Hause befindet.
Wir müssen also damit rechnen, dass die Naturwissenschaft qua Naturwissenschaft ihre Objektivierungsleistungen und ihren Präzisionsgewinn gegenüber unseren lebensweltlichen Überzeugungen mit einer Ausdünnung des Seinsbegriffs bezahlt. In der präzisesten Wissenschaft, die wir kennen, in der Quantenfeldtheorie, führt dies dazu, dass die klügsten Forscher keine allgemein akzeptierte Ontologie mehr entwickeln können. Sie können alles berechnen, aber sie wissen nicht mehr, was sie da berechnen. Präzision und ontologische Relevanz weisen offenbar in die entgegengesetzte Richtung.
Dies führt zu einer unübersichtlichen Lage. Manche Pragmatisten behaupten daher, die Lebenswelt sei die eigentliche Welt und die Wissenschaft sei nur eine Abstraktion davon, etwa, um technische Geräte herzustellen. Hier siegt die Lebenswelt über die Wissenschaft. Weiter verbreitet ist die gegenteilige Auffassung, wonach die Wissenschaft die eigentliche Wahrheit enthält und die Lebenswelt nur ein vorläufiger Schein sei. All dies soll nun diskutiert werden, um eine vermittelnde Position zu erarbeiten. Tatsächlich können wir weder auf die Wissenschaft noch auf die Lebenswelt verzichten. Aber ihr Verhältnis ist subtiler als diese Radikallösungen vermuten lassen, die eins aufs andere reduzieren.
Manche, wie etwa der Philosoph Martin Heidegger oder die Pragmatisten, haben versucht, unser Seinsverständnis ganz aus der praktischen Lebenswelt herzuleiten. Heideggers Seinsbegriff macht keinen Gebrauch von der Naturwissenschaft. Diese hat für ihn nur noch instrumentellen Charakter, d. h. sie ist ein nützliches Instrument zur technischen Weltbewältigung, nämlich so, wie die Klauen und Zähne eines Bären oder die Schwingen und der scharfe Schnabel eines Adlers nützliche Instrumente sind, aber keinen Seinsbegriff generieren, sondern es handelt sich um effiziente Instrumente beim erfolgreichen Kampf ums Überleben. Auf diese Weise ist für Heidegger die Naturwissenschaft lediglich ein effizientes Instrumentarium, uns in der Welt erfolgreich durchzusetzen. Diese These wurde auch von den Marxisten und wird heute noch von den Konstruktivisten und Pragmatisten gehalten. Sie müssen behaupten, dass die Ergebnisse der Naturwissenschaft nichts zu unserem Seinsverständnis beitragen, was eklatant falsch ist. Man bedenke nur, welche Revolutionen in unserem Seins- und Selbstverständnis durch den Heliozentrismus, die Darwinsche Evolutionstheorie, die Relativitäts- und Quantentheorie oder auch die Chaostheorie hervorgerufen wurden!
Es scheint also sinnvoller, solche Extreme zu meiden, d. h. eben auch das andere Extrem. Wenn wir nämlich die Lebenswelt auf die Wissenschaft reduzieren, werden wir uns als Handelnde unverständlich. Bei manchen Neurowissenschaftlern hat dies dazu geführt, dass sie unser Ich, unsere Vernunft und Freiheit für eine Illusion halten oder gar glauben, die Abschaffung des traditionellen Menschenbildes werde mit einem Mehr an Humanität verbunden sein – so z. B. der Neurowissenschaftler Wolf Singer.8 Aber welchen Sinn hat das Wort Humanität, wenn es niemanden gibt, der frei ist, sich human zu verhalten oder auch nicht? Umgekehrt scheint es, wie gesagt, nicht sinnvoll, der Naturwissenschaft jede ontologische Relevanz abzusprechen, denn sie trägt ja doch entscheidend zu unserem Seinsverständnis bei. Dass es überhaupt zu solchen Extremen kommt, scheint daran zu liegen, dass die Spannung zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, die ein Sonderfall der Spannung zwischen Theorie und Praxis ist, dass wir also eine derartige Spannung nur schwer aushalten mögen. Menschliches Leben ist durch Gegensätze gekennzeichnet, Sein und Sollen, Tun und Empfangen, Individuum und Gesellschaft, Rationalität und Intuition, Theorie und Praxis, Männer und Frauen, Tiere und Roboter usw., d. h. von Gegensätzen, die selten eine unproblematische Vermittlung erlauben. Aber gerade das Aushalten solcher Spannungen kennzeichnet die Reife menschlicher Existenz, während Ideologien sich dadurch auszeichnen, dass alles mit allem problemlos in Übereinstimmung gebracht wird. Es ist die alte romantische Sehnsucht nach einer Einheit der Welt, nach dem gefühligen Aufgehen im All-Einen, letztlich im Mutterleib, die auch im modernen Materialismus fortlebt, obwohl sich die modernen Materialisten für alles andere als für Romantiker halten. Aber das haben die Marxisten auch geglaubt und doch waren sie Sozialromantiker mit allen zerstörerischen Konsequenzen, die eine solche All-Einheitslehre zur Folge hat.
