Kitabı oku: «Wohlstand macht unbescheiden», sayfa 2
Schule
Am 9. November 1955 wurde ich geboren. Der 9.11. ist ein Tag, an dem seit Jahrhunderten viele schreckliche Dinge passieren.
Zum Beispiel hatte Napoleon Bonaparte am 9. November (18. Brumaire VIII) 1799 geputscht und den Rat der 500 aufgelöst. Zahlreiche totbringende Feldzüge waren die Folge.
1848 wurde der deutsche Revoluzzer Robert Blum am 9.11. in Wien hingerichtet. Damals ein reichsweiter Skandal. Ausgerechnet am 9. November hatten die deutschen Truppen 1870 gegen die Franzosen bei Coulmiers ihr einziges Gefecht verloren. Am 9.11. 1918 hatte Kaiser Wilhelm der Zweite abgedankt, war 1923 der Putsch in München, 1938 die Kristallnacht. Um nur einige Daten zu nennen. An einem 9. November sind auch große Persönlichkeiten gestorben. Zum Beispiel 1970 Charles de Gaulle.
Der absolut einzige positive 9. November war 1989, als die Mauer geöffnet wurde.
Meine männlichen Vorfahren platzierten, seit Menschen Gedenken, vor ihrem Familiennamen den Namen eines ehemaligen französischen Königs; der weibliche Nachwuchs bekam den Namen einer französischen Königin. So hieß mein Urgroßvater Franz, wurde mein Opa als Karl getauft, mein Vater als Heinrich und mein älterer Bruder heißt wieder Franz, weil Franz I. ein so gigantischer König gewesen war, der allerdings mit den Bourbonen, die alle Ludwig hießen, nicht viel zu tun hatte. Ludwig Ludwig hieß noch keiner meiner Vorfahren. Meine Schwester wurde nach Katharina de Medici getauft, die mit Heinrich II. verheiratet war; ich selber nach Phillip, einem Bruder von Ludwig XIV. Aber mit doppel-„l“, nicht mit doppel-„p“ am Ende, wie der originale Philipp. Mein Vater fand doppel-„l“ schöner. Was mich aber herzlich wenig interessiert und worüber ich selten spreche. Meine Mutter hatte den Quatsch bereitwillig mitgemacht.
Meine Heimatstadt liegt in Baden an der französischen Grenze. Baden ist der wichtigste Landstrich der Welt. Dort wurde das Fahrrad erfunden und bald darauf auch das Auto. Aus Baden stammen solche Titanen wie Oliver Kahn, Jogi Löw, Jürgen Klopp, Hansi Flick, Boris Becker, Steffi Graf und Wolfgang Schäuble, den besten Bundeskanzler den wir nie hatten. Etwas südlicher meiner Heimatstadt wurde sogar Amerika erfunden. Der Offenburger Kartograph Martin Waldsehmüller benutzte 1506 die Daten des Navigators Americo Vespucci für den ersten Globus und nannte den neuen Erdteil, zu Vespuccis Ehren, Amerika. Mit „a“ deshalb, weil Kontinente weiblich benannt wurden. Was mir eine extra Freude bereitet, ist die große politische Bedeutung meiner recht kleinen Heimat. 1871 hatte Friedrich I von Baden in Versailles Wilhelm I zum Kaiser ausgerufen. Max von Baden hatte dann am 9.11. 1918 Wilhelm II entlassen. Und der erste Reichspräsident der Weimarer Republik war auch ein Badener, Friedrich Ebert aus Heidelberg.
Meine Eltern besaßen eine Anwaltskanzlei, die gleichermaßen deutsche wie französische Mandanten vertrat. Mein Elternhaus war ziemlich frankophil. So hatte ich als Kind unbewusst nebenbei Französisch gelernt, weil das bei uns zuhause oft gesprochen wurde. Richtig schreiben und lesen kann ich es bis heute nicht. Anwalt war aber nur mein Vater, sein Beruf war sein ein und alles. Mittelgroß, gertenschlank, mit schütterem dunkelblondem Kurzhaar, war er außerhalb des Hauses nur im Dreireiher anzutreffen. Meiner Mutter Hilde unterlag die Büro-Organisation. Als schwangerschaftsbedingte Studienabbrecherin hatte sie keinerlei Abschlüsse, war aber sehr etepetete. Mager, agil und immer geschäftig, trug sie jeden Tag ein anderes Kostüm und ein anderes Paar Schuhe, dazu leichten aber stark funkelnden Schmuck, sie war dezent geschminkt und ihre üppige blonde Frisur saß immer wie frisch aus dem Coiffeur-Salon. Wer sie kennenlernte, gewann den Eindruck, vor irgendeiner Hauptaktionärin zu stehen. Oder vor Ursula von der Leyens größerer Schwester.
