Kitabı oku: «Jenes hügelige Sein», sayfa 3

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LOGIK DES HERZENS

Meine Leselust war groß und ist es bis heute geblieben. Das fing schon in der Volksschule an, mit Karl May. Die ersten Helden des Guten, denen ich mit sieben oder acht begegnete, waren Winnetou und Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi (das war doch die arabische Version seines Namens, der deutsche Karl, nicht wahr?) und sein Begleiter Hadschi Halef Omar, den Kara Ben Nemsi letztendlich zum Christentum bekehrt, wie dann auch den sterbenden Winnetou. Ich kletterte langsam die Bücherleiter hinauf und entdeckte ständig Neues.

Schon in der ersten Klasse Gymnasium lehrte uns Richard Bamberger die Liebe zum Lesen. Er war unser Deutschprofessor, nebenbei Generalsekretär des Buchclubs der Jugend, und schleppte jeden Samstag einen Stoß Bücher in die Klasse, hinter dem der kleinwüchsige Mann fast verschwand. Wir sollten sie nach Gusto lesen und bei der Rückgabe in wenigen Sätzen den Inhalt zusammenfassen. So brachte er uns die Bücher als unsere Freunde nahe und machte viele von uns zu Leseratten, wie man damals sagte. Es gab ja weder Fernsehen noch Facebook, wir konnten nicht googeln, sondern bestenfalls im Lexikon nachlesen. Die Küche des Wissens war immer noch in erster Linie unser eigenes Gedächtnis, nicht das Blättern im iPhone. Bis heute bin ich dem Motto treu, Reads statt Tweets, wenn man es so salopp sagen kann. Oh, du sollst jetzt nicht glauben, dass ich gegen dein Handy oder meinen Laptop antrete! Ich meine nur, dass man heute viel Kraft braucht, um sich das eigenständige Denken zu bewahren und die notwendige Zeit zum Nachdenken nicht stehlen zu lassen. In der Ruhe liegt die Kraft, das ist eine der östlichen Weisheiten, die ich verinnerlichte und bis heute zu beachten versuche. In das Denken Ruhe zu bringen, ist ein wichtiger Beitrag zur Kraft, die du zum Leben brauchst!

Der Reichtum im geschriebenen Wort der Weltliteratur ist unerschöpflich, und in einem Menschenleben ist nur Zeit für einen kleinen Schritt auf der Suche nach immer neuen Schätzen. Was die Kunst der Worte vermitteln kann, ist nicht nur Wissen. Es ist Gefühl, individuelle Gefühlslogik. Das ist nicht die strenge Logik eines Aristoteles oder eines Wittgenstein. Es ist eine, die runder und weiter ist als die des Verstandes und der Vernunft. Es ist eine Logik des Herzens. Von Blaise Pascal stammt der Satz: „Le coeur a des raisons que la raison ne connait point.“ Man kann das nicht so wortspielerisch übersetzen, wie es im Original klingt, aber du verstehst: Das Herz hat Gründe, welche die Vernunft nicht kennt. Jetzt betreten wir den Tempel der Gefühle, Constanze, und verharren zunächst in schweigender Nachdenklichkeit.

Es gibt außergewöhnliche Destillate des menschlichen Geistes, die mehr noch als Wissen und Weisheit enthalten. Einer der großen Sätze der menschlichen Kultur ist dieser:

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer

und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht,

je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit

beschäftigt. Der bestirnte Himmel über mir und das

moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir

und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein

meiner Existenz.

