Kitabı oku: «Jenes hügelige Sein», sayfa 2
SCHILLERNDE GERECHTIGKEIT
Die Suche nach der gerechten Sache, der gerechten Handlung und der gerechten Gesinnung hat mich ein Leben lang geführt und begleitet. Gerechtigkeit ist ein gedankliches Gebirge, Constanze, an dem sich der Mensch seit je die Hirnzähne ausbeißt. Es ist kaum jemandem gelungen, dieses Scheidewasser unseres inneren Kompasses ohne Anleihe bei den Überirdischen zu erklären. Objektive Gerechtigkeit bräuchte einen unverrückbaren Bezugspunkt, den wir Idee der Gerechtigkeit nennen könnten. Eine lange Reihe großer Geister rang und ringt seit tausenden Jahren mit dieser notgedrungen abstrakten Idee. Die Ergebnisse dieses Nachdenkens sind schwierig zu verstehende Lehrsätze, die auf Annahmen beruhen, etwa Gerechtigkeit sei „im Prinzip“ Gleichheit.
Das berühmteste moderne wissenschaftliche Werk über Gerechtigkeit hat der Amerikaner John Rawls 1971 veröffentlicht. Seine Theory of Justice vertritt zwei Konzepte der Gerechtigkeit als Fairness eines sozialen Systems. Du wirst gleich sehen, Constanze, wie theoretisch das klingt. Das erste: Jeder soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle verträglich ist. Erinnert ein bisschen an Kants Kategorischen Imperativ vom individuellen Verhalten, das zum allgemeinen Gesetz werden könnte. Das zweite: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass sie nach vernünftiger Annahme zu jedermanns Vorteil dienen und sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen. Soviel zur Idee der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Ein wenig schwer zu verdauen, nicht?
Die Realität der Gerechtigkeit sieht ganz anders aus. Eine Vielheit von subjektiven Gerechtigkeiten mit ihren beliebigen Bezugspunkten sucht nach dem gesellschaftlichen Kompromiss im Dialog oder nimmt den Kampf auf. Wenn es um einen großen gerechten Wert wie Freiheit geht, dann kennen wir aus der Geschichte und bis heute die Bereitschaft der Menschen, dafür sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Die Proteste gegen politische Unterdrückung in Russland, Hong Kong, Venezuela oder im Iran sind aktuelle Beispiele dafür.
Eine endgültige Belohnung in der göttlichen, überirdischen Gerechtigkeit zu suchen und auf die Bestrafung der Ungerechten dieser Welt zu hoffen, das war immer wieder auch Zuflucht und Trost für jene, die mit der irdischen Ungerechtigkeit anders nicht zu Rande kommen konnten. Ist aber Gott selbst gerecht? Wie sollte diese Gerechtigkeit einer höheren Ordnung denn aussehen?
Die Theologen nennen die Frage von Gottes Gerechtigkeit mit dem griechischen Namen Theodizee (theodikía). Wie kann ein barmherziger, guter Gott unbarmherzig so viel Übel in der Welt zulassen? Ich habe die Antwort von Kardinal Schönborn auf diese Frage gehört und nur in Erinnerung, dass auch er als ausgewiesener Theologe keine für Laien schlüssige Antwort geben konnte. Der Mensch hat von Gott, folgt man den Schriften, den freien Willen zum Widerstand auch gegen ihn, Gott selbst, erhalten, also auch die Fähigkeit und Bereitschaft zum Bösen. Und warum lässt Gott die Menschheit gewähren für die kaum erheblichen Bruchteile von Sekunden ihrer Existenz im an Ewigkeiten gemessenen Zeitmaß des Universums, stellt sie ständig auf die Probe, bleibt der „unbewegte Beweger“, wie schon Aristoteles ihn nannte? Die Antwort der Religionen ist überall ähnlich. Bei den alten Ägyptern etwa das Totengericht, ein überirdischer, gerechter, unanfechtbarer Richtspruch über Gut oder Böse, ewiges Licht oder ewige Finsternis für die unsterblichen Seelen der Verstorbenen. Ich meine, dass dieses von Menschen entworfene Gottesbild uns Trost zu Lebzeiten spenden soll. Ob der Gott aller Universen uns wirklich während unserer flüchtigen Existenz im Kosmos ernst nimmt?