Meine Eltern wirkten vornehm, tranken nur wenig Alkohol und rauchten selbstverständlich auch nicht. Sie verkehrten nur in den Kreisen, die sich für die Elite unserer Kleinstadt hielt. Also mit dem Bürgermeister, den Stadträten, der Ärzteschaft, den Industriellen und angesehenen Geschäftsleuten. Um diese vielen Bekanntschaften und Beziehungen pflegen und auch neue knüpfen zu können, was für die Kanzlei nur von Vorteil sein konnte, waren meine Eltern mehrmals die Woche abends außer Haus.
Lief die Kanzlei gut, verließen sie morgens mit uns schulpflichtigen Kindern das Haus. Alle zu Fuß. Zu Mittag aßen meine Eltern mit Geschäftsleuten in jeweils wechselnden Restaurants, abends wurden noch Überstunden gemacht und Gespräche geführt. Lief die Kanzlei schlecht, blieb der Tagesablauf der gleiche, weil meine Eltern bis spätabends herumtelefonierten, um neue Mandanten zu werben. Mutter Hilde ging meist etwas früher, um uns zu erziehen.
Zuhause ging es gepflegt zu, die Wohnung war immer aufgeräumt. Die Möbel waren aus Frankreich und eingekauft wurde auch nur auf der anderen Seite des Rheins. Selbst unsere Raumpflegerin kam von drüben und durfte nur französisch sprechen. Sie war es dann auch, die uns Kinder mit warmen Mahlzeiten versorgte. Nachdem sie das Haus Richtung la France verlassen hatte, pflegte meine Mutter ins Haus zu schneien. Zuerst mussten alle drei Kinder antreten und vom Tag berichten. Was ich mit einem Satz erledigte. Dann wurde Schulisches durchgekaut, anschließend die neusten Verhaltensregeln ausgegeben. Nachdem sie ihren Nachwuchs ordentlich aufgemischt hatte, wurde sie gnädiger. Manchmal wurde ein wenig Fernsehzeit erlaubt; eine erfolgreiche Anwaltsfamilie musste damals selbstverständlich einen Fernseher besitzen und eine Garage haben, in der ein Mercedes stand. Die Raumpflegerin indes, unsere geliebte Anike, hatte Erbarmen und ließ uns heimlich fernsehen. Wir wollten ja in der Schule mitreden können, was es so alles gab. Vor jeder Sendung mussten wir drei in ritueller Weise Anike schwören, sie nicht zu verraten. Sonst wäre es aus gewesen mit fernsehen, weil sie entlassen worden wäre. Wenn ich mit ihr allein war, ich hatte ja weniger Unterricht als meine älteren Geschwister, konnte ich den Fernseher anmachen wie ich wollte. Sie achtete darauf, dass er rechtzeitig abgestellt wurde, damit er bis zum Eintreffen meiner Geschwister abkühlen konnte. In unserem Haus gab es nur eine verschworene Gemeinschaft, das waren Anike und ich.
Meinen Geschwistern Franz und Katharina wurden Ordnung, Disziplin und Ehrgeiz beigebracht. Eine Erziehung, die in der damaligen Zeit selbstverständlich war. Im Hause Ludwig geschah das aber ohne Gewalt; der gewünschte Erfolg wurde durch moralischen Druck und Stubenarrest erreicht. Trotz ihrer häufigen Abwesenheit, widmeten unsere Eltern ihre wenige Freizeit ganz der Formung ihrer Kinder. Womit aber nur Franz und Katharina gemeint waren. Beide nahmen die Sache Abitur bierernst. Beide waren überdurchschnittlich ehrgeizig und auch begabt, wollten aus ihrem Leben etwas machen, zeigen, dass sie etwas Besonderes waren und sich von den Mitmenschen unterschieden. Haben sich vermutlich in Gedanken über andere erhoben.