Wissenschaft und Lebenswelt sauber auseinanderzuhalten und wieder ordentlich aufeinander zu beziehen, ist also fundamental, wenn wir mit beiden zurecht kommen wollen. Der szientifische Materialist hingegen fängt mit der Wissenschaft an, sodass wir auf diesem Niveau sogar entscheidende Aufklärung von ihm erwarten dürfen. Dann aber wird er weltanschaulich, was ihm sein Bedürfnis diktiert. Dieses Bedürfnis, das wir nach Rahner „gnoseologische Konkupiszenz“ nennen, führt ihn dazu, Inhalte der praktisch bestimmten Lebenswelt ad hoc heranzuziehen, metaphysisch zu verallgemeinern, um einen universal-ontologischen Klebstoff herzustellen, der die Phänomene zu einem materiell verstandenen Block zusammenleimt, der dann in der Tat jedes religiöse und metaphysisch anspruchsvollere Weltverhalten ausschließt. Das ist dann aber nicht eine Konsequenz der Wissenschaft als solcher, sondern das Resultat einer willkürlich hergestellten Ideologie, die ihre Plausibilität eher dunklen Ahnungen und gesellschaftlichen Konventionen als einem überprüfbaren Wahrheitsanspruch verdankt.
Aus diesen Gründen sind solche vorgängigen Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt fundamental für die vorliegende Arbeit. In diesem Zusammenhang steht nun der wissenschaftliche Reduktionismus im Zentrum, der Versuch nämlich, unsere praktische Lebenswelt als Oberflächenphänomen tiefer liegender Kausalverhältnisse zu beschreiben. Obwohl das ein sinnloses Unternehmen ist, scheint zunächst einmal viel zu seinen Gunsten zu sprechen und deshalb ist diese Haltung so verbreitet und beliebt und es lassen sich auch zu ihren Gunsten zunächst einmal scheinbar einleuchtende Gründe ins Feld führen:
1) Lebensweltlich-praktisch sind wir davon überzeugt, dass sich die Sonne, der Mond und die Sterne um unsere Erde drehen, die uns als fixiert erscheint, sodass wir im Mittelpunkt stehen. Dies hat man ja in der Tat über Jahrtausende geglaubt, aber es hat sich als falsch erwiesen.
2) Unsere lebensweltliche Erfahrung macht uns glauben, dass ein Körper, der nicht von einer Kraft angetrieben wird, zur Ruhe kommt, aber schon Galilei klärt uns darüber auf, dass es eine Trägheitsbewegung gibt. Newton drückt es so aus: Ein Körper in Bewegung, der nicht von einer Kraft beeinflusst wird, hält seinen Bewegungszustand bei, ohne dass er künstlich angetrieben werden müsste. Wir haben uns also wiederum geirrt.
3) Unsere lebensweltliche Erfahrung macht uns glauben, dass die Realität aus festen materiellen Substanzen besteht, die bleiben, während ihre akzidentellen Bestimmungen wechseln. Z. B. ist mein Auto dasselbe, auch wenn die Karosserie inzwischen verbeult, der Lack stumpf und die Sitze rissig geworden sind.