Geschrieben hat dies einer der großen Denker der Aufklärung, der Philosoph Immanuel Kant als die summa seiner Kritik der praktischen Vernunft. Um wirklich zu wissen, was ein tiefer Blick in den bestirnten Himmel im Innersten bedeuten und auch bewegen kann, solltest du einmal in einer sternklaren Nacht den Himmel betrachten und dich hinaustragen lassen in die unendliche Ewigkeit des Universums – und dabei das eigene Herz schlagen hören. Ich habe dieses Gefühl einer gewaltigen überirdischen Ordnung, eines Kosmos, der die Welt des Ich mit dem Universum verknüpft, in einer Winternacht in den Bergen empfunden. Damals war ich noch etwas jünger als du heute, scheu verliebt in ein Mädchen unserer Gruppe von Schisportlern, also richtig eingestimmt auf große Gefühle. Die unvorstellbare Ferne der Milchstraße ist mir bewusst geworden, aber ich kann sie bis heute nicht begreifen, nur bewundern. Dabei ist unsere Galaxie nur eine von unendlich vielen! Heute sagen uns die Astronomen, sie wüssten nicht genau, wie viel Sternlein am Himmelszelt stehen. In unserer benachbarten Galaxie, der Milchstraße, sind es schätzungsweise um die 200 Milliarden. Im ganzen Universum möglicherweise 10 Trilliarden (als Mathematikerin wird dir 10 hoch 22 mehr sagen), die in geschätzten tausend oder mehr Milliarden von Galaxien verteilt strahlten und strahlen. Und das wissen wir Menschen oder ahnen es, und können wieder nur staunen und staunen und wieder staunen über dieses Geheimnis des Menschen auf der winzigen Erde inmitten dieser riesigen noch kaum erforschten Unendlichkeit?!

Hast du übrigens gewusst, dass die Überlegungen Kants schon in den Upanischaden (den gehörten Überlieferungen) des alten Indien Eckpunkte des Welt- und Menschenbildes waren? Die höchste Wirklichkeit des Universums, der Urgrund von allem (Brahman) und das Innerste des Menschen, die ewige Seele (Atman), hingen engstens zusammen als Weltgeist und Selbst. Und auch die alten Chinesen kannten mit der aus Tibet kommenden Idee des Tao den Weg (des Lebens), der gleichzeitig das Ziel ist. Gemeinsam mit dem Konfuzianismus, dessen Tugendlehre jener der Griechen ähnelt, formte der Taoismus über Jahrtausende die asiatische Seele mit ihrer Passivität und Gelassenheit gegenüber der Welt, die wir heute meist mit den Lehren Buddhas verbinden. Aber auch das ändert sich, wenn wir das moderne Asien betrachten. Auch dort werden alte Traditionen genau wie bei uns von der modernen Zivilisation ab- und allmählich aufgelöst.

Die Idee der Weltseele erlebt eine erstaunliche Wiederkehr, wie Eduard Kaeser in einem kleinen Essay in der Neuen Zürcher Zeitung ausführt. Er sieht die Ursache dafür in einem wachsenden Bedürfnis nach metaphysischem Trost; da kann ich ihm nur beipflichten. Neu ist das ja nicht, denk an die jahrtausendealten Religionen, die sich alle in verschiedenen Bildern mit diesem Urwunsch des Menschen nach sicherem Wissen und Geborgenheit, gerne würde ich hinzufügen nach Weltvertrauen, sehnen. Jetzt entdeckt man den Panpsychismus: Seele ist überall. So wie der Pantheismus sagt: Gott ist in allem. „Eine Welt, die von einer Seele durchwirkt und durchweht wird, spendet existenzielles Grundvertrauen, das Gefühl eines Zuhauseseins“ (Eduard Kaeser). Und was sagt Hariri dazu? Die Wissenschaft tendiert immer mehr zu einer einheitlichen Auffassung: Das Leben ist (nichts als) Datenverarbeitung. Diesen interessanten Satz werden wir später nochmals aufgreifen, Constanze.