Man sieht, Constanze, wie der Mensch mit seinem Denken an die Tür von Geheimnissen klopfen kann, die sich vielleicht sogar öffnet. Aber sicher wartet dahinter eine weitere und noch eine und wieder eine, was ihn in diesem kafkaesken Schloss ziellos herumirren lässt. Wir werden noch mehr solcher Mysterien zu knacken haben, aber wahrscheinlich an den vielen Türen scheitern, die sie vor ihrer Entdeckung schützen.
Es gibt eine Mysterianismus genannte Schule der Philosophie, welche die Grenzen unseres Geistes zum Maß vieler Dinge macht. Nach dieser Denkschule werden sich manche Rätsel der Natur möglicherweise für immer jenseits unseres lösungshungrigen Verstandes verbergen. Der Mensch ist einfach nicht gescheit genug, er ist ein Produkt der Evolution, und das allein beweist: Es gibt auch eine höhere Stufe der Intelligenz als die des Menschen! Die größten Wissenschaftler waren meist sehr demütig, wie auch die größten Philosophen. Isaac Newton verglich sich mit einem Knaben am Strand, der immer wieder eine schönere Muschel oder einen glatteren Kiesel findet, „… aber der große Ozean der Wahrheit liegt noch unentdeckt vor mir“, schrieb er. Und Sokrates’ Spruch, „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, kennt bei uns jedes Kind. Diese Dualität von Demut vor dem Wissen und von Respekt auch vor dem Nichtwissen sollten wir uns aneignen! Ich werde dir sicher noch vom Tao erzählen, das viel zum Verstehen von Gegensätzen beitragen kann. Soll ich dir Gusto darauf machen? Warte ab. Warum Wasser härter als Stein sein kann, das ist die Frage!
Wenn wir nunmehr wieder in unsere irdische Wirklichkeit eintauchen, so nimmt auch die Gerechtigkeit menschliche Züge an. Die Gerechtigkeit, von der man so respektvoll als platonische Idee der Seele spricht, ist in der Realität vergleichbar mit einem Gefäß, in dem der reine Wein der Gerechtigkeit mit dem Wasser des Lebens verdünnt wird. Probieren wir das an einem wichtigen politischen Begriff aus: Was ist soziale Gerechtigkeit? Oft wird darunter nur die Verteilung von materiellen Gütern zwischen Arm und Reich verstanden, was natürlich zu simpel ist. Was ist mit der ungleichen Verteilung der Gene und Begabungen, der unterschiedlichen Geburtsorte und Familienherkunft, der empfangenen Liebe und Zuwendung in der Kindheit, ganz allgemein der Lebenschancen, wie das Ralf Dahrendorf nannte? Er, den ich während meines Postgraduate-Jahres in Tübingen als jungen Professor kennenlernen konnte, sah mehr Lebenschancen für möglichst viele Menschen als Ideal einer liberalen und demokratischen Politik und Gesellschaft an. Chancengleichheit ist ein politisches Ziel, das breite Zustimmung finden kann. Aber wie viel Wein, wie viel Wasser definiert diese Gleichheit von Möglichkeiten für jeden? Noch weniger einig ist man sich darüber, wie solidarische, die ungleichen Startchancen mildernde Eingriffe ausschauen sollen. Hier meldet sich wieder das Eigeninteresse der Bevorzugten, da sitzt wieder der Teufel im Detail und freut sich am Streit um mehr finanzielle Zuschüsse oder den leichteren Zugang zu mehr Bildung. Und da rede ich nur von den so genannten entwickelten Ländern, wo man bereits ein halbwegs funktionierendes Bildungssystem und ein geknüpftes soziales Netz vorfindet, das Schwächere grundsätzlich auffängt. Mit Lebens- und vor allem Bildungschancen sind wir der Suche nach wahrer sozialer Gerechtigkeit schon nähergekommen, aber eine klare begriffliche Bestimmung dieses Wieselworts entgleitet mir. Zum Beispiel hatte ich einen Start ins Leben, Constanze, der zwar auf den ersten Blick nicht günstig war; aber gerade deswegen gute Lebenschancen, weil alle Muskeln und Sehnen des Lebendigen in mir frühzeitig trainiert wurden! Gibt es so etwas wie eine gerechte Gesellschaft, einen gerechten Staat, eine gerechte Politik überhaupt? Das ist eine spannende Frage und verdient eine kurze Erörterung.