Die Physik klärt uns hingegen darüber auf, dass fix und fertig erscheinende materielle Substanzen nichts sind als ein Wirbel substratloser Ereignisse, wie sie die Quantentheorie beschreibt. Diese Wissenschaft kennt keine festen Substanzen.
4) Während wir in unserem praktischen Leben davon überzeugt sind, einen stabilen Personkern zu besitzen, mit Vernunft und Freiheit begabt, zeigt die Neurowissenschaft, dass es kein Zentrum im Gehirn gibt, von dem einheitliche Kausalwirkungen ausgehen könnten. Es scheint vielmehr, dass das Ich eine Illusion ist, die das Gehirn erzeugt, vermutlich, weil es unsere Lebenstauglichkeit erhöht.
Man könnte solche Beispiele beliebig vermehren und sie scheinen die Konsequenz nahezulegen, dass Naturwissenschaft der Platzhalter der Wahrheit über unsere Welt ist und dass wir uns von ihr besser beraten lassen sollten, während unsere praktisch-lebensweltlichen Überzeugungen eher wie atavistische Restbestände der Evolution sind, die wir endlich hinter uns lassen sollten. Ein differenzierterer Blick zeigt aber, dass es so einfach nicht ist. Wären nämlich unsere praktischen Überzeugungen alle falsch, dann wäre völlig unverständlich, wie wir überlebt haben konnten. Ein Wesen, das sich in Bezug auf seine praktischen Überzeugungen ständig irrt, stirbt aus. Von daher lassen sich die genannten Beispiele gegen den Strich bürsten und enthalten dann eine ganz andere Lehre, was das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt anbelangt:
1) Für unsere praktische Existenz ist es völlig irrelevant, ob sich die Sonne um die Erde dreht oder anders herum. Deshalb spielt ein Irrtum auf diesem Niveau im Praktischen keine Rolle. Für uns sind z. B. auch die makro- und mikroskopischen Verhältnisse ganz unverständlich oder kontraintuitiv, deshalb sind Relativitäts- und Quantentheorie mit ihren Zeitdilatationen, Längenkontraktionen und verschränkten Systemen so schwer begreiflich. Niemand bestreitet, dass diese Theorien Wahrheit enthalten, aber es ist eine Wahrheit, die unsere praktische Existenz nicht weiter berührt und genau deshalb schadet uns auch ein Irrtum diesbezüglich nicht.
Das heißt: Die Dignität unserer Lebenswelt wird durch solche Entdeckungen in keiner Weise in Frage gestellt, noch sind wir gezwungen, von unseren praktischen Überzeugungen her die Wissenschaft zu kritisieren. Das ist aber bei den folgenden Beispielen anders. Hier haben unsere lebensweltlichen Intuitionen sogar eine ganz eigenständige Bedeutung, die sich im Grenzfall kritisch gegen die Wissenschaft richten darf.
2) Die These, dass ein bewegter Körper, auf den keine Kraft mehr ausgeübt wird, zum Stillstand kommt, ist Teil der Physik des Aristoteles. Man hat sie im Gefolge der Newton’schen Revolution für überholt erklärt, aber im Grunde beschreibt sie unsere Erfahrung zutreffend, denn die zeiträumlichen Bewegungen unserer Lebenswelt sind immer mit Reibung verbunden, so dass ein Körper zum Stillstand kommt, wenn keine Kraft mehr auf ihn wirkt. Gerade die Newtonsche Physik bestätigt unsere lebensweltlichen Intuitionen. Wir haben hier ein Beispiel vor uns, das für unsere praktische Existenz höchst belangvoll ist. Würden wir uns in solchen Zusammenhängen täuschen, dann wäre die These von der Ersetzbarkeit der Lebenswelt durch die Wissenschaft plausibel, aber nur dann.