Die Welt begreifen heißt für mich zunächst, die persönliche innere Wirklichkeit ordnen. Ich würde noch lieber sagen: der inneren Wirklichkeit die rechte Logik des Herzens lehren. In der chinesischen Philosophie jener (von Karl Jaspers) so genannten Achsenzeit vor zweieinhalbtausend Jahren wurde die Grundfrage nach dem Ursprung des Seins mit der Rätselfrage nach dem Tao beantwortet. Die Menschen sollten einfach leben und auf das Tao vertrauen. Dieses sei der Weg und das Ziel ihrer sittlichen Vervollkommnung und gleichzeitig die Urkraft des Universums. Glück erreiche ein Mensch, wenn er sich frei macht von Ruhmsucht, Egoismus und Gewalt. Und es ist der ewige Austausch zwischen dem Licht, der gestaltenden Kraft des Yang, und dem Dunkel, der erhaltenden Macht des Yin, dem sich der Mensch fügen müsse.

Ich möchte gerne mit dir dieses Gefühl der Unerklärlichkeit des Seins teilen, Constanze, wie sie in vielen Sprüchen des Tao te king (Buch vom Sinn und Leben) oder des I Ging (Buch der Wandlungen) – zwei wichtige schriftliche Quellen aus der Frühzeit dieser transzendenten Philosophie – zum enigmatischen Ausdruck kommt. So höre:

Nichts auf der Welt ist so weich

und so formbar wie das Wasser.

Beim Angriff auf das Harte und das Starre

ist dennoch nichts so überlegen.

Wegen dessen, was es nicht ist, wird ihm dieses leicht.

Das Weiche überwindet das Harte,

das Biegsame überwindet das Starre.

Niemand auf der Welt ist ohne dieses Wissen

und niemand vermag es anzuwenden.

In diesem berühmten 78. Spruch des Tao te king wird klar, dass die Gegensätze nur Schein und nicht Sein sind. Alles hängt mit allem zusammen. Und nur die Zeit macht den Unterschied, ob Wasser dem Stein ausweichen muss oder ob der stete Tropfen den Stein höhlt. So sollten wir auch die Welt verstehen: Sie funktioniert, wie ich schon von Gut und Böse sagte, als Ergebnis ewiger Gegensätze, die in immerwährendem Zusammenhang stehen! Denn aus diesem Krieg und Frieden zwischen Yin und Yang entsteht die Lebensenergie Ch’i.

Der Taoismus glaubt an die moralische Beeinflussbarkeit des Menschen und ist in dieser Hinsicht dem christlichen Denken sehr verwandt. Eines seiner Gebote heißt: Behandle den Guten gut, behandle aber auch den nicht Guten gut, und so erlangt er Güte. Behandle den Wahrhaftigen wahrhaftig und den nicht Wahrhaftigen auch wahrhaftig, und so erlangt er Wahrhaftigkeit. Wir fühlen uns an die Bibel erinnert, in der nicht nur ein ähnliches Gebot der Nächstenliebe verkündet, sondern auch die Bereitschaft verlangt wird, die linke Backe hinzuhalten, wenn die rechte geschlagen wurde. Eine äußerst unangenehme moralische Forderung! Aber die Lehren der Ethik und Moral sind ja keine Beschreibung des Seins, sondern eine des Sollens. Ich möchte dir eines mitgeben, Constanze, neben dem Wissen, seinem Erwerb und seiner Verwendung muss auch der Charakter gebildet werden. Und der folgt den Gefühlen mehr als dem Verstand. Also muss man auch dem Gefühl ein gewisses Wertekorsett anbieten, das uns in einem bewegten Leben Halt geben kann. Das ist letztlich die Logik des Herzens, die mehr verstehen kann als der Verstand. Entwickle sie und vertrau ihr!


DAS WERDENDE ICH
MYTHEN DER MENSCHWERDUNG

So haben wir uns also in die Tiefen und Höhen unserer geistigen Welt gewagt, Constanze. Die Logik des Herzens war unser Führer durch diese Gefilde und hat sie uns nahegebracht. Jetzt wandern wir zurück und fragen in der Wiege unserer eigenen Kultur nach dem Werden des Menschen, seiner Vernunft, seiner Moral und – seiner Hoffnung. Wann begann sich der Mensch von den Göttern zu lösen, die überall ihre Hand im Spiel hatten und daher ständige Begleiter und Herren aller Ereignisse von Belang waren? Deshalb waren diese der Natur ausgelieferten Geschöpfe ja bemüht, die Götter mit Opfergaben und Verehrung günstig zu stimmen und zu versöhnen, wie die Mythen in allen Kulturen berichten. Erst nach und nach emanzipierte sich der Mensch zu einem freien Wesen. Aber immer noch glaubt er an höhere Gewalten, er betet um Hilfe, sucht Schutz und dankt dafür.

