Kitabı oku: «Wir hatten mal ein Kind», sayfa 8
Aber kein Adi Dittmann kam. Dafür aber hörte er hinter sich den Hufschlag eines Pferdes. Erst schielte er argwöhnisch, vielleicht waren ihm ›die Feinde schon auf der Spur‹. Dann aber sah er, daß es ein gewöhnlicher Einspänner war. Als er den Fahrer erkannte, war es der Fleischer Frehle aus Dreege, der vor ein paar Wochen die Blanka bekommen hatte. Der Fleischer war schon halb an dem Jungen vorbei, als er einen Blick zur Seite tat. Er parierte das Pferd. Bist du nicht einer von den Gäntschows Jungen? Willst du nach Dreege? Spring auf. Es ist heute frisch.
Der Junge kletterte auf den Karren.
Da, nimm den Pferde-Woilach um. Es pustet heute tüchtig. Der Bodden ist schon ganz zugefroren.
Liegen Dampfer unten?
Nein, keiner, nur der Blücher.
Der Blücher ist doch auch ein Dampfer, ein Raddampfer sogar, widersprach Johannes.
Der Blücher ist doch kein Dampfer, sagte der Fleischer. Der Blücher ist doch ein Malheur.
Und nun lachten sie beide, denn der Blücher war so alt und betagt, daß er für eine Fahrt nach Stralsund, die ein anderer Dampfer in drei Stunden fuhr, neun brauchte. Wenn er überhaupt hinkam.
Bist du nicht der Gäntschow, der beim alten Marder jetzt Unterricht hat? fragte der Fleischer.
Ja, sagte Hannes unwillig, denn jetzt mußte ja unbedingt die Frage kommen, warum er denn nicht im Unterricht, sondern auf der Landstraße sei.
Vielleicht aber interessierte sich der Fleischer nicht so sehr für die Zeiteinteilung des jungen Gäntschow. Ist das wahr, fragte er, daß du mit der Gräfin zusammen Schule hast?
Das ist doch keine Gräfin, äffte ihm Johannes nach, das ist doch eine Freiin.
Wieso, sagte der Fleischer, aus allen Himmeln gefallen, ließ die Peitsche sinken und starrte den Jungen groß an. Wenn's die Tochter von einem Grafen ist, ist es 'ne Gräfin, und wenn's die Tochter von 'nem Freiherrn ist, ist's 'ne Freiin.
Sie hat mir aber selbst gesagt, daß sie 'ne Freiin ist.
I du Donner, dann ist er vielleicht gar nicht Graf? Dann ist er bloß Freiherr?! Er überlegte. Oder ist Freiherr mehr als Graf?
Viel mehr, sagte Johannes aufs Geratewohl. Manche sagen auch Baronesse zu ihr.
Dann wäre er wieder Baron? Nee, auf den Holzrechnungen steht aber Gräflich Fiddesche Forstverwaltung. Er sah Johannes bekümmert mit seinen kleinen, eiligen Augen über den feisten, blaurot gefrorenen Backen an. Na, du weißt wohl auch noch nicht so damit Bescheid, daß du mir das Zeugs richtig erklären kannst. Wie sagst du denn zu ihr?
Ich sage Christiane.
Christiane? Einfach Christiane? I du Donner! Ja, ich habe es schon gehört, du bist mit ihr im Schlitten gefahren. Die Leute haben was gestaunt.
So, sagte Johannes mürrisch.
Ja, ja, nickte der Fleischer, wo viel Wolle ist, ziehen sich die Motten hin. Paß nur auf, daß du nicht zu hochnäsig wirst.
Was sagen denn die Leute, fragte Johannes nun doch.
Ach, das sind doch alles bloß Neidhammel, sagte der Fleischer verächtlich. Solche Bauern, die nicht von ihrem Mist runterkommen. – Na, wenn du zum Hafen willst, mußt du jetzt absteigen. Ich fahr' hier links.
Schön, sagte Johannes und schlitterte langsam und gedankenvoll zum Hafen hinunter. Der erste Mensch, den er dort traf, war sein Bruder Max. Und der zweite sein Vater. Sie verluden Roggen in einen Kahn.
Was machst du denn hier, Hannes?
Hab' was zu bestellen für Herrn Superdenten, sagte Hannes streng, ging eilig weiter, um das Bollwerk herum, auf den Blücher zu, über die Laufplanke. Ein Maschinist, Putzwolle in der Hand, hielt ihn an.
Junge, wo willst du denn hin?
Wo is'n der Käpten?
Zu Hause.