Besonders unsere Mutter betrachtete die Erfolge ihrer Kinder als ihre eigenen. Da sie selber keine Lorbeeren eingeheimst hatte, wollte sie wenigstens die errungenen Lorbeeren ihrer Kinder auf sich beziehen. Mutter Hilde sonnte sich in den sehr guten Noten, den Theaterauftritten, sportlichen Erfolgen, künstlerischen Produkten und Einser Abituren ihrer zwei Gymnasiasten. Franz wollte ein erfolgreicher Politiker, Katherina eine berühmte Ärztin werden. Die Eltern unterstützen sie wo sie nur konnten, rieben sich dabei richtiggehend auf. Der Name, den sich die eigenen Kinder machen, wirft auch Licht auf die Eltern.
Während meine Geschwister zu Höherem gepuscht wurden, wuchs ich Spätling unbeschwert heran. Keinen störte, dass ich in den Kindergarten ging wie es mir gerade passte. Keiner vermisste mich, wenn ich auf dem Nachhauseweg in der Stadt herumstromerte und mein Umfeld genauer unter die Lupe nahm, als meinen Eltern recht sein konnte. Die Raumpflegerin-Köchin-Miterzieherin Anike ließ mich gewähren, weil sie mit den zwei anderen schon überfordert war. Meine Eltern waren unglaublich froh, dass ihr Nachzügler sich alleine beschäftigen konnte. Geschwister und Eltern vergaßen zeitweise, dass es mich gab.
Als ich in die Schule kam, waren die Eltern voll und ganz in das gymnasiale Leben meiner Geschwister verstrickt und verbrauchten damit ihre Energie. Um den ganzen Aufwand auch noch mit ihrem Jüngsten durchzuziehen, fehlte ihnen danach der Elan. Meine Mutter hatte schlicht und einfach von Erziehung die Nase voll, mein Vater hatte schon einen erfolgreichen Sohn, was ihm genügte. Ich kleiner Phillip wurde mir selbst überlassen.
Mit Erleichterung registrierten alle Familienmitglieder und Anike, dass ich keine Ansprüche stellte. Für mich galten nicht einmal die allgemeinverbindlichen gemeinsamen Mahlzeiten. Ich bin bei dem und dem, reichte meinen Eltern und Geschwistern als Entschuldigung. Ich behauptete es mit einer angeborenen Selbstverständlichkeit und einem natürlichen Charme, der Gedanken, dass es nicht seine Richtigkeit haben könnte, gar nicht zuließ. Wie ich Erwachsene für mich einnehmen und um den Finger wickeln konnte, hatte ich schon im Kindergarten herausgekriegt. Ich lernte auch früh, mich aus dem Kühlschrank zu versorgen. Ich genoss Freiheiten, von denen meine Geschwister gar nicht wussten, dass es sie gab.
Als ich in die Schule kam, bekam ich, außer einer übertrieben großen Schultüte und einigen halbherzigen Ratschlägen und Ermahnungen, ein üppiges Taschengeld, damit ich als Sohn einer erfolgreichen Familie angegeben konnte, womit sich meine Eltern halbwegs von ihrem schlechten Gewissen befreiten, das sie mir gegenüber hatten.
Mit dem Geld hätte ich mich beliebt machen und Freunde kaufen können, so wie es einige andere vormachten. Doch das hatte ich nicht nötig, denn ich bin von speziellem Charakter und bis heute ein Separatist.
Die Eltern hielten es für gegeben, dass ich in die Fußstapfen meiner Geschwister trat. Mein fröhliches und sorgloses Auftreten ließ sie im Glauben, dass in der Schule alles in Ordnung sei. Für mich war es das auch. Doch in der zweiten Klasse gab es die ersten Noten. Als das Zeugnis zur Unterschrift auf dem Küchentisch lag, hielten meine Eltern es für eine Halluzination. Da standen mehrere Ausreichend drin, d.h. Vieren. Und wenige Gut. Meiner Mutter hatte es die Sprache verschlagen. Auch meinem Vater fehlten zuerst die Worte.