Das erste bekannte Dokument dieser Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins, der eigentlichen Menschwerdung, ist das Epos von Gilgamesch. Die sicherlich so ähnlich wie die Genesis der Bibel öfter überarbeitete und zunächst mündlich überlieferte erste schriftliche Fassung auf Tontafeln ist etwa viertausend Jahre alt. Sie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt und handelt von einem König, der alle anderen übertrifft, wahrscheinlich eine historische Figur aus Uruk. Das zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris gelegene Mesopotamien (Zwischenstromland) hält man für die Wiege unserer Kultur, wie du weißt. Dieser König oder Kriegsherr Gilgamesch und sein Begleiter Enkidu, eine etwas widerborstige Figur, begeben sich auf die Suche nach der Unsterblichkeit. Am Ende muss Gilgamesch einsehen, dass doch nur die Götter sie besitzen. Es ist bemerkenswert, dass Gilgamesch, wie der Titelheld Odysseus in der viel später entstandenen Odyssee, in die Unterwelt hinabsteigen darf, dabei aber bestimmte Regeln beachten muss. Über Gilgamesch kann ich dir nicht sehr viel mehr sagen, aber in der Odyssee trifft Odysseus im Hades seine ehemaligen Freunde und toten Kampfgefährten. Wir hatten zur schriftlichen Matura in Griechisch eine dieser Szenen des 11. Gesangs zu übersetzen, es war die bewegende Begegnung des Odysseus mit Achilles in der Unterwelt.

Ich glaube, dass mit der Frage nach Leben und Tod ein wichtiger Teil dieser Menschwerdung angesprochen wird. Das Hinabsteigen der Lebenden in die Unterwelt – Gilgamesch, Odysseus, Orpheus, Aeneas – weist eine Verbundenheit von Leben und Tod auf, die so aussieht wie eine kleine und widerrufbare Unsterblichkeit.

Ich denke jetzt an eine wunderbare und überaus ergreifende Aufführung des Requiems von Giuseppe Verdi. Sie fand im August 2019 unter der Leitung von Ricardo Muti in Salzburg statt, zum Gedenken an den 30. Todestag Herbert von Karajans. Da heißt es am Schluss: „Libera me, domine, de morte aeterna …“ Befreie mich, Herr, vom ewigen Tode. Der ewige Tod ist in diesem Fall die ewige Finsternis der verdammten Seelen nach dem Jüngsten Gericht. Sie dürfen nicht mehr hoffen, in Ewigkeit nicht. Den Gerechten wird gesungen, „Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis.“ Sie sollen selig im ewigen Licht weilen. Ihr Hoffen auf eine bessere Welt hat sich damit erfüllt. Aber ist ewiger Tod nicht auch das Auslöschen jeglichen Gedenkens? Ist ewiges Leben nicht auch Fortleben in der Erinnerung? Verdi und Karajan, aber viele, viele andere auch gehören für mich in diesem Sinn zu den Unsterblichen! Weißt du, Constanze, dass die von Kardinal Richelieu gegründete Académie Française ihre Mitglieder les immortels nennt? Wer in unserer Erinnerung bleibt, wird ewig leben, wird ein Unsterblicher.