Wo zu Hause?
Auf'm Lande.
Wo auf'm Lande?
Bei Stralsund.
Wo bei Stralsund?
In Triebkendorf, aber ...
Wie weit is es denn von Stralsund bis Triebkendorf?
Drei Stunden zu laufen, aber ...
Hat denn Triebkendorf auch'n Hafen?
'n Hafen? Wo soll denn da das Wasser für herkommen?
Also kein Hafen?
Nein.
Warum sagen Sie mir das nicht?
Ich hab's doch gesagt!
Na, denn ist's ja gut. Guten Morgen.
Und Johannes ging gravitätisch über die Laufplanke wieder ans Ufer.
Hallo, rief der Maschinist hinter ihm.
Hallo, rief Johannes und drehte sich um.
Was hast' denn eigentlich gewollt?
Das hab' ich dir doch gesagt.
Nee, das hast du mir nicht gesagt.
Na, denn ist's ja gut. Guten Morgen. Und Johannes ging entschlossen weiter.
Hallo, schrie es hinter ihm. Der Maschinist, seinen Wisch schmutzige Putzwolle immer noch in der Hand, war über den Laufsteg an Land gekommen.
Hallo, rief Johannes und blieb in zwölf Schritten Abstand stehen.
Was haste gewollt, sollst du sagen, schrie der Maschinist wütend.
Düsige Schmierjacke, schrie Johannes zurück. Ätsch! und rannte los, daß die Beine flogen.
Eine Stunde später betrat ein sehr fideler, aufgeräumter Johannes die superintendentliche Arbeitsstube, wo der Geistliche noch immer von seiner Schülerin zu erfahren suchte, was eigentlich mit dem Johannes, mit ihr, mit ihnen beiden los sei.
Tag, Herr Superdent. Vater hat gesagt, ich soll doch was lernen. Entschuldigen Sie man. Tag, Tia. Sag mal, wie kommt das, daß dein Vater Graf ist und du bist Freiin? Ist denn dein Vater auch Freiherr?
Johannes, rief der Geistliche, wo kommst du her?
Von Vater.
Johannes! Dein Vater ist heute um halb neun hier vorbei gefahren.
Nach Dreege, Roggen in den Kahn verladen, da war ich auch. Stimmt alles, Herr Superdent.
Der Superintendent seufzte. Also jedenfalls scheinst du dagewesen zu sein. Und warum bist du an meinem Spalier runtergeklettert?
Darf ich das nicht, Herr Superdent? Wir haben zu Haus auch ein Spalier. Da klettern wir immer in die Giebelstube rauf. Vater sagt nichts.
Ich glaube, sagte der Geistliche, du spielst augenblicklich ein bißchen Theater, mein Sohn. Da aber deine Mitschülerin Christiane auch etwas geheimnisvoll ist, will ich euch fünf Minuten einander überlassen und hoffe, daß dann ohne alle Geheimnisse weitergearbeitet wird. Jetzt will ich nur mal schnell ...
Also, wie ist es mit der Freiin? fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Warum bist du denn wiedergekommen?
Ich weiß auch nicht, sagte er plötzlich in ganz anderm Ton. Ich habe erst einen und dann noch einen verklapst, und da war ich so guter Laune, daß ich nicht mehr wütend sein konnte. Außerdem hast du wirklich an nichts Schuld.
Sie schüttelte wieder den Kopf. Das mag ich aber gar nicht. Wenn du immer erst ein paar verklapsen mußt, um zu sehen, daß du unrecht hast. Das will ich nicht.
Ich bin doch nun mal so, und Vater ist auch so, und Großvater war auch so. Alle waren überhaupt so. Da kann man gar nichts machen, Tia.
Da kann man viel bei machen, sagte sie streng.
Bist du schon mal oben auf dem Leuchtturm gewesen? fragte er. Hundertdrei Meter ist der hoch. Ich hab' gehört, man kriegt fünfzig Mark von dem verrückten Maler in Fabiansruh, wenn man den Blitzableiter runterklettert. Fünfzig Mark wären fein.
Das möchtest du wohl tun? Und dir alle Knochen dabei zerbrechen!
Ich brech' mir doch nicht die Knochen. Ich mach' die Augen zu und rutsche einfach runter.
Wegen lumpiger fünfzig Mark?