GERECHTE POLITIK?
Vor rund zweieinhalbtausend Jahren hat der Denker und Lehrer Platon mit Der Staat (Politeia) einen philosophischen Markstein gesetzt; im Untertitel heißt diese Schrift Über das Gerechte. Es lohnt sich, über ihre vielleicht bekannteste Aussage zur politischen Gerechtigkeit nachzudenken: Die Könige sollten Philosophen oder die Philosophen sollten Könige sein, damit der Staat gerecht und daher gut regiert werde. Du fragst mich natürlich zurecht, Constanze, wieso die Regierenden oder im weiteren Sinn die führenden Eliten gerade den esoterischen Touch der Philosophen haben sollten? Wären da nicht ganz andere Eigenschaften notwendig, um ein Staatswesen gut zu lenken oder wichtige gesellschaftliche Aufgaben erfolgreich zu erfüllen? Nun, Platon meint, nur die Philosophen könnten die Wahrheit finden, weil das ja ihre Berufung sei, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und die Wahrheit sei die Mutter der Gerechtigkeit, sie solle das Szepter der Macht in Händen halten. Ist diese Vorstellung nicht total weltfremd, wirst du fragen? Ja, in der bisherigen Geschichte der Menschheit schon, denn die große Welt und ihre vielen kleinen Abbilder und Probebühnen in unser aller Leben werden von Streit um Macht und Besitz entstellt.
Der klarste Widerspruch zu dieser Meinung Platons kommt von einem ebenso großen Geist, denke ich, nämlich Immanuel Kant. Macht, schreibt er, würde die Vernunft stören, sie also nicht mehr rein sein lassen. Daher wäre es gar nicht wünschenswert, wenn Könige auch die Gerechtigkeit und Wahrheit als Philosophen kontrollierten. Sehr weitblickende Gedanken aus Kants Essay Zum ewigen Frieden! Darum greifen Tyrannen ja seit eh und je ungeniert nach der Macht über die Meinung! Wir können das heute in Amerika deutlich sehen, wo die Fake News eine Fake Reality zu schaffen trachten und damit ziemlich erfolgreich waren und sind. Der Hauptdarsteller Trump hat seit Amtsantritt in steigendem Ausmaß gelogen und bis Mitte 2020 viele tausende Fehl- und Falschaussagen auf dem Gewissen. Autokratenlehrlinge wollen auf dem Weg zur Herrschaft die im Weg stehende Wahrheit kontrollieren.
Nach langem Zögern wurde es den Demokraten zu viel, und sie leiteten das Impeachment des Präsidenten ein, das Amtsenthebungsverfahren zum Schutz der Verfassung gegen undemokratische Akte des Präsidenten. Die zwei formellen Anklagepunkte der demokratischen Mehrheitspartei im Repräsentantenhaus waren: Erpressung einer ausländischen Macht (Ukraine) zur Schädigung eines politischen Konkurrenten (Joe Biden) sowie bewusste Missachtung von Beschlüssen des Kongresses. Das „Vorspiel“ dazu war die Untersuchung einer möglichen russischen Beeinflussung der Präsidentenwahlen 2016. Der Special Counsel Robert F. Mueller III. deckte die unglaublichsten Vorkommnisse von kriminellen Attacken gegen Recht und Staat auf, die nach gängiger Rechtsauffassung Hochverrat wären. Aber dem geübten Entfesselungskünstler gelang es, die Anschuldigungen zu verkehren, seine Anhänger zu betören und seine Ankläger zu verstören. Der Versuch, den Präsidenten abzusetzen, scheiterte knapp an der starken Hand des Senatspräsidenten und dem biegsamen Gewissen der republikanischen Senatoren – mit Ausnahme des Mormonen Mitt Romney. Er hatte zur Jahreswende 2018/19 einen Beitrag in der New York Times verfasst, in dem er konstatierte, Trump „has not risen to the mantle of the office“, er sei der Würde dieses Amtes nicht gewachsen. Und stimmte als einziger Republikaner für das Impeachment.