Die Mythen der Menschheit sind spannend und vielsagend. Sie waren und sind immer noch der Kitt der Erinnerung. Sie enthalten die ewige Botschaft des Werdens und Vergehens als Bestätigung eines ewigen Lebens der Menschheit. Denn auch das zeichnet den Menschen aus: Er weiß, dass sein Leben ein Ende haben wird. Er hofft, dass seine Kinder und Kindeskinder ein gutes, ja besseres Leben haben werden. Nicht nur die Fantasie der Zukunft und die Unmittelbarkeit der Gegenwart beschäftigen ihn, sondern auch die Vergangenheit. Die Schöpfungsgeschichten aller Kulturen haben deshalb vieles gemeinsam. Sie befassen sich mit der Entstehung der Welt und des Menschengeschlechts als einem schöpferischen Akt, der von einer überirdischen Macht gelenkt und gesetzt wurde. Abgesehen von der Bibel sind die griechischen Mythen für uns vielleicht die naheliegendste und interessanteste Schöpfungsgeschichte von Himmel und Erde. Sie erzählt vom Kampf um die Macht unter Titanen, Göttern und unsterblichen Halbgöttern. Und Menschenfreunden wie Prometheus.

Wunderbare Kunstwerke legen Zeugnis ab von der Entstehung der Götter- und Menschenwelt und ihren teilweise brutalen Einzelheiten. Ich gebe dir nur zwei Beispiele der Malerei, die mich sehr beeindruckt haben: Die Geburt der Venus aus dem Schaum des Meeres von Sandro Botticelli als Symbol des Eros, und ein starkes, schwarzes Bild von Francisco Goya, Saturn verschlingt eines seiner Kinder, für den Gegenpol Thanatos. Saturn, in Griechenland Kronos, fraß sie alle auf – bis auf Zeus, den kleinsten, den seine Mutter erfolgreich vor ihm versteckte. Aber der Tod ist eng mit dem Leben verbunden: Mit Hilfe der Nymphe Metis gab Zeus seinem Vater ein Brechmittel ein, so dass er alle die verschlungenen Kinder wieder – natürlich lebendig! – ausspie. Die versammelten sich nun unter seiner Führung zum Titanenkampf, der mit dem Sieg von Zeus endete.

So ähnlich sind praktisch alle Schöpfungsmythen aufgebaut, Constanze. Wir können auch die Entstehung der Welt und die Menschwerdung nach dem Buch Genesis der Bibel ähnlich interpretieren. Gut und Böse, Himmel und Erde tauchen in anderem Gewand auf, und der eine Gott verbannt die Möchtegern-Götter Adam und Eva, die er selbst erschaffen hat. Die Verführung zum Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis und die Vertreibung aus dem Paradies laufen im Prinzip auch auf nichts anderes hinaus, als diese Ambivalenz zwischen Sünde und Tugend darzustellen, genau wie die Göttergeschichten der alten Griechen es tun. Auch dort begegnet uns das Feuer als Symbol der Erkenntnis und Prometheus, der es den Göttern stahl und für diesen Frevel bitter bestraft wurde. Herakles erlöste ihn schließlich am Kaukasus von seinen Ketten und erlegte den Adler, der ihm die täglich nachwachsende Leber qualvoll abfraß.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Schöpfungsgeschichten eine von einer höheren Macht geduldete und im Weltenplan der Evolution vorgesehene Befreiungstat des nun auf sich selbst gestellten Menschen. Neuere Forschungen lassen annehmen, Constanze, dass diese Befreiung, diese Entstehung des menschlichen Ich-Bewusstseins gleichzeitig mit der Entwicklung des aufrechten Gangs des homo erectus vor etwa zwei Millionen Jahren einsetzte. Da wurden die Hände frei, um Werkzeuge und Knüppel anzufertigen und zu nutzen, die sein Überleben erleichterten. Aus primitiven Anfängen vor vielen hunderttausenden Jahren ist seit der Aufklärung ein riesiges und schwer beherrschbares Weltkonglomerat unvorstellbarer Komplexität und Vernetzung geworden. Im Vergleich zur langen Geschichte des Lebens auf der Erde war das ein evolutionärer Sprint! Wir werden noch von dieser „Beschleunigung der Geschichte“ reden, die wir (mit Unterbrechungen wie Weltkriege, Große Depression oder Covid-19) hautnah erleben.