Fünfzig Mark sind doch nicht lumpig, na weißt du! Fünfzig Mark, sagte er eifrig, weil er einen Gedanken hatte, das ist ein ganzer Morgen Roggen. Denk mal: schälen, eggen, pflügen, wieder eggen, säen, im Frühjahr noch mal eggen, mähen, binden, puppen, dreschen, sacken, auf den Boden bringen, wieder sacken, verladen, alles für fünfzig Mark. Das ist eine Masse Arbeit. Du könntest sie nicht tun – für das lumpige Geld.
Aber für den Roggen ist es gutes Geld, und für den Blitzableiter ist es schlechtes Geld.
Ach nee, sagte er ganz erstaunt. Gibt es gutes Geld und schlechtes Geld?
Jawohl gibt es das, sagte sie sehr böse. Wenn man stiehlt, ist es auch schlechtes Geld.
Aber Blitzableiter und Stehlen ist ein riesiger Unterschied.
Das ist genau so, wie wenn man fröhlich dadurch wird, daß man Leute veräppelt, rief sie und brach in Tränen aus.
So fand sie, wieder ganz ratlos, der Superintendent.
Ja, sie waren beide so verschieden, jedes war ganz anders ausgewachsen wie das andere, in fast nichts waren sie einer Meinung. Er haßte Heulen – und doch waren es diese ihre Tränen, die für lange Zeit alle Spannungen zwischen ihnen lösten. Irgendwie begriff dieser Bengel, dieser ewige Stacheligel, daß er ihr ernstlich weh getan hatte – und warum sollte er das eigentlich? Er hätte kein Tier sinnlos geschlagen – bloß weil sie eine Freiin Fidde war? Aber, wie gleichgültig ihm das war! Was gingen ihn die alten Geschichten an. Außerdem hatte sein Großvater wirklich gewildert. Und doch hatte er dem Grafen Fidde damals die Flinte zurückgeschickt, mit einem Hasen dazu: Schönsten Dank, aber sie tauge nichts, sie schösse zu tief. Nein, keine Ursache, auf die Fiddes böse zu sein.
Sie hatte da ein paar Sachen gesagt, zum Beispiel, daß man anders werden könnte. Er war nicht überzeugt davon, aber vielleicht hatte sie doch recht. Er mußte darüber nachdenken. Es war etwas daran. Auch er sah ja zum Beispiel, daß Vater nicht so war, wie er sein müßte, und vor allem, wie er hätte sein können. Mit sich war er auch nicht ganz zufrieden. Gutes Geld und schlechtes Geld, jawohl, das konnte sie sagen, aber das war nun wieder anders. Daß sie so etwas sagen konnte, das kam daher, weil sie nie wirklich ohne Geld war. Gewiß, man durfte nicht stehlen, man tat es wenigstens nicht, aber einen Viehhändler durfte man reinlegen, einen Blitzableiter durfte man herunterklettern – und: Du, Christa, sagte er eifrig, dann ist es aber auch schlechtes Geld, das der Marder für seinen Unterricht bekommt. Er tut doch fast gar nichts, und mein Vater denkt, er sitzt fünf Stunden bei uns.
Sie machte nicht die geringsten Umschweife. Das ist es auch, gab sie zu.
Und das Geld, das er als Pfarrer bekommt, ist denn das gutes Geld?
Ich weiß nicht, sagte sie zögernd.
Na, du siehst doch, wie er seine Predigten macht. Husch, husch, drei Bücher nachgeschlagen, husch, husch, fertig. Das kann ich auch. Das kann jeder. Und wie er sich um die Leute kümmert!
Ja, er hat viel zu viel vor, gab sie zu. Nun auch noch der Hof.
Nicht wahr, er wird doch als Pfarrer bezahlt, und nun spielt er dazu den Großbauern. Weißt du das mit dem Ziegenbock?
Nein, sie wußte es nicht. Der Superintendent, der Marder, war doch solch mißtrauischer, knifflicher Mensch. Keinem traute er. Keine Arbeit wurde gut genug und schnell genug gemacht, nach allem sah er selbst, und immer wurde zuviel veraast. Da hatte er nun diese vier Pferde im Stall stehen, wie im vorigen Winter, so jetzt im Winter, und sie taten rein gar nichts. Auf den Acker konnte man nicht, zu fahren war nichts mehr, sie standen im Stall, fraßen immer weiter den teuren Hafer, zu acht Mark den Zentner, und schlugen die Stände vor lauter Übermut kaputt.
Der Superintendent war ein moderner Landwirt. Er besaß gedruckte Fütterungstabellen: verdauliches Eiweiß, Kohlehydrate, Stärkewerte. Der Superintendent rechnete und rechnete. Er rechnete für seine Pferde ein ›lebenerhaltendes‹ Futter heraus, ein Minimum an Nährstoffzufuhr, und er dachte dabei nicht daran, welches Futter seinen Pferden nun auch bekömmlich war. Das verdauliche Eiweiß, der Stärkewert, die machten es!