Manchmal gewinnt man aus dieser Entwicklung den Eindruck, Constanze, Trump möchte es Putin gleichtun und Herrscher auf immer als Begründer einer Dynastie sein. Wir können nur darauf hoffen, dass Mitch McConnell – der die Einvernahme von Zeugen in der Verhandlung über die Amtsenthebung verhinderte und diese zur Farce degradierte – seine Mehrheit von Mitläufern verliert.
Glücklicherweise gibt es in diesem ideell gespaltenen Land auch freie und mutige Medien, die sich dieser Entwicklung beharrlich entgegenstemmen, auch wenn sie noch so oft als Feinde der Demokratie (!) beschimpft werden. Auf ihnen lastete es, das Impeachment so darzustellen, wie es wirklich war, worum es da tatsächlich ging: um die Grundfesten des politischen Hauses Amerika, um seine Verfassung und deren zentrale Frage nach der Sicherung des Rechtsstaats vor den Übergriffen der Macht. Der französische Historiker Alexis de Tocqueville bereiste Anfang des 19. Jahrhundert die junge Republik der 25 noch nicht vereinigten Staaten. Seine Studie Über die Demokratie in Amerika ist eine weit vorausblickende Beurteilung der Gefahren, welche die Demokratie bedrohen; aber auch Beschreibung der vorbildlichen von Bürgern getragenen privaten Initiativen als Urbild der modernen Zivilgesellschaft. Gar herrlich weit hat es das große Vorbild gebracht!
Die neuseeländische Zeitschrift Listener zeigte auf ihrem Titelblatt Anfang 2019 das Bild Donald Trumps als Westernheld mit dem im Wilden Westen seinerzeit gebräuchlichen Fahndungsplakat und der Aufschrift: WANTED for Crimes against Democracy. Wie kann ein Land wie Amerika von einem „narzisstischen Psychopathen“ – so der Befund einschlägig tätiger amerikanischer Ärzte – derartig in Geiselhaft genommen werden und zulassen, dass aus der Führungsmacht des Westens ein großes Sorgenkind der einst von ihr Behüteten wurde? Und viele Amerikaner selbst sagen Schlimmeres, da ist Lachnummer noch schmeichelhaft.