Ja, du hast recht, mich einzubremsen. Beinahe hätte ich das zweite der „Dinge“ vergessen, denen Kant mit Bewunderung und Staunen gegenübersteht. Ich hole das gerne nach. Neben dem bestirnten Himmel steht als „zweites Ding“ das moralische Gesetz. Es ist unser Gewissen, das die Kontrolle über unser Tun und Lassen ausüben soll. Sigmund Freud wird diese Aufsichtsinstanz später Über-Ich nennen. Dem moralischen Gesetz hat Kant auch einen kategorischen Imperativ als Kompass beigegeben, ein unbedingtes Gebot, das einem Handeln nach Lust und Laune entgegensteht: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde. So einfach, so klar, Constanze, und doch so schwer nachzuleben! Einfacher zu befolgen ist vielleicht das alte Sprichwort: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu!

Diese Verhaltensregeln haben eine gemeinsame Wurzel – Vertrauen. Es ist neben der Kommunikation durch offenen Dialog die Basis einer konstruktiven und friedlichen Koexistenz der Menschen, und, wie ich auch sagen möchte, der beste Katalysator für das Wachstum des Guten. Das älteste Dokument dieses Vertrauensprinzips, das Gleiches mit Gleichem aufwiegen und dadurch als gesellschaftlicher Stabilisator funktionieren will, ist der in schwarzen Stein gehauene Codex Hammurapi. Heute ist diese zwei Meter hohe Stele aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr. im Louvre zu sehen. Neben vielen praktischen und oft sehr modern anmutenden Rechtsvorschriften verkündet König Hammurapi – namens des Gottes der Sonne und der Gerechtigkeit, Schamasch – auch die so genannte lex taleonis. Die Bibel hat dieses Gesetz der Vergeltung im Buch Moses des Alten Testaments als „Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn“ wiedergegeben. Das wurde und wird als Drohung und Racheschwur verstanden, war aber nicht so gemeint! Das Original liest sich anders: Wer einen anderen Menschen verletzt oder schädigt, darf nur verhältnismäßig, nicht maßlos bestraft oder zum Ersatz des Schadens herangezogen werden. Meines Wissens ist das der erste und erstaunlich moderne Rechtssatz, der die Gewaltbereitschaft, überhaupt das Böse im Menschen eindämmen soll.

In Goethes Faust II urteilt am Schluss der Chor der Engel: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Ich glaube, dass in jedem Menschen etwas von diesem faustischen Streben steckt, das Goethe so unvergänglich gezeichnet hat. Der Lebensweg dieser allegorischen Gestalt ist auch eine Allegorie für alle unter uns, die das Geistige im Menschen als den höchsten Schatz empfinden, den es zu wahren und zu mehren gilt. Nur was du an Gedanken und Gefühlen in dir trägst, gehört wirklich dir. Werde, was du sein willst und kannst. Forme dein Ich zur Ganzheit der Person. Das fühlende Herz hat eine Logik, die das strebende Wissen nicht kennt. Vermähle diese vermeintlichen Gegensätze zu einem einzigartigen Kunstwerk des Lebens. Werde, was du bist und sein willst! Aristoteles schrieb über das Werden eines Werks: In jedem Marmorblock steckt eine Statue, wenn man nur alle unnötigen Splitter entfernt hat. Jeder Mensch muss sein eigener Bildhauer werden, um diese Statue zu erschaffen! Aber selbst Michelangelo hatte zu lernen. Er war zunächst mit dreizehn Lehrling in der Werkstatt von Domenico Ghirlandaio … das entlockt dir ein Lächeln, ja? Ist doch ein guter Abschluss für heute, nach so viel ernstem Zeug! Wir kehren jetzt wieder in das wirkliche Leben von damals zurück. Denn das Jahr 1955 war ein wirklich wichtiges in meinem Leben, und du sollst erfahren, warum.

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