Darüber wurden die alten Schinder immer jämmerlicher und hinfälliger. Die Knechte, die ihre Pferde gern gehabt hatten, sagten den Dienst auf, und es kamen Lumpen an ihrer Statt, denen die Tiere gleichgültig waren. Ja, die den Superintendenten, in ihre Bärte grienend, noch in seiner Sparsamkeit bestärkten. Es war ein Anblick, der einem das Herz im Leibe umdrehen mußte, kam man in den Stall: mit gesenktem Kopf, trüben Augen, lang herunterhängenden, schlaffen Lippen, rauhem, strubbligem Haar standen die Pferde auf zitternden Beinen in den Ständen und wußten nicht mehr, ob sie sich zum Leben oder Sterben entschließen sollten. Sie gewöhnen sich, es ist nur der Übergang, sagte der Superintendent zu Besuchern, die wortlos diesen Jammer betrachteten. Ich habe es genau berechnet. Es ist ein Futter, das das Leben erhält und doch keinen Übermut aufkommen läßt. Und dann, sagte er hoffnungsvoller, habe ich schlechte Knechte gehabt, die immer nur Hafer füttern wollten – mit Hafer können alle füttern! Aber jetzt habe ich tüchtige Leute, die meine Futterprinzipien verstehen.
Der Besucher überlegte trübsinnig, ob man nicht an den spitzen Schulterknochen gut die Mütze aufhängen könnte. Aber der Geistliche fragte eifrig den Knecht: Na, was macht der Schimmel, Ernst?
Oh, er macht sich, Herr Super, sagte der Knecht. Er macht sich. Heute früh hat er einmal tüchtig geschnaubt und mit dem Vorderhuf im Stroh gekratzt.
Sehen Sie, sagte der Superintendent, es ist nur die Umstellung, der Mann sagt auch, er macht sich.
Mittlerweile stellte sich der Schimmel so um, daß er sich hinlegte und krepierte. Aber nicht an Futtermangel, beileibe nicht. Sicher hatten die früheren Knechte ihm aus Rache was eingegeben. Aber schließlich wurde es doch klar, daß auch die andern Pferde zum mindesten ›krank‹ waren, das war nun schlimm. Zum Tierarzt bis nach Sagard zu schicken, war viel zu teuer, außerdem fürchtete der Superintendent vielleicht im geheimen für seine Futtertheorie. Dann gab es noch den Schäfer Hundertmark. Aber ein Schäfer war gar nichts, unwissenschaftlich, bloßer Aberglaube.
In dieser Not fielen dem Geistlichen nun die preußischen Kavalleriepferdeställe ein, in deren jedem traditionsgemäß ein Ziegenbock gehalten wird, der, wie jedermann weiß, keine Krankheit im Stall aufkommen läßt, sondern alles auf sich zieht. Man könnte nun freilich sagen, daß ein Ziegenbock auch Aberglaube ist, aber erstens ist ein Bock in Pferdeställen eine offizielle militärische Einrichtung, zweitens hängt es irgendwie ganz wissenschaftlich mit dem starken Geruch, den Böcke absondern, zusammen, und drittens konnte der Ziegenbock die Ziegen der kleinen Leute in Kirchdorf decken, sparte ihnen den weiten Weg bis Riek, und der Superintendent strich noch Deckgelder ein.
Ein Ziegenbock wurde gekauft. Ein wahrer Patriarch an Körper und Ehrwürdigkeit, mit langem, zottigem Haar, einem herrlichen, weißen Spitzbart, den schamlosesten, frechsten und neugierigsten Augen von der Welt und breiten, weitausladenden, geschwungenen Hörnern.
Alles ging verquer! Dieser Ziegenbock war der Vater der Neugierde, ein Großvater der Frechheit und ein wahrer Satan der bösen Streiche. Im Stall war er ein Fehlschlag, vielleicht war er zu spät gekommen, jedenfalls fiel noch ein Pferd, und der Superintendent kehrte schweigend und grimmig zum Hafer zurück. Aber dieser Bock, von den Pasewalker Offizieren auf den schönen Namen Phryne getauft, verliebte sich in den Geistlichen und folgte ihm auf Schritt und Tritt. Keine Kette half, keine noch so kunstvolle Fesselung, kein Lattenverschlag, plötzlich rannte er laut meckernd im Triumph über den Hof, stieß die Tür zur Superintendantur auf, erkletterte, tripp, trapp, die Treppe, war im Studierzimmer, suchte das Dorf ab und ruhte nicht eher, bis er seinen breitschultrigen Marder gefunden und ihm, zufrieden meckernd, ein paar sanfte, aufmunternde Stöße ins Gesäß versetzt hatte.