„Ist das dein Ernst?“, fragte er schließlich. „Bei deinen Geschwistern stand da überall Sehr gut.“
„Muss ich so unlustig werden wie meine Geschwister?“ fragte ich allen Ernstes mit einem völlig offenen und unschuldigen Gesicht, in dem sich Empörung ankündigte.
„Ja willst du nicht mal was Großes werden und viel Geld verdienen?“ wagte die Mutter einzuwenden.
„Ich wüsste nicht für was das gut sein soll“, sagte ich doch glatt als Zweitklässler. „Ich will mal Bauer werden und nicht immer im Büro sitzen so wie ihr.“ Da war ich schon zu sehr von meinem Freund Michael und dessen Familie beeinflusst, die in einer Gasse der Altstadt lebte.
„Bauer?!“ rief die Mutter empört. „Lokomotivführer und Feuerwehrmann könnte ich noch verstehen. Unsere Kinder machen Abitur und studieren etwas Hochwertiges. Aber ein Bauer mit Stallgeruch kann nicht zu uns gehören.“
„Wenn ich groß bin, muss ich auch nicht mehr zu euch gehören.“
Da merkten die Eltern, dass es schwierig werden könnte.
Lesen konnte ich sehr gut, aber Rechtschreibregeln und Rechnen wollten einfach nicht in meinen Kopf. Die Menge der Leichtsinnsfehler in den Klassenarbeiten und die daraus resultierenden Noten, machten Mama und Papa fassungslos. Mein Zeugnis hatte sich bis zum Ende der dritten Klasse nicht gebessert. Es gab wieder Diskussionen.
„Aber es hat doch gereicht“, war mein Einwand.
„Das Zeugnis reicht gerade zum Tagelöhner“, kommentierte der Vater.
„Das muss bedeutend besser werden“, warnte die Mutter. „Wir wollen dich nach der vierten Klasse auf dem Gymnasium sehen.“
„Damit ich so komisch werde wie meine Geschwister? Die haben doch für nichts Zeit. Haben die überhaupt schon einmal im Heu gespielt? Oder mit einem Kätzchen? Wisst ihr überhaupt wie kuschelig andere wohnen?“
Der Vater runzelte seine Stirn. „Bei uns ist es sauber und ordentlich und wir haben viel Platz. So ist das nur bei Leuten die reich sind.“
Darauf benutzte ich ein verbotenes Wort, was mir erstaunlicher Weise nicht einmal eine Rüge einbrachte. „Reich sein ist Scheiße. Ihr habt jede Menge Zeug, aber keine Zeit.“
Die Eltern vermuteten, dass den Satz mir jemand vorgesagt haben musste. Aber irgendwie hatte er gepasst.
Durch meine bevorzugten Freunde hatte ich von unserer Heimatstadt ein gänzlich anderes Bild als meine Eltern. Es macht einen Unterschied ob man in Villen oder in Mietskasernen, Gassen und Bauernhöfen verkehrt. Zugegeben, in meiner Schulklasse gab es auch einige Idioten, die ihre Minderwertigkeitskomplexe mit viel Getue und Wichtigmacherei überspielten. Gewaltandrohungen oder gar Handgreiflichkeiten gehörten zur Tagesordnung. Aber ich hatte einen ganz anderen Menschenschlag kennengelernt als den, mit dem sich meine Familie umgab. Meine Bekannten waren offener und schnörkelloser.
Altstadt
Früher war es organischer, der Wohlstand macht alles steriler.
Nur eine Minderheit hat es gerne organisch, die Mehrheit liebt es eher anorganisch. Wer sein Haus mit ausländischen Gewächsen, Beton und Kies umgibt, kann auf seinen Vorgarten wahrlich nicht stolz sein. Denn hier können nur wenige Insekten leben, findet kaum ein Vogel etwas zu fressen. Das Leben befindet sich dort, wo der Rasen etwas wachsen darf, das Grundstück ein paar wilde Ecken aufweist und einheimische Büsche stehen.