3) Das substanzielle Denken, das letztlich auf Aristoteles zurückgeht, wurde seit dem Ausgang des Mittelalters als oberflächlich hingestellt. Im 20. Jahrhundert schrieb der Philosoph Ernst Cassirer das Buch „Vom Substanz- zum Funktionsbegriff“, in dem er die These vertrat, das Substanzdenken sei durch die wissenschaftliche Aufklärung überholt und durch den Funktionsbegriff zu ersetzen. Er bezog diese These nicht nur auf den Übergang von der Aristotelischen zur Newton’schen Physik, sondern auf die Kultur als Ganze. Unser gesamtes Denken habe einen Bruch vollzogen, weg vom Substanziellen zum Funktionalen und dies sei ein nicht zu leugnender Fortschritt, ein irreversibler Sprung der Gesamtkultur, hinter den wir nicht zurückfallen dürften.
In der Tat löst sich dem Physiker, je weiter seine Wissenschaft fortschreitet, die materielle Substanz in reines Werden oder in rein relationale Strukturen auf. Der Stoff der Wirklichkeit scheinen jetzt substratlose Ereignisse zu sein, und was wir im Alltag als feste Substanzen wahrnehmen, sind in dieser Sichtweise nichts als Bündel von Ereignissen, die sich zufällig zusammenballen, so wie Wassermoleküle in der Luft, die zufällige Wolkenformationen bilden, ohne dass wir deshalb glauben würden, dass Wolken im eigentlichen Sinne existieren. Sie sind nichts als Moleküle, keine Substanzen eigenen Rechts. Es ist aber fraglich, ob wir die regionale Ontologie der Physik verallgemeinern dürfen, um sie auf den Mesokosmos, geschweige denn auf die gesamte Kultur zu übertragen. Wenn ein Physiker ein Experiment durchführt, betrachtet er sein Messgerät nicht als ein Bündel von Ereignissen, sondern als eine feste Substanz, die er im Lauf seiner Manipulationen wiedererkennt. So ist es auch mit den Substanzen, mit denen wir im Alltag beständig umgehen. Die Bündeltheorie kann nicht erklären, wie wir es fertig bringen, einen Gegenstand, der sich verändert hat, als denselben wiederzuerkennen, denn wenn dieser Gegenstand sich verändert hat, dann müsste nach der Bündeltheorie zumindest ein Ereignis verloren gegangen oder ersetzt worden sein. Aber dann wäre das Bündel nicht mehr dasselbe, denn es ist ja nur als die Summe bestimmter Ereignisse definiert und das hat weiter zur Folge, dass auch der Wissenschaftler sich selbst nicht mehr als identische Person wiederfinden könnte, wenn auch nur ein Haar von seinem Haupte fiele oder eine einzige Hautschuppe sich von ihm abgelöst hätte.
Weil es sich so verhält, haben Philosophen der natürlichen Sprache die alte Aristotelische Substanzontologie reformuliert, also Philosophen von Peter Strawson bis Jonathan Lowe. Sie bestehen darauf, dass unsere Sprache mit ihrem Verständigungspotenzial zusammenbrechen würde, wenn wir auf die Substanzkategorie verzichten würden. Es wäre dann nicht nur so, dass der Physiker sein experimentelles Handeln nicht mehr verstehen könnte, sondern die Kompetenz, sinnvolle Sätze über die Welt zu äußern, würde insgesamt außer Kraft gesetzt und unsere soziale Welt mit ihren Identitätsunterstellungen würde zusammenbrechen.
4) Es gibt in der Tat im Gehirn kein lokalisierbares Aktionszentrum als einen materiell identifizierbaren Ort des Ich, also kein Ich-Modul. Aber warum haben wir das eigentlich erwartet? Gibt es die Zeitmessung in der Uhr? Wenn wir eine mechanische Uhr zerlegen, dann finden wir Zahnräder, Achsen, eine Unruh, eine Feder usw., aber wir finden kein Zentrum, denn Uhren haben kein solches Zentrum. Hindert dies, dass sie dem einheitlichen Zweck der Zeitmessung dienen? Oder können wir die Musikübertragung in den Teilen eines Radios, die Informationsverarbeitung in den elektronischen Bauteilen eines Computers finden oder das Fahren in einem Fahrrad? Niemand würde auf die Idee kommen, sie dort zu suchen. Aber warum erwarten wir dann, ein Ich im Gehirn zu finden? Die suggestive Plausibilität dieses Gedankens rührt daher, dass wir die Wahrheit des Materialismus bereits unterstellt haben. Wenn der Materialismus wahr ist, dann muss sich das Ich im Gehirn finden und wenn es sich dort nicht findet, dann gibt es eben kein Ich. Aber der Neurowissenschaftler sollte die Wahrheit des Materialismus nicht voraussetzen, sondern beweisen, für den Fall, dass seine Wissenschaft der richtige Ort für solche Beweise ist.