Der arme Superintendent. Diese Wochen waren schwere Wochen für ihn! Der Bock war kein billiger Bock gewesen. Bis zur Deckzeit im Frühjahr, da er ein bißchen Geld einbrachte, sollte er mindestens durchgehalten werden. Der Geistliche, schon immer hastig, bekam jetzt etwas Flüchtiges, Scheues, einen beklagenswert angstvollen Blick über die Schulter. Immer floh er vor Phryne, versteckte sich vor ihm, schloß Türen ab, fragte mitten im Gespräch: Hören Sie nichts? Wie?!
Und diese ollen Heimtücker von halben Heiden, diese rechten Insulaner, begriffen so rasch die Lage ihres Seelsorgers, es hatte sich herumgesprochen – Da meckert doch was, Herr Superdent? fragten sie.
Weg war er. Weg von Vermahnungen, Tröstungen, Geschäften!
Aber die Ereignisse dann am sechsten Februar, dem fünften Sonntag nach Epiphanias, gaben dem Bock und seinem Herrn doch den Rest. Herr Superintendent Marder war in der Kirche, und seine Gemeinde, seine Schäflein, mit ihm. Die Gemeinde sang das Lied vor der Predigt. Sechs Strophen. Und der Superintendent ging frierend und wartend in der eiskalten Sakristei auf und ab. Die Hände hatte er ganz in die Ärmel seines Talars gesteckt. Nun waren sie bei der dritten Strophe. Nun fingen sie die vierte an ...
Der Kantor Bockmann hätte bei solcher Kälte das Zwischenspiel auch gern etwas kürzer machen können! Was aber der eigentliche Kirchendiener war, so hieß er Wollenzien, Gabriel Wollenzien. Ein Kirchendiener muß ein geschickter, rascher Mann sein. Gabriel Wollenzien aber war man tüterig. Das war dem Supenintendenten lange klar. Doch das Kirchendieneramt (für fünf Zentner Roggen jährlich und zwei Dutzend Eier zu Ostern) war erblich in der Familie Wollenzien. Nein, sie kamen mit der vierten Strophe nicht klar. Was sie nur hatten? Gottlob hielt die Orgel sie bei der Stange, aber nun tat plötzlich auch die Orgel einen ganz unziemlichen Hüpfer – und stürzte sich wie schuldbewußt in um so lautere Akkorde. Alle Register, alle Register.
Der Superintendent machte die Sakristeitür ein bißchen auf, trotzdem er das eigentlich für ganz unziemlich hielt, denn die Minuten während des Gemeindegesanges hat der Geistliche sich in der Sakristei innerlich auf seine Predigt vorzubereiten. Er sah nur einen spitzen Ausschnitt von drei Bänken, mit den Bauersleuten Lau und Gierke, die sich aber umgedreht hatten ...
Sicher war etwas nicht im Lot. Vielleicht war, wie schon einmal, der Dorfsüffel Timmermann in den Gottesdienst geraten, und Wollenzien war wieder einmal der Lage nicht gewachsen.
Mutig ging die Orgel das Zwischenspiel zur fünften Strophe an, klang, psalmodeite und tat einen tiefen, hinsterbenden Seufzer: keine Luft. Der Bälgetreter auch nicht auf dem Posten. Na warte, Jungchen!
Der Superintendent raffte den Talar und kletterte die Treppe zur Kanzel empor. Na wartet, ich will euch umdrehen lehren!
Er trat hinaus vor seine Gemeinde. Sie sahen nicht hin zu ihm, sie merkten sein Kommen gar nicht einmal. Alle Gesichter waren von der Kanzel fortgewendet, nach dem Kirchenchor zu, und weder Wollenzien noch der Kantor waren zu sehen. Jawohl, der Platz an der Orgel war verlassen, mitten im Vorspiel zur fünften Strophe, da doch sechs gesungen werden sollten!
Friedfertigkeit erfüllte nicht des Superintendenten Herz, da er sich einmal, ein zweites Mal räusperte. Er mußte sich ein drittes Mal räuspern, ehe alle zu ihm hersahen. In allen Gesichtern lag etwas Verhaltenes, sie sahen ihn so erwartungsvoll an, viele waren rot, andere zuckten, Kinne wackelten, Bärte sträubten sich. Der Geistliche spähte. Er sah nichts. Er verlas das Schriftwort, er merkte, sie hörten ihn gar nicht – worauf warteten sie noch?