Meine Heimatstadt hat derzeit ungefähr 40.000 Einwohner, mindestens 10.000 mehr als bei meiner Geburt. Seither wurde unsinnig viel gebaut, Gewerbegebiete und Wohngebiete, was vor allem dem größeren Raumbedarf der Bevölkerung geschuldet ist. Gebaut wurde auf Kosten der Landwirtschaft und der Natur. In den Fünfzigerjahren lebte der Deutsche im Durchschnitt auf 15 Quadratmeter Wohnraum. Der heutige Deutsche verfügt über 45 Quadratmeter und 40% der Bevölkerung leben als Single-Haushalt. Viele alte Leute wohnen, als Überbleibsel einer vielköpfigen Familie, alleine in einer großen Wohnung oder einem Haus. Es wird allein schon deshalb viel gebaut, weil sich die Bürger immer mehr Platz und Einfamilienhäuser leisten können.
Wenn heutzutage etwas neu gemacht wird, sieht es aus wie frisch aus dem Ei gepellt. Fast alle Gebäude sind ordentlich verputzt und gestrichen, denkmalgeschützte werden mit viel Geld und hohem Aufwand aufgemöbelt. Alle Schlupflöcher und Brutgelegenheiten für Tiere werden beseitigt. Alles muss schick, gestylt, geleckt und sauber sein. Selbst Naturschutzmaßnahmen sehen aus wie für eine Repräsentation gemacht. Zum Beispiel werden an Flüssen, als ökologischer Ausgleich, riesige Einlass- und Auslassbauwerke errichtet, um die Auen wieder zu vernässen, oder gewaltige Fischtreppen gebaut. Für die Produktion der vielen hundert Tonnen Beton und für die erforderlichen Lastwagenfahrten müsste eigentlich noch ein weiterer Ausgleich geschaffen werden. Aber ein richtig ökologischer, so mit Lebensraum und Lebewesen.
Bei uns muss möglichst alles klotzig und grau sein. Auf meinen Reisen in fernen Ländern sind mir Städte und Dörfer lebendiger vorgekommen. Und sie waren immer bunter. Grau scheint bei uns unsinnig modern zu sein und seriös zu wirken. Komplette Straßenzüge sind von farblosen Gebäuden flankiert. Architekturbüro, Finanzdienstleister, Gemeinschaftspraxen, Fliesenleger, Modehaus, Küchenstudio, Autohaus stehen, in unterschiedlich hellen und dunklen Grautönen auf Kundschaft wartend, im neusten Gewerbegebiet und finden sich toll. Einzig eine Malerfirma hat auf ihrer grauen Fassade ein großes buntes Emblem. Die Architekten verpassen sogar den Schulen graue Fassaden. Das macht Laune, so richtig für die Fantasie der Kinder.
In den Wohngebieten ist es auch trist. Außer grau dominiert viel weiß; bunte Häuser sind eindeutig in der Minderheit. Die meisten Vorgärten sind so angelegt, wie ich sie hasse. Mäuerchen aus Betonsteinen, Plattenwege aus Betonplatten, Betontröge, Betonsäulen. Dazu möglichst teure exotische Pflanzen. Vor einigen Häusern stehen auch Natursteinbrocken, die von weit herangekarrt wurden. Dazu wird kurzer Rasen gezüchtet. Die ganz schlimmen Hausbesitzer haben Rasen durch Kies ersetzt. Steriler geht es nicht mehr.
Auch die Landwirtschaft bemüht sich, fast schon verbrecherisch, Deutschland immer steriler zu machen. Sie will Fläche und nochmals Fläche, auf die man alles säen und gießen kann was die EU erlaubt. Fläche, die sich leicht bewirtschaften lässt, die frei von Hecken, Bäumen und Tümpeln ist. Organisch ist auf den Feldern nur noch das was geerntet wird.
Mein Leben war auf jeden Fall um einiges organischer als das meiner Familie, die mir im Aussehen und Verhalten immer steril vorkam.
Als ich sechzig wurde - ich feierte diesen Geburtstag nicht, weil ich meine Geburtstage grundsätzlich nicht feiere - bekam ich in einer dösigen Minute einen nicht geringen Schrecken. Sechzig Jahre, sinnierte ich. Bei meinem hervorragenden Zustand könnte ich durchaus noch neunzig werden. Das war der Grund des Schreckens. Das bedeutete nämlich, dass ich noch ein ganzes Drittel Leben vor mir hatte. Was mache ich bloß mit diesem Drittel? grübelte ich und es war mir gar nicht wohl. Noch mehr Bücher lesen, noch mehr Reisen, noch mehr Foto-CDs herstellen, noch mehr Biotope pflegen? Irgendwann werde ich wohl körperlich abbauen und vieles nicht mehr können. Alles läuft sich tot, alles nutzt sich ab.