Die Materialisten unter den Neurowissenschaftlern, wie z. B. Gerhard Roth oder Wolf Singer, kennen nur die Alternative Materialismus – Substanzendualismus. Der Substanzendualismus setzt eine vom Leib abgetrennte Geistsubstanz voraus. Diese Lehre, die von Plato begründet und von Descartes erneuert wurde, zieht sehr ernste Einwände auf sich. Z. B. spricht unsere gesamte psychophysische Erfahrung dagegen, die Kausalwirkungen in beide Richtungen kennt. Wenn ich zu viel Alkohol getrunken habe, werde ich müde, wenn ich ein optimistischer Mensch bin, stärkt das mein Immunsystem. Solche Wechselwirkungen in beide Richtungen sind auf dem Hintergrund des Substanzendualismus schwer verständlich.
Aber die Alternative dazu ist nicht der materialistische Monismus, weil es noch eine weitere, viel zu wenig beachtete Alternative gibt: Die Seele kann sehr wohl fest mit dem Leib verbunden und dennoch verschieden von ihm sein, denn eine Unterscheidung ist noch keine Trennung! Wenn ich z. B. körperlichen von seelischem Schmerz unterscheide, dann habe ich nicht behauptet, dass beide ganz unabhängig voneinander vorkommen. Ich behaupte nur, dass sie kategorial verschieden sind. Eine solche Auffassung der menschlichen Seele hat Aristoteles vertreten, dieser geniale Theoretiker der Lebenswelt, der auch heute noch lesenswert ist, weil sich nämlich unsere Lebenswelt seit dem Griechentum nicht radikal verändert hat, während unsere wissenschaftlichen Auffassungen ganz andere geworden sind. Man erkennt dies, wenn man solche Bücher liest wie Aristoteles’ Kosmologie oder auch seine Ethik. Aristoteles’ Kosmologie ist uns derart fremd, dass wir Mühe haben zu verstehen, von was er überhaupt redet. Liest man hingegen seine Bücher zur Ethik, dann ist uns prinzipiell alles verstehbar, auch ohne jeden klugen Kommentar.
Wir haben also nach wie vor Veranlassung, die Aristotelische Konzeption einer Vermittlung von Geist und Materie ernst zu nehmen, denn sie bewährt sich seit über 2000 Jahren. Unsere lebensweltliche Erfahrung widerspricht auch heute noch sowohl dem Substanzendualismus als auch dem Materialismus. Niemand erfährt sich als aufgespalten in eine geistige und in eine davon unabhängige materielle Substanz, noch nehmen wir uns als einen materiellen Klotz wahr, der fiktive Geisteswolken verströmt. Vielmehr sind wir eine psychosomatische Einheit mit zwei Aspekten. Diese fundamentale Einheit in Verschiedenheit wird auch das Modell sein, das einer Alternative zugrunde liegen wird, die wir dann im achten Kapitel vorstellen. Diese Alternative, dass nämlich Geist und Materie sowohl ungeschieden als auch ungetrennt sind, ließe sich auch an den einfachen technischen Beispielen verdeutlichen, die oben erwähnt wurden. Nach Aristoteles haben auch technische Artefakte eine Form, also etwas Geistiges in sich, einfach deshalb, weil der Ingenieur bei ihrer Herstellung einen Zweck verfolgte. Zeitmessung, Musikübertragung, Informationsverarbeitung sind Zwecke, deren Verwirklichung der Ingenieur durch die spezifische Vernetzung der materiellen Teile realisiert. Da es sich bei diesen Zwecken um Ideen handelt, kommen sie weder in der Materie als gesonderte Einzelteile vor, noch existieren sie außerhalb. Sie sind ihre Form. Das Geistige ist kein Was, sondern ein Wodurch. Wir haben eine fatale Neigung, den Geist als ein Ding hinter den Dingen zu suchen, so wie Klopfgeister, die in einem verwunschenen