Er begann seine Predigt. Sie hörten nicht zu, ja viele Gesichter hatten sich wieder von ihm fortgewendet.
Superintendent Marder war sehr böse. Er war so böse, daß er die Predigt unterbrach und energisch mit einem Finger auf die Kanzelbrüstung pochte. Zögernd kamen die Gesichter zurück zu ihm, jetzt schien auf der Orgelempore ein verhaltenes Gerenne, ein leises Gehusche zu sein.
Der Superintendent wollte neu einsetzen. Da klang von der Orgelempore schrill in höchstem Jagdeifer plattdeutsch eine grelle überkippende Jungenstimme: Ick heff em, Herr Kanter. Kamen Se längs! Ick hol dat Undiert nich ...
Und hinter der Orgel hervor jagte polternd die grausige, wilde, verwegene Jagd: Phryne, der weiße Bock, an seinem Stummelschwanz hängend, verzweifelt schreiend, der Junge Bälgetreter. Aus der Chorbank links, wo er sichtlich wie ein Jäger auf Ansitz gesessen hatte, schoß hervor, einen Schirm schwingend, der kleine verwachsene Kantor Bockmann, erregt flüsternd und scheuchend: Wistu!
Und aus der Bank rechts der tüterige Wollenzien: Min leiwe Zickenbuck! Kumm to ol Vadder Wollenzien!
Aber der Bock, über seine Feinde triumphierend, riß sich los, der Junge stürzte, der Kantor floh in Bankdeckung vor den Hörnern, kläglich protestierte Wollenzien: I du Deibelsvieh! Stöten wist du?
Der Bock sprang auf eine Chorbank, auf das breite, geschnitzte Geländer des Chors, hoch thronte er über der Gemeinde, aus der unterdrückte Rufe, Gelächter, Angstkreischen laut wurden. Mit wackelndem Bart, drohenden Hörnern, frechen Augen stand der Bock unerreichbar auf dem Geländer – und sah plötzlich seine Liebe, den Superintendenten, den versteinerten, auf der Kanzel. Phryne schmetterte sein triumphierendes Meck und Mäh, er schien den Zwischenraum zwischen Chor und Kanzel zu messen, näher wollte er seiner Liebe, und der erwachte Superintendent warf mit einem lang nachhallenden Knall die Tür hinter sich zu. Die Kanzel war leer.
Aber ach, diese Wut in der Sakristei, diese hilflose, zitternde Wut! In allen Häusern der Insel, in ihren spätesten Geschlechtern wird man immer noch die Geschichte vom Ziegenbock erzählen, der seinen Superintendenten von der Kanzel vertrieb. Marder hatte eine kräftige, lederhafte Haut. Sie mochten ihn filzig, flusig, sonstwas schelten, aber lächerlich, dies nein. Lächerlich durfte er nicht sein! Er biß die Zähne zusammen, er überwachte selbst den Abtransport des Bockes, er schloß ihn selbst in die Räucherkammer ein, aus der unmöglich zu fliehen war. Er steckte den Schlüssel in die Tasche und begann den Gottesdienst von neuem. Mochte aller Hausfrauen Essen anbrennen, so leicht wollte er es ihnen denn doch nicht machen. Und er betete unerbittlich lange für die bösen Buben, die solche Streiche trieben ...
Aber, wieder zu Hause, schickte er sofort zum Viehhändler Frehle nach Dreege und ließ ihn kommen. Sonst schloß er nie ein Handelsgeschäft am Sonntag ab. Nein, auch dies wurde kein Handel: er verschenkte den kostbaren Bock, unter der Bedingung, daß ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen dürfte und daß er gleich am nächsten Tage von der Insel verschwinden müßte. Phryne protestierte aus seiner Räucherkammer gegen diese Abmachungen mit kläglichem Gemecker.
Am nächsten Tag, am Montagmorgen, stand der Superintendent Marder halb versteckt hinter dem Ladeschuppen auf dem Dreeger Kai, sah den Blücher ablegen und ächzend, krächzend, Dampf abblasend, pfeifend die Höhe des Dreeger Boddens gewinnen. Auf dem Verdeck war lange ein weißer Fleck zu erblicken, der entschwindende Phryne. Dann verschwamm der weiße Fleck mit dem Schiff, der Dampfer tutete noch einmal und drehte sich um den Finkenhaken.