Doch jetzt, mit 65, ist mir klar was ich bis zu meinem Tod treiben werde. Auch ich habe diesen Trieb, der viele Alte am Leben hält. Ich bin neugierig und will meine Neugier befriedigen und beobachten, wie es mit dem Planeten, Deutschland, meiner Heimatstadt und ihren Menschen weitergeht.
Die Entwicklung meiner Heimatstadt habe ich jahrzehntelang verwundert verfolgt. Mein Elternhaus lag im Osten der Stadt, dort wo im Kaiserreich die Wohlhabenden ihre Villen hingestellt hatten. Die Luft dort war frischer. In den Jahrzehnten nach dem Krieg wurden dem Villenviertel Bauplätze für gehobene Ansprüche angegliedert. Auf der Ostseite der Stadt hatte ich keinen einzigen Freund. Die Westseite, zum Rhein hin, dort wo noch in den Fünfzigerjahren Malariaerreger nisteten, war für mich der interessantere Teil der Stadt.
Dort liegt der nicht kleine Stadtteil Brunnental, in dem früher die Handwerker, Feierabendbauern und auch Tagelöhner gewohnt hatten. Im Brunnental lebte damals der wilde Michael, den ich in der ersten Klasse kennenlernte. Michael wohnte mit seinen Eltern und drei Geschwistern in einer Gasse, in einem alten landwirtschaftlichen Gebäude. In irgendeinem Kämmerchen hauste noch eine alte Tante, die im Haushalt half.
Die Häuser im Brunnental waren klein, alt, undicht und kalt. Der Teil mit Scheune und Stall war in der Regel größer als der Wohnbereich. Die Bewohner lebten in sehr beengten Verhältnissen, meist drei Generationen unter einem Dach - weil die Jungen nicht wussten wo sonst wohnen, und weil sie nicht wussten wohin mit den Alten. So mussten einige Kinder auf dem Dachboden unter den Ziegeln schlafen und wenn es dort zu heiß oder zu kalt wurde, stahlen sie sich ins Heu. Heu fand ich toll und rutschte mit meinen Freunden gerne den Heustock hinunter. Oder wir spielten Fallschirmjäger, die gerade Kreta erobern. Der letzte Krieg war ja noch allgegenwärtig, den Erwachsenen steckte er noch in den Knochen, uns Kindern erzählten sie nur die heroische Propaganda.
Die Alten damals waren noch richtig alt gewesen - mit fünfundsechzig, wenn sie es überhaupt wurden, hatten die keine Sprünge mehr gemacht. Ihre Gesichter waren sonnenverbrannt, windgepeitscht, schmerzgezeichnet und tiefgefurcht. Sie sahen aus wie die rumänischen, irakischen oder afghanischen Bauern aus dem Fernsehen. Kein Vergleich zu den heutigen Rentnern, die unstrapaziert noch joggen und walken und mit ihren Autos die Welt unsicher machen. Wenn damals jemand Krebs oder eine andere schlimme Krankheit bekam, saß und lag er solange zuhause herum, bis er endlich das Zeitliche segnete. Viel mehr als Schmerzmittel wurde nicht verschrieben. Ich habe da einige Omas und Opas in Erinnerung, die den Tag in ihren Sesseln verbrachten. Meist mit Radio. Wenn es die Augen zuließen, was selten der Fall war, wurde noch genäht und gestrickt. Michaels Nachbar saß manchmal vor dem Hühnerstall und rieb die Körner von den Maiskolben. Für den Weg zurück in die Küche, wo ein Weinschorle wartete, brauchte er ewig. Die schwerste Tagesarbeit dieser ausgelaugten Alten war, morgens aus dem Bett und abends wieder hinein zu kommen.
Oft war die Küche der einzige warme Raum. Das Abwaschwasser ging direkt aus dem Spülstein durch die Wand nach außen in den Rinnstein. Die Aborte befanden sich im Stall oder außerhalb neben dem Misthaufen. Vor fast jedem Häuschen dampfte einer. Dementsprechend waren die Küchen voller Fliegen und Fliegendreck und wurden jedes Jahr vor Ostern frisch gekalkt. Gebadet wurde samstagabends in der Küche, in einem Zuber mit warmem Wasser.