Apropos Lachnummer. Die amerikanischen Politshows haben mit zahlreichen Veräppelungen Trumps ihre Zuschauer zu schallendem Gelächter gebracht. Ich hätte eine für intellektuelle Musikfreunde parat. Das interessiert dich? Dann gebe ich dir eine Variante der Wirtshausszene im 3. Akt des Rosenkavalier von Richard Strauss mit dem wunderbaren Text Hugo von Hofmannsthals zum Besten: Der als Mariandl verkleidete Oktavian hat eine grobe Störung des Schäferstündchens ausgeheckt, das sich der Ochs auf Lerchenau mit „ihr“ erwartet. Unter grellen Dissonanzen, die plötzlich in die lyrische Melodik der Musik hereinbrechen, erscheinen aus Fenstern und Vorhängen (in der Jahrhundert-Inszenierung unseres genialen Otto Schenk) Fratzen und Masken. (Donald) Ochs muss schließlich die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen. Das Mariandl (Pelosi) hat ihn ausgetrickst, seine Geldheirat mit Sophie (America) ist geplatzt, er muss sich „retirieren“. Jetzt können wir wieder lachen, gell? Aber das war nur ein Traum, oder, wie es im Original treffend heißt, eine Farce. Noch wird der Wähler im November 2020 das letzte Wort haben, ob es Traum oder Wirklichkeit war …
Wenn wir von Wahrheit reden, fällt mir spontan ein großer dänischer Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts ein, der eigentlich durch seinen Beitrag zur Atomwissenschaft berühmt wurde, aber auch einer war, der die Weisheit liebte: Das Gegenteil einer großen Wahrheit, sagte Niels Bohr, kann wieder eine große Wahrheit sein. Gerade in der Politik können Freiheit und Gerechtigkeit, das ständig präsente Power Couple, als Leerformel mit allen möglichen Inhalten unguter Provenienz gefüllt werden! Die eine und einigende Idee der Wahrheit wird die Menschheit leider ewig suchen und nicht finden, genau so wenig wie die eine verbindende Idee der Gerechtigkeit. Aber die wirklich große, geradezu herkuleische Aufgabe guter Politik ist ein ständiger Dialog in gutem Glauben. Weißt du, wie ich Dialog gerne übersetze, Constanze? Diese Kombination von diá (in diesem Fall etwa hin und her) und logos (mehr als Wort, auch Vernunft und Sinn) ist: Der Austausch von Vernunft und Sinn! Dieser Denkansatz fordert viel von jedem von uns. Streng durchdacht, kann man die Brücke zwischen Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit nur so nennen oder gar betreten: zum Dialog in gutem Glauben. Sich in die Haut oder, besser, die Gehirnwindungen des Gegenübers zu versetzen, ist kein Spaziergang im Park. Es erfordert zähe und zähmende Arbeit an den vielen kleinen Ichs, welche unser großes Wir behindern, es fesseln wie böse Liliputaner einen guten Gulliver. Ein gerechter Staat als Ergebnis gerechter Politik kann nur einer sein, der diese Wahrheit für möglichst viele als „Mantra“ immer wieder in ehrlicher Auseinandersetzung sucht. Das setzt voraus, dass die Eliten der Politik Menschen sind, die sich selbst diesem Prozess der Wahrheitsfindung stellen. Das ist nicht leicht, wusste Karl Popper, es geht nur in vielen kleinen Schritten, die er piecemeal engineering nannte. Mit anderen Worten, es hängt wieder an uns allen, den Bürgerinnen und Bürgern, für die uns gerechte Politik mit noch so viel kleinen Schritten ständig wachsam zu sorgen!
GUT UND BÖSE
Was fehlt uns noch auf eine vollständige Dreifaltigkeit der Grundwerte, nachdem wir über Wahrheit und Gerechtigkeit dilettiert haben? Meiner Meinung nach, Constanze, ist es jetzt der innerste Kern von Wahrheit und Gerechtigkeit, das Gute. Notgedrungen müssen wir da auch über das Böse reden. Seit Anfang der menschlichen Kulturen in Mythen, heiligen Schriften und Weisheitslehren standen die Spannungen zwischen Gegensätzen im Mittelpunkt der Erklärung, was den Weltenlauf in Gang hält. Ob es Yin und Yang, Götter und Göttinnen oder Himmel und Hölle sind – überall treffen Gegensätze seit je aufeinander, und ihr ständiges Ringen erzeugt erneuerte Lebenskraft. So ist es auch mit dem Scheidewasser Gut und/oder Böse. Adam und Eva aßen die verbotenen Früchte vom Baum der Erkenntnis. Prometheus stahl den Göttern das Feuer und gab es den Menschen. Auch im Mythos von Prometheus büßen diese mit den Übeln, die sein Bruder Epimetheus (das heißt ja, der erst nachher Denkende, im Gegensatz zum vorausdenkenden Prometheus!) aus der Büchse der Pandora unwissend entwischen lässt. Die Kulturgeschichte von Gut und Böse, Constanze, würde ganze Bibliotheken füllen. Ich begnüge mich mit einigen kurzen Gedanken, wenn dir das recht ist?