Erleichtert aufseufzend, machte sich Herr Marder auf den Rückweg. Das Kapitel Phryne war abgeschlossen, und er würde den Leuten schon die Mäuler stopfen. Und während er die Dreeger Chaussee langsam fürbaß mit seinen breiten Schultern entlang schaukelte, wurde er wieder beinahe ganz fröhlich beim Anblick der mit Wintersaat bestellten Äcker. Trotzdem im Januar eine Reihe von Tagen schweren Kahlfrost gebracht hatten, waren Roggen wie Weizen gut durchgekommen. Schön smaragdgrün lagen die Flächen in der klaren Wintersonne unter dem schon nicht mehr ganz blassen Blauhimmel. Um die Zweige der Kirschbäume an der Chaussee lag schon etwas wie eine Vorahnung des Frühlings. Die Spatzen stritten sich vergnügt und eifrig tschilpend um einen Pferdeapfel. Der Geistliche überlegte, wie er am nächsten Sonntag Septuagesimä diese Vorfrühlingsahnung in seinen Predigttext einflechten könnte.
Dann aber, an diesem selben Montagabend, tat er noch etwas Heroisches: er trotzte allem Gerede der Leute und ging in den ›Schwedischen Hof‹, der der Superintendantur gerade gegenüber auf der andern Seite des Marktplatzes lag. Da waren heute am Montag drei Skattische in Gang, ein Bauern-, ein Kaufleute- und ein Gutsbesitzerskattisch. Da würden sie heute beisammen sitzen, die ihn durchhecheln wollten, und gerade darum ging er hin.
Heroisch an diesem Gang war aber, daß Superintendent Marder, der sonst nie in Gasthäuser ging und sonst nie Alkohol trank, fest entschlossen war, an diesem Abend bis zum letzten Mann sitzen zu bleiben und soviel Alkohol zu trinken, wie zu diesem langen Sitzen gehörte. Alkohol haßte er, Alkohol machte ihm Angst, vor Alkohol schüttelte er sich – aber das war heute alles gleich.
Da ging er, ein kleiner, rötlicher Kerl, mit lächerlich breitem Rücken, aber zum Trommeln gab er sich nicht her, Kalbfell wurde er nicht. Er würde trinken und nicht betrunken werden.
Mit dem Trinken aber war es bei ihm so bestellt, daß sein Großvater schon gerne getrunken hatte und sein Vater sehr gerne. Er war die nächste Generation, er hatte statt einer Neigung eine Abneigung, aber sein strahlender, junger Bruder, fast gleichaltrig, hatte wieder zu gerne getrunken. Und Marder hatte an diesem Bruder, den er so herzlich wie nie einen andern Menschen wieder geliebt hatte, langsam, langsam allen Verfall durch den Trunk erlebt: den Schmutz, das Verkommen, die Verlogenheit, die Gier. Allmählich hatte der Feind – und was war das für ein schrecklicher, erbarmungsloser Feind – die Strahlenzüge des Bruders gestohlen, aufgeschwemmt und verschwommen war alles in diesem Gesicht untergegangen, was auf eine herrliche Zukunft hingedeutet hatte. Dann war der Zusammenbruch gekommen, die Anstalt, das krampfhafte, irre, schreckliche Flehen und Beschwören um einen einzigen Schnaps. Es war gekommen das Geheiltwerden, das Wieder-in-Freiheit-Leben des Bruders, die heimliche Angst um ihn und die schreckliche Gewißheit, daß er von neuem trank.
Es waren schreckliche Auseinandersetzungen gekommen. Schwüre, die in der Stunde schon, da sie gegeben waren, gebrochen wurden, die von vornherein nicht gehalten werden sollten. Und schließlich jene schreckliche Nacht, da die beiden Studenten auf ihrer Bude in Kampf gerieten, da die Seele des andern schon auf der Flucht, schon von ätzendem Alkohol ganz aufgelöst gewesen war. Wie in dem zerrütteten Trinkergehirn Visionen von Verfolgern, huschenden Tieren auftauchten, wie er zu schreien anfing, zu schreien wie selber ein Tier ... Nein ...
Bis er ein paar Tage danach auslöschte und zusammengefallen auf dem Totenbett lag als ein stiller, ernster Bruder jenes einst so herzlich Geliebten.
Ja, wie Superintendent Marder jetzt durch den Pfarrgarten und über den Marktplatz geht, denkt er natürlich an all diese Dinge nicht. Sie sind so lange her, sind wie versunken in ihm, unter der stets neuen Ernte stets neuer Erlebnisse. Aber die Angst sitzt in ihm ...