Schloss nächstens spuken und wenn wir Gründe haben, solche Klopfgeister für Hirngespinste zu halten, dann schließen wir voreilig auf die Wahrheit des Materialismus. Aber der Geist ist kein Ding hinter den Dingen, sondern die Art der Dinge zu sein. Man sollte also verschiedene Seinsweisen zulassen. Ein Mensch ist auf eine andere Weise als ein Stein oder ein Tier und unsere Weltauffassung sollte daher pluralistisch und nicht einfach nur monistisch sein. Die Vielheit der Formen ist nicht wie eine Knetmasse, aus der das Kind spielerisch Gestalten erzeugt, um sie wieder zu zerstören, wobei die Knetmasse stets erhalten bleibt als eine allem zugrunde liegende Substanz. Die Identität der Dinge liegt nicht in ihrer Materie, sondern in ihrer Form und diese Formen liegen auf verschiedenem Niveau.
Nun aber zurück zu den Beispielen: So wie Newton im praktischen Leben (gegen seine eigene Theorie!) annehmen musste, dass ein sich bewegender Körper ständig angetrieben werden muss, soll er nicht zum Stillstand kommen, so wie der Quantenphysiker vom substanziellen Charakter seiner Messinstrumente (oder seiner eigenen Person und seiner Kollegen) überzeugt ist, so unterstellt auch der Neurowissenschaftler in seiner praktischen Existenz Personalität, Vernunft und Freiheit bei sich selbst und auch bei allen Menschen, mit denen er verkehrt. Ohne diese Unterstellungen würde jede soziale Übereinkunft zerstört. Wir haben keine Vorstellung davon, wie ein Leben ohne solche fundamentale Unterstellungen funktionieren würde und wir haben auch keine Kunde von einer Epoche der Menschheit, wo es Derartiges noch nicht gegeben hat. Obwohl sich unsere Vorstellungen, was das Ich sei, welche Verhaltensweisen vernünftig oder moralisch sind, epochal und lokal gravierend verändern, bleibt doch ihr Dass erhalten. Dass wir Verantwortungssubjekte sind, kann füglich nicht bezweifelt werden. Doch was folgt aus all dem für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Lebenswelt?
Es folgt a), dass beide wie die unabhängigen Brennpunkte einer Ellipse sind, die diese Figur erst aufspannen und ermöglichen. Es folgt b), dass wir sowohl das in die Alltagssprache als auch die Wissenschaft eingebaute Wirklichkeitsverständnis ganz ernst nehmen sollten. Aber dann ergibt sich sofort ein Problem: Was, wenn sich diese Wirklichkeitsverständnisse ernstlich widersprechen oder wenn ihr Zusammenhang nicht ersichtlich ist? Wir leben ja doch in einer Welt und das Wort Realität existiert ernstlich nicht im Plural, so wie es keine verschiedenen Universen gibt, sondern nur das eine Universum, in dem wir leben. Für dieses drängende Problem einer Einheit der Realität gibt es womöglich keine glatte Lösung, aber vielleicht eine pragmatische Strategie des Umgangs: Wir können es uns nämlich eher leisten auf eine bestimmte wissenschaftliche Doktrin zu verzichten als auf unsere grundlegenden praktischen Intuitionen, vor allem, weil es sich bei diesen Doktrinen oft nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse als solche handelt, sondern um deren weltanschauliche Interpretation. Was würde sich denn an Singers oder an Roths Wissenschaft ändern, wenn sie das materialistische Vorurteil aufgäben, das Ich sei im Gehirn lokalisiert? Müssten sie dann auf irgendeines ihrer Experimente verzichten oder würde sich dann nicht einfach nur der Geltungsanspruch ihrer Theorien verändern, sie selbst aber nicht?