Die Türen und Räume waren niedrig. Den Leuten die hier wohnten, fehlte seit Generationen eine gehaltvolle Ernährung, die das Wachstum hätte fördern können. Satt wurden viele nur an Festtagegen; Fleisch auf dem Tisch setzte Grundbesitz voraus, auf dem man das Viehfutter anbauen konnte. Fett, Öl und Zucker waren teuer und mussten aufwendig gewonnen werden. Bis die Walnüsse eines Baumes als Öl in einer Kanne schwappten, waren viele Arbeitsgänge notwendig. Die Männer maßen im Durchschnitt nur ein Meter sechzig bis fünfundsechzig, Frauen etwas weniger. Es war der Stadtteil, in dem die Hühner in den Gassen herumliefen, Rindergespanne über das Kopfsteinpflaster holperten und Katzen den Tag verschliefen.
In den Gassen, gegenüber den Wohnhäusern und Scheunen, im Rücken anderer Häuser, standen Maissilos aus Maschendraht, Hasenställe, Hühnerhäuser, Verschläge in denen ein Schwein gemästet wurde, Brennholzlager und allerlei Gerätschaften. Insgesamt war so ein landwirtschaftlich geprägter Stadtteil eine enge Angelegenheit.
So wie auch Michaels Elternhaus. Wer ins Haus ging, betrat einen schmalen Flur, von dem aus eine steile, ausgetretene und knackende Holztreppe nach oben führte. Links ging es in die Küche, deren Boden, aus rohen blankgeschrubbten Dielen, sich bei jedem Schritt beschwerte. Rechts landete man im Stall, wo sechs oder sieben weiße Milchziegen an der Futterkrippe angekettet standen. Michael und seine Geschwister sind mit Ziegenmilch großgeworden. Stall und Küche kannte ich am besten. Die Eltern und Kinder schliefen in zwei Räumen im Obergeschoss. Das jüngste zwischen den Eltern, was mich neidisch machte. Ich musste immer allein in einem Zimmer schlafen, wo mich nachts meine Fantasie überwältigte. Die zwei nächsten Kinder teilten sich ein Bett, nur Michael hatte ein eigenes. Als ich in den Kleiderschrank der Kinder einen Blick warf und deren magere Ausstattung betrachtete, dachte ich nicht: Ach sind die arm, was haben die wenig. Ich dachte: Ja das reicht doch.
Oft wurde ich zum Essen eingeladen, auch nachdem diese Leute erfahren hatten, dass meine Eltern reiche Anwälte waren. (Untereinander machten sie Scherze über das arme magere Anwaltskind.) Meistens gab es einen Eintopf, in den Brot getunkt wurde. Ich fand die Eintöpfe herrlich und das selbstgebackene Brot sowieso. Manchmal gab es fette Pfannkuchen, die richtig nach etwas schmeckten. Zum Abendessen gab es ein wenig Wurst und Speck und viel Ziegenkäse, welchen ich als Gast anstandslos verzehrte.
Am Tisch ging es locker zu, jeder rutschte auf den zwei Bänken herum wie es ihm guttat. Michaels Vater war meistens gut drauf, denn er hatte eine Stelle in einer Fabrik und somit ein geregeltes Einkommen. Nie mehr die Sorge, ob die Ernte gut wird, die Ziegen gesund bleiben, ob genug eingemacht war für den Winter. Weil die Familie die Sicherheit eines geregelten Einkommens hatte, war auch die Mutter gut gelaunt. Am Tisch wurde über alles Mögliche geredet, gelästert und gelacht, aber nie über Geschäftliches, Politik, Gymnasium und Studium. Und keine Rede davon, was man sich gerne kaufen würde. Und es herrschte kein Zwang aus seinem Leben etwas machen zu müssen. Die Leute waren zufrieden. Vorerst. Natürlich stritten sich manchmal die Geschwister untereinander. Dann wurde der Vater laut und es herrschte Ruhe.