Natürlich, er könnte Himbeerwasser trinken oder einen Tee und noch einen, aber er weiß doch, wie seine Insulaner sind: wer nicht plattdeutsch spricht und nicht mittrinkt, gehört nicht zu ihnen. Und heute muß er zu ihnen gehören.
Im Flur trifft er gottlob die Wirtin, Frau Reese, und er benutzt die Gelegenheit, ihr möglichst laut und sonor ein paar Worte zu sagen, und sie begrüßt ja auch recht lebhaft den ungewohnten Gast. Richtig, in der Gaststube links wird es plötzlich still. Ganz auffallend still. Und so platzt er wenigstens nicht unangenehm in ein Gespräch über sich hinein, als er eintritt und seinen guten Abend sagt.
Sie sind alle schön vorbereitet, und er muß viele Hände drücken und viele Fragen stellen und beantworten, ehe er sich an einen Tisch beim Ofen setzen kann, auf den Tisch klopfen und rufen darf: Herr Reese, einen Grog!
Es geht wie eine Welle verblüfften Schweigens durch den Raum. Aber das ist nur ein Augenblick, und dann haben sie alle, alle kapiert und reden doppelt laut: Kiekeda, der Herr Superintendent will sich wohl anbiedern. Er denkt, er hat es nötig – und laut reden sie von allen, allen andern Dingen.
Stark oder schwach? fragt der Wirt.
Stark, sagt der Superintendent und langt sich eine Zeitung.
Der Grog riecht gemein nach Fusel. Mit Widerstreben nur tut der Geistliche in den übelriechenden Trank den schönen, klaren, weißen Zucker. Er rührt gedankenvoll, lange, er sieht dabei gedankenvoll durch den Raum. Er sitzt schön in der Mitte. Sie können es weder rechts noch links wagen, über ihn zu sprechen. Natürlich denken die, er wird bald wieder abrücken. Aber da sollen sie sich geirrt haben!
Er nimmt den ersten Schluck. Ein schlimmes Getränk, viel schlimmer noch, als er gedacht. Er schüttelt sich, aber er trinkt mutig einen großen Schluck von dem Gebräu. Dann liest er weiter in der Zeitung.
Bis halb elf geht alles glatt. Bis halb elf kann er sich mit Zeitungen helfen. Er hat bis dahin drei Gläser Grog getrunken, und der Trank widersteht ihm nicht mehr so. Es wärmt schön, solches Gebräu. Übrigens hat es auch eine schöne, bernsteinhafte Farbe. Und das Gehirn wird langsam groß und weich. Als der Superintendent die letzte Zeitung aus der Hand legt und sich im Gastzimmer umsieht, ist er ganz andrer Stimmung. Da sitzen sie, jetzt reden sie nur noch, wenn ein Spiel fertig ist, und dann sprechen sie nur von den Fehlern, die die andern gemacht haben – an ihn denken sie gar nicht mehr. Aber er möchte jetzt, daß sie an ihn denken, eine Anspielung machen. Sein ursprünglicher Plan, ihnen nur das Reden unmöglich zu machen, ist ganz vergessen. Jetzt möchte er ihnen Bescheid sagen, diesen selbstherrlichen Bauern, diesen Sittenrichtern im Glashaus. Da sitzt Bauer Behn mit dem noch immer schwarzen, krausen Haar, siebenundfünfzig ist er, und in den letzten zehn Jahren haben drei Mägde in seinem Haus ein Kind bekommen: Vater unbekannt. Aber Marder kann mit dem Finger auf den Vater zeigen, wenn er mag. Er sieht ihn ja an!
Reese, noch einen Grog und stärker.
Der da so laut krakehlt, ist der Kaufmann Stavenhagen, was schreit der? Weiß der Superintendent etwa nicht, daß der fette, rosige Mann einen heimlichen Schnapsausschank hinter seinem Laden hat? Doch, das weiß er, und er weiß noch mehr. Er weiß, daß jetzt zur Stunde vielleicht die Frau dort mit irgendwelchen Bürschlein Liköre trinkt. Er braucht nicht durch die Fenster zu sehen, er kann durch die Wände schauen! Zuhälter der eigenen Frau, wahrhaftig, aber ihm einen Bock vorwerfen, einen lächerlichen Zufall, seinen Ruf zerreden, zerwalken, daß er schließlich mit dem Konsistorium Schwierigkeiten hat, das können die.