Wie die Gerechtigkeit und die Wahrheit, so ist auch das Gute schwer zu fassen. Es ist wie alle großen Ideen und Glaubensdinge eine intersubjektive Realität, wie Y. N. Hariri in Homo Deus, einer Kurzen Geschichte von Morgen schreibt. Sie ergänzt das bekannte Duo von objektiver und subjektiver Wirklichkeit als eine gemeinsame sinnstiftende Meinung der Menschen, im Original „fictions that give meaning“. Für Hariri waren das beispielsweise Religionen oder sind heute andere, irdische Wertvorstellungen, die als gemeinsam erdachte und gelebte soziale Motivation funktionieren, wie ich es interpretieren würde.
Auch das Ringen zwischen Gut und Böse ist eine solche uralte Fiktion, die Sinn schafft, um die Definition von Hariri zu verwenden. Dieser Kampf wird in der biblischen Überlieferung durch den Höllensturz des verstoßenen abtrünnigen Engels Luzifer vom gottestreuen Erzengel Michael für das Gute entschieden: die Anbetung und Anerkennung Gottes und seiner Gebote. Der Diábolos (griech. Verworfene) war ehedem ein Luzifer (lat. Lichtträger) und wurde zum bösen Deibel (man erkennt noch die griechische Herkunft) als Höllenfürst. Der Engel Mammon in John Miltons Paradise Lost stürzt, weil er das Gold der Himmelsstraßen mehr schätzte, als er Gott fürchtete. Diese Schilderungen sollen uns den Sieg des Guten durch Gottesfurcht und Glaubenstreue bestätigen, aber auch warnen, dass das Böse nicht verschwindet, nein, sondern als mächtiger Dämon im Reich der Hölle ein ständiger Verführer auch der Allerbesten bleibt. Du weißt sicher, dass die Bibel sogar von den Versuchungen Christi durch den Teufel spricht. Freilich weiß sich dieser zu verteidigen. Aber wir Menschen haben nicht alle und nicht immer die moralische Kraft, die Versprechungen des Bösen so zurückzuweisen wie Er, die Inkarnation des Guten.
Was ist also das Gute? Was ist das Böse? Versuchen wir’s wieder mit den Griechen. Platon erzählt im Dialog Phaidros, wie die ungeborenen Seelen die Urbilder alles Wirklichen erblicken und sich daraus die Sehnsucht und das Streben der Sterblichen erklärt. Wie steht es bei Platon zu lesen? Zeus, der Fürst des Himmels, zieht über das Himmelsgewölbe. Er lenkt seinen geflügelten Wagen, ihm folgen die Götter und Dämonen und danach die unsterblichen Seelen. Sobald sie nach riskanter Fahrt den Zenith des Himmels erreicht haben, blicken sie hinaus und können im Universum das wahrhaft Existierende sehend erfassen, die Idee des Guten, Schönen und Wahren. Idee kommt ja von sehen (gr. eidón, das Gesehene). Nach Platon versucht der Mensch dann, die seiner Seele eingeprägten Bilder als Lebensplan zu verwirklichen. Manche Seele hat Schwierigkeiten, das Himmelsgewölbe zu durchstoßen. Warum? Die zwei gefiederten Pferde, die jeder Seele vor den Wagen gespannt sind, haben ein konträres Naturell. Das eine ist willig und gut, das andere widerspenstig und böse. Das gute Pferd zieht den Seelenwagen hinan, das böse will hinab. Wenn die Seele dieses unbändige Pferd nicht zügeln kann, wird sie es nicht zum Zenith des Firmaments schaffen. Du siehst, Constanze, diese Ambivalenz des menschlichen Wesens ist in allen Mythen und auch in diesem platonischen Dialog (der eigentlich von Liebe und Schönheit handelt) als ständiger Kampf von Gegensätzen dargestellt. So kommt es, dass die gute Seele einen guten Menschen ausmacht, der vor seiner Geburt schon die Idee des Guten erfahren durfte. Nicht, dass diese Geschichte dem heutigen Stand des Wissens entspricht; aber sie enthält sicher mehr als ein Körnchen Wahrheit. Heute werden gute Menschen zuweilen als Gutmenschen bespöttelt. Sei stolz, wenn dich jemand so schimpft! Allerdings heißt das nicht, total naiv vor dem Bösen in der Welt die Augen zu verschließen und ihm schnurstracks in eine seiner überall aufgestellten Fallen zu laufen. Die Menschen haben neben dem Trieb der Selbsterhaltung, also Egoismus, sehr wohl seit Anbeginn ihrer nachweisbaren Existenz auch natürlichen Altruismus gezeigt. Das haben unter anderem Grabungen gezeigt, die schon den Neandertalern eine Fürsorge für Mitmenschen bestätigen, deren physische Beeinträchtigungen sonst schon viel früher zum Tod geführt hätten. Und die Nächstenliebe ohne Gegenleistung ist der beste Beweis für „das Gute im Menschen“.