Der Verdienst reichte also, um die Familie zu ernähren, die Landwirtschaft und den Garten gab es aber noch. So konnte es im Sommer passieren, dass die Kinder abends in die Ebene hinausmarschieren mussten, um auf der familieneigenen Wiese, die jemand für sie mit einem Balkenmäher gemäht hatte, das Heu zu Schwaden zusammen zu rechen. Wegen des nächtlichen Taus. Morgens, vor der Schule, musste es wieder ausgebreitet, nachmittags gewendet und abends wieder geschwadet werden. Erst wenn es absolut trocken war, wurde es geholt und auf den Heustock geschafft. Feuchtes Heu kann sich selbst entzünden. Vor allem die Mutter bewirtschaftete den nicht kleinen Garten und noch ein Kartoffel- und Rübenfeld. Mit einem zweirädrigen Karren zog sie morgens los und kam mit Gemüse, Obst, Kartoffeln oder Rüben zurück. Das meiste davon überwinterte im Keller. Meinen Freunden in der Altstadt half ich mehrere Jahre lang beim Unkraut jäten.
Im Brunnental fühlte ich mich wohl, dort spürte Wärme, fand ich es organisch und war für mich das wahre Leben. Was mir besonders gefiel, war das Zusammenleben mit vielen Tieren. Ich kraulte die Katzen, raufte mit den Hunden, spielte mit den Gizzi, den jungen Ziegen. Mit Hilfe eines anderen Klassenkameraden lernte ich sogar, einem Ochsen das Kummet anzulegen und ihn vor den Wagen zu spannen.
Da die Essensreste im Rinnstein und in den winzigen Gässchen zwischen den Häusern landeten, waren die Ratten bestens versorgt. Was die Hunde und Hühner tagsüber verschmähten, reichte nachts den Nagetieren immer noch zum Überleben. Das Rattenproblem war kein kleines. So war es für uns Jungs ein eifriges und hitziges Unternehmen, auf Rattenfang zu gehen. Je nach Vorliebe bewaffnete sich der eine mit Speer, der andere mit Schnellenbogen, wieder andere mit Schleuder oder einfach nur mit Steinen, um eines der flinken Tiere zu erlegen. Aufgeregt und mit viel Geschrei haben wir die lästigen Viecher aufgestöbert und wenn wir es tatsächlich einmal geschafft hatten, eine Ratte zu töten, standen wir angeekelt davor und wussten nicht wohin mit dem Kadaver, weil keiner ihn anfassen wollte. Er blieb dann einfach liegen, Verwerter gab es ja einige.
Meine Familie hatte mit meinem Umgang ein Problem, vor allem ein geruchliches. Als ich das erste Mal von Michael zurückkam, lag etwas Unbekanntes in der Luft. Weder meine Eltern noch meine Geschwister konnten es stofflich einordnen. Anike, die Putz-Fee, verließ zufällig gerade verspätet das Haus. „Sag mal Phillip, warst du in einem Ziegenstall?“, fragte sie auf Französisch. Chevre hatte ich verstanden.
Erst da erzählte ich Erstklässler, der sonst nie viel erzählte, mit flammenden und begeisterten Worten, dass ich Gizzi gestreichelt und Hühner in den Stall getrieben hätte. Es sprudelte nur so aus mir heraus. Die Familie war baff, so kannte sie mich nicht. Irgendwann war auch geklärt was Gizzi waren. Die Eltern hatten sich danach nicht getraut mir die Besuche zu verbieten, befürchteten wohl, dass ich nicht gehorchen würde und sich ernsthafte Konflikte anbahnen könnten. Sie hielten es für eine vorrübergehende Schwärmerei. Aber Anike erhielt die Order, falls ich mal wieder aus dem Ziegenstall nach Hause kommen sollte, mich gleich zu waschen und frisch einzukleiden.
Es wurde normal, dass ich unbemerkt das Haus verließ, unbemerkt zurückkam und mit entwaffnendem Lächeln immer so tat, als wäre alles in bester Ordnung. Außer dass Hosen und Schuhe schmutzig wurden, ist auch nie etwas passiert. Nur blieben die Noten schlecht.
Aber die meiste Freizeit während meiner Schulzeit verbrachte ich außerhalb der Stadt, auf dem Bauernhof von Alex‘ Familie.