Schon sehr früh haben sich die großen Denker der Menschheit auch ohne religiöse Deutung mit den Tugenden befasst, die den freien Willen der Menschen zum Guten leiten sollten. Die Wörter in verschiedenen Sprachen für einen tugendhaften Charakter verraten gewisse kulturelle Nuancen: Die Griechen sprachen schlicht von areté (Gutheit), die Römer von virtus (Mannhaftigkeit); das englische virtue und das französische vertu leiten sich davon ab. Das deutsche Wort Tugend hängt mit taugen zusammen; die Herkunft des Wortes erhellt die tiefere Wurzel der taugenden Tüchtigkeit. Fasst man nur diese drei Deutungen zusammen, so wird aus (guter) Tugend in der westlichen Philosophie ein tapferes und taugliches und daher auch gutes Verhalten. Tugend, das kaum mehr verwendete Wort, ist beinahe ein uncooles Unwort wie Gutmensch geworden. Der Universalgelehrte des griechischen Altertums, Aristoteles, hat die areté den wahren Weg zur eudaimonía genannt, ungenau meist mit Glückseligkeit übersetzt. Besser ist die wortgetreuere Übersetzung mit Erfülltheit von gutem Geist. Ein gutes Leben ist von einem guten und damit glückhaftem Geist erfüllt. In einer Zeit des Kampfes und der hervorragenden Kämpfer waren die nützlichen Fähigkeiten eines Kriegers „tugendhaft“. List, Kampfesstärke, Geschicklichkeit und eine (schwankende) Unterstützung der Besten durch miteinander verfeindete oder rivalisierende Götter zeichneten die Helden der Ilias und Odyssee, des Nibelungenlieds und vieler anderer Sagen aus. Auch in den Kriegen unserer Epoche gab es Helden, gute wie böse. Wenn an einem Krieg überhaupt etwas Gutes sein kann!
Ich glaube an das Gute im Menschen, Constanze, den überwiegenden Hang dazu in den meisten Menschen, den Ansatz zum Guten in fast allen. Mein Menschenbild ist positiv geblieben, trotz aller Attacken, die es aushalten musste. Alle Menschen haben meiner Meinung nach einen Funken des Guten in sich, der angefacht werden kann, am besten durch Vorleben.
Wir haben jetzt ausführlich und doch nicht intensiv genug über eine Kernfrage der Ethik gesprochen, Constanze. Die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, das Streben nach dem Guten in uns, ich halte das für wichtige Gedanken. Aber was nützen die besten Gedanken, wenn sie nicht zur Tat werden! Die schillernden Werte von wahr, gerecht und gut müssen nicht nur erkannt, sie müssen gelebt werden! Da werden wir nicht nur persönliche Erfolgsgeschichten erfahren, sondern auch Niederlagen und Enttäuschungen. Davon hat es auch in meinem Leben einige gegeben. Aber ich denke, du möchtest noch ein wenig mehr aus meiner Schulzeit hören. Einmal hast du mich schon gefragt, warum ich so gerne lese?